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Saatgut oder Nahrung?

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Zum Umgang mit dem Erbe Rudolf Steiners

Ingrid Haselberger


»Man kann hinblicken auf den Bauern, der sein Feld bestellt, der einerntet die Früchte des Feldes. Der größte Teil dieser Früchte des Feldes wird hereingenommen in das menschliche Leben, zur Nahrung der Menschen verwendet; ein kleiner Teil nur bleibt übrig. Er wird verwendet zur neuen Fruchtaussaat. Nur von diesem letzteren Teile kann man sagen, daß er folgen darf den Triebkräften, den inneren Lebe- und Bildekräften, die im aufsprossenden Korn, in der aufsprossenden Frucht selber liegen. Das, was in die Scheunen geführt wird, wird zumeist abgebracht von seinem in den eigenen Bildungsgesetzen liegenden Fortschritt, wird gleichsam in eine Seitenströmung geführt, zur menschlichen Nahrung verwendet, setzt nicht fort in unmittelbarer Weise das, was in den Keimen liegt, was die eigenen Triebkräfte sind.«
(Rudolf Steiner, GA 153, Wien, 6. April 1914)

Während ich früher beim Anblick eines Getreidefeldes vor allem an diese „Seitenströmung“ dachte, ist im letzten Jahrzehnt die „Hauptströmung“ immer stärker in mein Bewußtsein gerückt:
Die zunehmende Industrialisierung der Landwirtschaft ließ, immer deutlicher erkennbar, wirtschaftliche Interessen in den Vordergrund treten, während auf der anderen Seite Unternehmen wie die Arche Noah für die Erhaltung der Artenvielfalt kämpfen, und darum, daß Bauern und Gärtner das ihnen  beinahe schon entrissene Saatgut wieder bzw weiterhin in die eigenen Hände nehmen können.
Denn wer über die Nahrung verfügt, gestaltet die Gegenwart.
Wer aber über das Saatgut verfügt, wird die Zukunft gestalten…

Einige Tage vor dem eingangs Zitierten, am 30. März 1914 in München (GA 152), führt Rudolf Steiner aus:
»Der Mensch entwickelt sich in der Welt, er krönt die Entwickelung dadurch, daß der Gedanke die Welt erfüllt. Er erkennt dadurch die Umwelt. Aber zweierlei kann der Gedanke: Sich richtig entwickeln, was sich mit der Entwickelung des Keimes zur Blüte vergleichen läßt, oder es kann der Keim dienen zur menschlichen Nahrung. Da wird er aus seiner fortlaufenden Strömung herausgerissen. Bleibt er bei der fortlaufenden Strömung, entwickelt sich eine neue Pflanze, es kommt voraussichtlich Leben für die Zukunft aus ihm. Ebenso ist es mit dem menschlichen Gedanken. Man sagt, wir machen uns durch ihn Bilder von der Umwelt. Aber die Verwendung zu solcher Erkenntnis ist, wie wenn wir Keime zur Nahrung verwenden. Wir treiben den Gedanken von seiner Strömung ab. Beharrt er aber in seiner Strömung, verwenden wir ihn nicht gleichsam zur Nahrung, dann lassen wir ihn sein eigenes Keimleben leben, lassen ihn aufgehen in Meditation und Inspiration, lassen ihn sich entwickeln zu neu befruchtendem Dasein. Das ist die gerade Strömung für den Gedanken. Das wird man in Zukunft erkennen, daß das, was man als Erkenntnis der Welt angesehen hat, sich verhält wie das Korn, das nicht fortschreitet zu neuem Korn, sondern herausgetrieben wird in eine ganz andere Strömung; aber das, was wir erkennen lernen durch die Erkenntnis der höheren Welt, ist der in Freiheit philosophisch ergriffene Gedanke, der in Meditation und Konzentration direkt in das geistige Leben hinein leitet.
Wir stehen an dem Punkte, wo erkannt werden wird, daß sich die gewöhnliche Erkenntnis zur übersinnlichen Erkenntnis verhält, wie sich verhält ein Korn, welches verwendet wird zur Nahrung, zu einem solchen, das fortschreitet zu neuem Korn.«

Diese Betrachtungsweise regt Fragen in mir an in Bezug auf unseren Umgang mit den Mitteilungen, die Rudolf Steiner uns hinterlassen hat:
Geht es darum, Rudolf Steiners Erbe zu „Nahrung“ werden zu lassen und unmittelbar fruchtbar zu machen für die Welt?
Oder haben diejenigen recht, die sich nicht um unmittelbare Fruchtbarkeit in der Welt kümmern, sondern sich lieber in die Vorträge versenken und versuchen, aus ihnen „Saatgut“ für die fernere Zukunft zu gewinnen, indem sie die darin enthaltenen Gedanken in Freiheit philosophisch ergreifen und sich von ihnen in Meditation und Konzentration direkt in das geistige Leben hinein leiten lassen?

Zwei Jahre vor dem bisher Zitierten, am 24. Mai 1912 in Kopenhagen (GA 155), beleuchtete Rudolf Steiner die Sache noch ein wenig anders:

»Nehmen wir an, es würden alle Weizenkörner, welche entstehen, wirklich an ihr Ziel gelangen und wieder Ähren werden. Was wäre da die Folge? Es wäre einfach die Welt nicht möglich, denn die Wesenheiten, die sich vom Korn oder Weizen ernähren müssen, hätten keine Nahrung!«

Und so haben auch meine Fragen in der Wirklichkeit längst ihre Antworten gefunden: es gibt heute sowohl die „Anwendungsfelder“ der Anthroposophie (biologisch-dynamische Landwirtschaft, Waldorfpädagogik, anthroposophische Medizin und Heilpädagogik, eurythmische Bewegungskunst, anthroposophische Finanzinstitute) als auch die philosophisch-meditativ-konzentrierte Arbeit in den Zusammenkünften der Mitglieder der freien Hochschule für Geisteswissenschaft, gar nicht zu reden von der vielfältigen Arbeit in den verschiedenen Zweigen und Arbeitsgruppen...
Und jede dieser „Strömungen“ hat ihre Berechtigung.

