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Channel: Egoisten
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Der Meister in Düsseldorf

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Ich wusste schon lange, dass sie alle immer und ewig Novizen sind und bleiben werden. Nein, sie schauen dich an, aber sie wissen sowenig von dir wie die bronzene Statue des Kurfürsten Jan Wellem. Das ist sehr beruhigend.

Eine Ausnahme allerdings war der Doktor. Deshalb, und weil man viele Stunden warten musste, ging ich selten zu ihm. Ich hatte schreckliche Angst vor ihm, aber am meisten vor seiner Güte. Auf Äußeres legte er gar keinen Wert; sein Stuhl war ein mit Schaffell bedeckter Autositz und an der Decke baumelte eine Neonlampe, die ein Vorgänger der Praxis in den Sechzigern vergessen hatte. Auch deshalb saß man bei ihm in einer Art Halbdunkel. Manchmal schien es, als nickte er im Gespräch ein wenig ein. Oder vielleicht träumte er auch. Oder er erschuf im Inneren ein Bild von mir, der ich vor ihm saß und wartete. Oder er lauschte meinem Engel, der ihm Geschichten von mir erzählte.

Es war vielleicht ein Uhr nachts. Er schaute mich wieder an, mit diesen heiteren, fast kindlich freundlichen Blicken, und antwortete mir auf eine Frage, die ich noch gar nicht gestellt hatte. Manchmal fragte er, wann ich bei ihm gewesen sei, und wenn ich auf das präziseste antwortete, das war vor einem halben Jahr, am 2. Februar, lächelte er erfreut. Manchmal blickte er lange auf seine Finger und betrachtete sie nacheinander, als wolle er sich ein für allemal ihren Anblick einprägen. Dann blätterte er schweigend in Folianten der Homöopathischen Lieferanten. Oft erzählte er unvermittelt von Dingen, deren Zusammenhang mir völlig im Dunkel blieb, von den Ureinwohnern Amerikas, lange vor jeder Usurpation durch indianische Stämme oder von Personen aus dem Mittelalter. Das war mein Karma. Man konnte ihn fragen, ob dies oder jenes eine echte Imagination gewesen war, und er sagte, nein, nein, bis dahin ist der Weg noch weit.

Ich habe mir nie sonderlich etwas vorgemacht. Ich weiß, woran ich mit mir bin. Deshalb war ich so befangen, als ich diese altehrwürdigen Räume betrat. Es war, als sei die Zeit stehen geblieben. Feierliche, meist ältere Menschen, die sich mit einer steifen Förmlichkeit im Kreis hintereinander begrüßten. An der Wand, mit eindringlichen Blicken, ein Abbild Rudolf Steiners. Dort, an der Rossstraße, herrscht noch ein Baustil der Jahrhundertwende, mit unpraktischen, aber einst repräsentativen breiten Treppen, Parkett und alten Flügeltüren. Die Wände duften kaum merklich nach Generationen von Bewohnern oder aber nach maroden Wasserrohren.

Ich war jung, und unendlich befangen. Schließlich hatte ich einige Werke Rudolf Steiners gelesen, und ich wusste, er sprach von der inneren Vollendung. Besonders die Generalin stach mir ins Auge, war sie doch wie ein notwendiger Bestandteil des Gebäudes. Sie thronte am Ende des Saals und ragte, obwohl alle sich in einem Kreis auf die Stühle setzten, doch mit ihrer gravitätischen Haltung und ihrem methusalemischen Alter vor allen hervor. Als ich vor ihr stand, sagte sie nur freundlich Guten Abend, aber als sie mich anblickte, dachte ich, daß ihr Blick durch alle Fassaden hindurch auf den kläglichen Grund meines Inneren blickte und daß ihr meine kleinen Widerwärtigkeiten geradezu ins Gesicht springen müssten.

Ich saß im Seminar und hörte mir das Weltbild dieser Leute an. Man kann sich manches anhören, die Frage ist, ob man es auf sich bezieht. An diesem Tag war ich plötzlich sehr bewegt und dachte, wenn sie recht haben, wenn der Doktor recht hat, die Tanzlehrerin, sie alle, dann muss ich mich ganz und gar verändern. Wenn man das wirklich auch nur ein bisschen ernst nimmt, muss das eigene Bild von der Welt, die Gewohnheit der Vorstellungen doch zusammenbrechen. Neben mir saß eine dunkel bebrillte junge Frau, die sich als Heilpädagogin vorstellte und am Ende des Vortrags mit mir hinausging. Wir unterhielten uns ein wenig. Da brach es aus mir heraus: Dann ist mein Leben, das ich geführt habe, nichts wert, sagte ich. Sie blieb mit mir stehen und schaute mich an. Ich war wirklich ganz erschüttert. Sie sah mich an, mit einem Blick, der mich vollständig bejahte, und sagte lächelnd, es ist gut, du wirst es schon auf deine Art machen. Ich wusste, dass sie sprach, wie kein Liebender es könnte, und dass sie es genauso meinte, wie sie es gesagt hatte. Ich wusste, sie schaute in meinem trudelnden Wanken zwischen all den seelischen Bewegungen bis auf den Grund. Mit einer Floskel wandte ich mich ab. Ich weiß, ich bin ein schwieriger Mensch. Ich reiste noch am selben Tage ab. Ich konnte soviel Verständnis nicht ertragen.

Einmal sagte mir jemand, diese Gegend, habe der Meister gesagt, werde einmal zu einem spirituellen Loch werden, einer Art Knotenpunkt für das Böse. Das hat mich sehr interessiert, und ich habe immer weitergefragt. Man munkelte, dieser oder jener, der spirituell weit entwickelt sei und als Arzt praktiziere, habe sich extra wegen dieser Prophezeiung eben hier niedergelassen. Vielleicht um kleine Lichtpunkte zu setzen. Aber niemand konnte mir jemals sagen, wann und wo der Meister das gesagt haben solle.

Ich ging zum Priester und fragte ihn, und er erzählte mir, es sei doch spürbar, alles sei zerfahren und versickere im sandigen Unterboden des Rheins, nichts bleibe bestehen, die Menschen hätten vielleicht Ideen, auch Initiativen, aber hielten nichts durch, alles versickere. Ich dachte, aha, damit kann er alles entschuldigen, was nicht gelingt und ging zur Tanzmeisterin und fragte sie, und sie sagte mir, ich solle durchhalten und der schönen, aber unsteten Gegend meine Treue halten, sollte wirken und ein Leben führen, auf das ich stolz sein könne. Ich ging zum Arzt, und der sagte mir, im Boden wirkten noch die Mikroorganismen des Meeresbodens, das Meer sei nicht weit, und es würde auch bald wieder hier herrschen. Ich sagte, das könnte ich nicht ertragen, diese Vorstellung, aber er rief mir hinterher, das Wasser wird wieder herrschen, es wird kommen, und die Flut wird dieses ganze Land verschlingen, und Düsseldorf wird sich wieder dort finden, wo es hergekommen ist, in den Fluten.


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