Ingrid Haselberger
Wer einige meiner Aufsätze hier gelesen hat, der weiß, daß mir der Pfingstspruch ein Anliegen ist, in dem Rudolf Steiner darauf aufmerksam macht, daß die Weltenmächte auf der Seele eignem Grunde und mithilfe vonMenschenkräften miteinander im Kampfe liegen – und daß ich daher nicht müde werde, davon zu sprechen, wie wir im eigenen Inneren mit dem jeweils „Bösen“ umgehen und den Versuch wagen können, aus der Auseinandersetzung damit eine „gute“ Kraft erwachsen zu lassen.
Darauf werden mir des öfteren – auf den ersten Blick sehr begreifliche – Einwände erhoben, zuletzt hier:
»Wenn ich mir den Luxus leisten kann, mich primär darum zu kümmern "welchen der „Wölfe“ in meinem eigenen Herzen ich füttere" - dann lebe ich mit großer Wahrscheinlichkeit in einer ökonomisch und sozial sicheren, friedlichen Umgebung, dann berührt es mich nicht unmittelbar, was an "Bösen" da "draußen in der Welt" passiert (Putin, Assad, Erdogan, Trump weiterhin nur im TV).«
Ich nehme diese Einwände ernst - - - und versuche wieder, Eindrücke aus musikalischen Aufführungen wiederzugeben, die ich in diesem Herbst in Wien erlebt habe. Diesmal ist es die Oper „Baruchs Schweigen“ von Ella Milch-Sheriff.
BARUCHS SCHWEIGEN (2010)
Musik: Ella Milch-Sheriff
Libretto: Yael Ronen
Die Kindheit der israelischen Musikerin Ella Milch-Sheriff war schwer belastet durch die traumatischen Erinnerungen ihrer Eltern. Das eisige Schweigen ihres Vaters Baruch, den sie als brutalen und verständnislosen Menschen erlebte, formte die familiären Beziehungen.
Was Ella und ihre Schwester damals nicht wußten: Baruch Milch hatte in der Shoah seine erste Frau, seinen kleinen Sohn und seinen Neffen verloren.
Das Schweigen, das ihm selbst beim Überleben half, wurde seinen Töchtern zur psychischen Falle – das unausgesprochene Grauen saß immer mit am Tisch...
Während seiner letzten Lebensjahre schrieb Baruch seine damaligen Erlebnisse nieder und nahm seinen Töchtern das Versprechen ab, sie zu veröffentlichen. Kurz nach seinem Tod tauchten zudem seine Original-Tagebücher aus der Zeit 1943-44 auf.
Ella Milch-Sheriff hielt ihr Versprechen auf ihre Weise: sie komponierte eine Kantate, schrieb ein Buch und schuf schließlich ein Stück Musiktheater, das unter die Haut geht. Es ist, wie sie sagt, keine KZ-Oper, nicht einmal wirklich eine Holocaust-Oper: »Es geht um Flucht, um das Überleben, um Schuldgefühle und die Unfähigkeit, mit ihnen umzugehen. Eigentlich ist es die Geschichte der zweiten Generation.«
In der Aufführung im Wiener Semper-Depot traten die Geister der Vergangenheit, solange sie nur „Stimmen“ aus einem unheimlichen Dunkel waren, oben auf den Galerien auf. Nach und nach aber kamen sie herunter auf die Bühne, spielten, gewissermaßen auf dem Schauplatz der Seele der Tochter, die damaligen Ereignisse nach, im hellen Licht ihres Bewußtseins (und der Scheinwerfer) und somit für sie und uns alle sicht- und erlebbar – und trugen dadurch zur Heilung bei.
»Für mich war und ist es eine Aufgabe, an die Shoah zu erinnern«, sagt Ella Milch-Sheriff. »Ich habe eine Oper über das Thema komponiert, weil ich glaube, daß man nur so diese Erinnerung halten kann, durch Musik, Malerei, durch Bücher, aber auch Tanz und Film.«
Hier ein Ausschnitt aus dem Libretto:
1.Bild
(Die Tochter tritt auf. Eine absolute Stille herrscht, bis auf das Ticken einer Wanduhr. Die Tochter bewegt sich zwischen verschiedenen, mit weissen Tüchern bedeckten Objekten hindurch. Sie hebt das Betttuch von der Uhr.)
Tochter:
Hören Sie?
Die Musik meiner Kindheit.
(schliesst ihre Augen, hört dem Ticken der Uhr zu und dirigiert ein imaginäres Orchester)
Im gespenstischen Meer der Stille
Ein einziger, rhythmischer, beständiger Ton,
Wie ein Versprechen, dass sich alles ändern wird.
(Die Mutter und der Vater treten von beiden Seiten auf. Sie nehmen die Tücher von den Stühlen am Esstisch und setzen sich hin)
Oder, wie eine tickende Bombe.
(Sie setzt sich zu den Eltern, und sie essen schweigend. Die Familienangehörigen des Vaters und der Mutter, Elias und "Die Geister", treten einer nach dem anderen auf)
Geister [auf der Galerie]:
Du sollst keine Götter neben dir haben.
(Die Tochter nimmt die Geister wahr. Der Vater und die Mutter sehen über sie hinweg)
Die einzelnen Geister:
Tue nur, was dir selbst nutzt, und opfere dich nicht für andere.
Lebe das Leben bis zur Neige und genieße jeden Augenblick.
Liebe dich selbst über alles.
Gib anderen nichts, was dir selbst gut tut.
