Ingrid Haselberger
Zum Eingang möchte ich, ein wenig abgewandelt, meine eigene Version der alten Geschichte von den blinden Männern erzählen, die von ihrem König ausgeschickt wurden, um zu erforschen, was ein Elefant ist.
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Danach kehrten sie zu ihrem König zurück, der sie nun aufforderte, ihm zu berichten, was sie herausgefunden hatten.
Der erste Weise sagte: „Ein Elefant ist etwas dicker als mein Arm und ziemlich lang, und dabei beweglich wie eine Schlange.“ – er hatte den Rüssel des Elefanten betastet.
Der zweite Weise sagte: „Du hast nicht ganz unrecht, ein Elefant ist tatsächlich lang und beweglich, aber er ist sehr viel dünner, als du sagst, viel eher wie ein Seil – und du hast vergessen zu erwähnen, daß er an seinem Ende eine Quaste hat!“ – denn er war am Schwanzende des Elefanten gestanden.
Der erste Weise widersprach und sagte: „Wie kommst du auf Quaste? Nein, an seinem Ende hat ein Elefant ganz im Gegenteil eine Art Öffnung... ähnlich wie ein Schlauch, aber sehr beweglich, fast wie zwei Finger, sodaß er damit richtig zugreifen kann!“ – und die beiden wollten gerade einen Streit beginnen, da meldete sich der dritte Weise zu Wort und rief: „Wie seltsam ist alles, was ihr beide da gesprochen habt! Ein Elefant ist ganz und gar nicht wie eine Schlange oder ein Seil, sondern er ist im Gegenteil flach und sehr dünn, fast wie eine Art Tuch oder besser ein großer Fächer, der einen ordentlichen Wind machen kann, wenn er sich bewegt!“ – denn er war beim linken Ohr des Elefanten gestanden. Lebhaft stimmte ihm der vierte Weise zu, der das rechte Ohr des Elefanten betastet hatte – und jeder der beiden fühlte sich bestärkt durch die Bestätigung des anderen.
Der fünfte Weise widersprach allem, was bisher gesagt worden war, und meinte: „Was für Phantastereien ihr da erzählt! Ein Elefant ist etwas sehr Starres und Unbewegliches, er ist wie eine leicht gebogene Stange, die sich zu ihrem Ende hin verjüngt; und dabei ist er wunderbar glatt...“ „Ja, so ist es! Ein Elefant fühlt sich rundherum so an wie ein glattgeschliffener Opal – und meine Hände erinnern sich auch noch gut an seine Spitze, die von Stärke und Kraft zeugt“ pflichtete ihm der sechste Weise bei – denn diese beiden hatten ihre Hände über die beiden Stoßzähne des Elefanten gleiten lassen. Und auch sie wurden sich ihrer Sache noch sehr viel sicherer durch die bestätigenden Worte des jeweils anderen.
Vier weitere Weise ereiferten sich nun und widersprachen den ersten sechs - denn jeder von ihnen hatte ein Bein des Elefanten befühlt, und sie waren sich schnell einig: „Ein Elefant ist wie eine dicke Säule! Und jeder, der etwas anderes behauptet, verdient es nicht, ein Weiser genannt zu werden!“ – Und nicht zuletzt deshalb, weil sie nicht nur zu zweit, sondern sogar zu viert waren in ihrer Einigkeit, schien ihnen das, was sie zu sagen hatten, sehr viel mehr Gewicht zu haben als alles bisher Geäußerte.
Der elfte Weise aber schüttelte zu alledem nur den Kopf – und als der König ihn schließlich nach seiner Ansicht fragte, sagte er: „Majestät, diese Männer haben alle Unrecht. Gleich, wie viele von ihnen sich auch einig sein mögen – ein Elefant ist sehr viel größer als alles, was einer von ihnen begreifen könnte. Er ist eine riesige gewölbte Wand, und wenn man versucht, dieser Wand mit den Händen zu folgen, kommt man gar nicht bis an ihr Ende...“ – denn er war an der linken Seite des Elefanten gestanden und hatte seinen Rumpf betastet.
Und der zwölfte Weise, der an der rechten Seite des Elefanten gestanden war, stimmte ihm zu: „Ein Elefant ist so groß, daß er sich nicht einmal von meinen beiden gewiß nicht kurzen Armen umspannen läßt!“ – und in ehrfürchtigem Ton fügte er hinzu: „Ein Elefant hat keinen Anfang und kein Ende – und wie könnten wir sterblichen, endlichen Menschen uns anmaßen, etwas von der Unendlichkeit zu wissen!“
Der König war eine Weile still und blickte die Streitenden nachdenklich an. Dann lächelte er, gebot ihnen zu schweigen und sprach: „Ihr weisen Männer, ich danke Euch für die Kunde, die Ihr mir gebracht habt. Dank Eurer Hilfe weiß ich nun, was ein Elefant ist: er ist ein riesiges Tier, das man selbst mit zwei wirklich langen Armen nicht umspannen kann. Er hat vier dicke Beine, auf denen sein Körper ruht wie auf vier Säulen, und er hat zwei große, flache Ohren, mit denen er sich wie mit zwei Fächern Kühlung verschaffen kann. Er hat zwei lange, spitze, leicht gebogene und wunderbar glatt geschliffene Stoßzähne. Und dazu hat er noch einen dicken, beweglichen Rüssel, mit dem er Nahrung ergreifen kann, und einen langen, dünnen Schwanz mit einer Quaste hintendran!“
Die weisen Männer schwiegen betroffen – – – und nach einer langen Pause sagte einer von ihnen: „Majestät, Eure Weisheit ist doch von ganz anderer Art als die unsere… es ist recht, daß Ihr unser König seid. Mögen die Weisen dieser Welt zu allen Zeiten solche Könige haben!“
Da lächelte der König und sprach: „Mögen die Könige aller Länder dieser Welt zu keiner Zeit damit aufhören, die Fragen, die sie haben, ihren Weisen vorzulegen. Und mögen die Weisen dieser Welt sich zu allen Zeiten auf Reisen begeben, um ihrem König Kunde zu bringen.“
Der König schwieg eine Weile, und sein Lächeln vertiefte sich. Dann fügte er hinzu: „Und mögen die Könige aller Länder dieser Welt zu keiner Zeit vergessen, daß es Dinge gibt, vor denen sie selber nicht anders stehen als ein einzelner blinder Mann, der seinem König Kunde davon bringen will, was ein Elefant ist.“
(entstanden im Jänner 2012 für den Egoistenblog)