Belaste deinen Kopf nicht unnötig.
Härte dein Herz ab und gehorche ihm nicht.
Tritt anderen nicht zu nah und lass sie dir nicht nahe kommen.
Vertraue niemand.
Kind:
Glaube nicht – der Himmel ist leer.
Bete nie – der Himmel ist leer.
Hoffe nicht – der Himmel ist leer.
Niemand hört dich –
Der Himmel ist leer, der Himmel ist leer.
Tochter:
Aus! Aus! Schluss! Schluss!
(Das Kind setzt sich auf den Schoß des Vaters und singt mit den Geistern weiter)
Geister und Kind:
Glaube nicht – der Himmel ist leer.
Bete nie – der Himmel ist leer.
Hoffe nicht – der Himmel ist leer.
Niemand hört dich...
Tochter (zum Vater):
Wie kann das sein?...
Dieser blaue Himmel ist leer?
Die hellen Nächte voller Sterne sind gleichgültig?
Die Wolken, die Sonne, der
Mond, sie sind sinnlos?
Ist das möglich?
Wie ist das möglich?
Vater (zur Tochter):
Der Himmel bleibt ungerührt
Und niemand hört zu.
Die Welt ist still,
Nur der Tod hat eine Stimme, klar und deutlich.
Sinnlos das Wehren,
das Schreien und Weinen.
Weit und breit gibt es nichts, gibt es nichts.
Nur Dich gibt es,
Und die tickende Uhr.
Tochter:
Nur die Toten hören nichts als die Stille.
Nur die Toten geben keinen Laut.
Ich bin noch am Leben.
Ich lebe. Ich lebe.
Sieh mich an.
Sieh mich an.
Hör mir zu,
Frag, wie es mir geht.
Sag, ich sei gewachsen, Ich sänge so schön.
Frag, ob ich weine,
Küss mich und sag “Du darfst”.
Sag, es macht einen Sinn zu warten,
Sag, man darf sich freuen.
Sag irgendwas,
Aber brich endlich das Schweigen!
Mutter:
Lass es, lass es, Kind,
Wer nicht kann, muss auch nicht können.
Nicht jede Erinnerung schliesst in sich eine Geschichte.
Und nicht jede Geschichte reduziert sich auf Worte.
Und nicht jedes Wort findet eine Sprache.
Und die Sprache zuweilen findet nicht den Ton.
Lass es, lass es, Kind,
Wer nicht kann, muss auch nicht können.
Tochter(zur Mutter):
Du weißt alles, aber du erzählst nichts.
Die Hüterin seiner Geheimnisse!
Die will, dass ich unsichtbar bin und stumm.
Aber ich will eine Mama,
Wie sie jedermann hat.
Weder Umarmung noch Kuss -
Deine Lippen ausgebrannt,
Deine Hände verglüht,
Die nicht berühren können.
Du möchtest lieben,
Aber Du weisst nicht mehr wie.
[…]
9. Bild
[auf der Bühne]
[…]
(Der Vater schweigt. Das Kind stirbt)
10. Bild
[auf der Bühne]
Vater:
Und so hörte ich auf, ein Mensch zu sein.
Geister (Alle, im Hintergrund):
Bete nicht, Hoffe nicht –
Der Himmel ist leer.
Niemand hört zu – der Himmel ist leer.
Tochter:
An diesem Tag hörte Vater auf, ein Mensch zu sein.
Ich wuchs auf im Haus eines Toten.
Stark und weise, aber tot.
Er verbot mir zu weinen.
Jedes Gefühl ein Zeichen von Schwäche.
Denn nur die Starken überleben.
Er sehnte sich nach einem Sohn,
Den verlorenen zu ersetzen
und jenen, den er sterben ließ.
Aber – er bekam mich.
Denn der Himmel ist leer,
Und niemand hört zu,
Wie konnte ich wissen, Vater?
Wie sollte ich verstehen?
Wie konnte ich vergeben?
Geister:
Yit'gadal v'yit'kadash sh'mei raba.
Tochter:
Ich hielt mein Versprechen.
Ich erzähle deine Geschichte, Vater.
Dies ist mein wirklicher Abschied.
Jetzt lerne ich zu vergeben und zu vermissen.
Endlich Frieden.
Yit'gadal v'yit'kadash sh'mei raba.
* * *
Es berührt mich sehr, daß das bewußte Nacherleben sowohl der Stimmen der Geister aus der Vergangenheit des Vaters als auch der traumatischen Kindheitserlebnisse der Tochter schließlich in einen Lobpreis Gottes mündet – in Gestalt der ersten Zeile des jüdischen Gebetes Kaddish:
»Yit'gadal v'yit'kadash sh'mei raba.«
»Erhoben und geheiligt werde Sein großer Name.«
Im orthodoxen Judentum wird Kaddish zum Totengedenken elf Monate lang dreimal täglich gesprochen, und zwar vom nächsten männlichen Angehörigen und in Anwesenheit von mindestens zehn erwachsenen (im religiösen Sinne „mündigen“) männlichen Juden.
Ella Milch-Sheriff läßt es die Tochter – also sich selbst – sprechen.
Für mich als Zuhörerin wird dadurch eine dritte Befreiung erlebbar.
Und so antwortet die Tochter, nachdem sie uns an ihrem langen Weg der Befreiung teilhaben ließ, auf den Satz ihres Vaters »Der Himmel ist leer« nicht mit althergebrachten religiösen Vorstellungen, sondern sie ruft voller Freude:
»Mein Himmel ist voller Musik!«