Auch in Bezug auf das Verlegen der Texte Rudolf Steiners kann man sich dieselben Fragen stellen:
Haben wir vor allen Dingen die Aufgabe, sie als „Saatgut“ für die Zukunft im Wortlaut möglichst „rein“ zu erhalten, damit künftige Generationen damit so umgehen können, wie es ihnen und ihrer Zeit angemessen sein wird (und wie wir es uns heute noch gar nicht vorstellen können)?
Oder ist es wichtiger, diese Texte vor allem den jetzt Lebenden zugänglich zu machen, damit möglichst viele Menschen etwas daraus gewinnen können?
Von diesem Gedanken ist es nicht weit bis zu der Frage, inwieweit Texte, die  sich vor hundert Jahren als Nahrung geeignet haben, weil sie in vielen Fällen direkte Antworten waren auf die Fragen, die die Menschen damals hatten – – –  inwieweit solche Texte ganz unverändert auch für heutige Menschen Nahrung bieten können, bzw ob nicht die Antworten sich ändern müssen, weil die Fragen sich geändert haben: welches „Brot“ backen wir aus dem vorliegenden „Korn“?

Auch hierauf finden unterschiedliche Menschen unterschiedliche Antworten.
Seit Rudolf Steiners Texte „gemeinfrei“ geworden sind, gibt es – neben der Tätigkeit des Rudolf-Steiner-Verlags, dem wir die bisherigen und hoffentlich noch etliche weitere Bände der GA verdanken – auch andere Intiativen, die sich um die öffentliche Präsentation dieser Texte bemühen.

Während der Rudolf-Steiner-Verlag sich insbesondere die chronologisch aufgebaute, systematisch gegliederte Gesamtausgabe des Werkes Rudolf Steiners zur Aufgabe gemacht hat (wobei die Schriften in der von Steiner selbst letztgültig autorisierten Fassung erscheinen), sind Pietro Archiati und sein Verlag »bestrebt, einerseits so nahe wie möglich an das von Rudolf Steiner Gesprochene zu kommen und andererseits seine Geisteswissenschaft allen Menschen zugänglich zu machen, da es in ihrer Natur liegt, zum unmittelbaren Leben zu werden.«, wie es im Anhang zu dem Band „Buddha und Christus“ heißt.

Um die »aufbauende und ermunternde Lektüre« (so die website der „Rudolf Steiner Ausgaben“), also gewissermaßen die Nahrungsaufnahme, zu erleichtern, räumt Archiati vieles hinweg, das für heutige Leser eine Barriere darstellen könnte. Er gliedert die Texte, den heutigen Lesegewohnheiten entsprechend, möglichst übersichtlich in kürzere Absätze und ersetzt zudem heute ungewohnte Begriffe durch weniger „schwierige“ (in manchen Fällen auch: durch weniger umstrittene…) – was durchaus nicht auf einhellige Zustimmung stößt.

Auch Christian Clement bemüht sich um das Zugänglichmachen der Texte Rudolf Steiners für alle Menschen. Dazu arbeitet er seit Jahren daran, »den urheberrechtlich unbedenklichen Teil dieses gewaltigen Textkorpus« im  Rudolf Steiner Online Archiv jedermann kostenfrei zur Verfügung zu stellen.

In der ebenfalls von Christian Clement herausgegebenen SKA dagegen sind die Texte Rudolf Steiners nicht so barrierefrei zu haben: die Bände sind nicht billig, und man „stolpert“ beim Lesen fortwährend über die vielen Hinweise auf Veränderungen einzelner Passagen, Worte oder auch nur Satzzeichen seit der Erstauflage (siehe die hier beispielsweise dargestellten Seiten).
Die SKA wendet sich offensichtlich an eine völlig andere Zielgruppe als Archiati – die hier präsentierte Textgestalt ist nicht „bekömmlich“, an diesen Texten wird man sich kaum innerlich „erbauen“ wollen.
Gerade deshalb eignet sich die SKA als „Saatgut“ für Felder, auf denen bisher weder die GA noch auch Archiatis Rudolf Steiner Ausgaben zu nennenswerter Aussaat gekommen sind.
Und folgerichtig legt Christian Clement dieses „Saatgut“ in eine „Beize“, um es konkurrenzfähiger zu machen gegen die vielen ihm wohlbekannten „Beikräuter“, die ebenfalls auf den Feldern wachsen, um deren Bestellung es ihm geht.
Das zeigt sich auch schon in den Einleitungen Clements, die sich meinem Eindruck nach vor allem an Nichtanthroposophen wenden, an Menschen, die den Mitteilungen eines „Hellsehers“ zunächst einmal sehr skeptisch gegenüberstehen. Ihnen zeigt Clement, daß ihm ihre Einwände nicht nur bekannt, sondern auch begreiflich sind. Darin erinnert er mich übrigens an die vielen Einwandvorwegnahmen Rudolf Steiners in den Vorworten zu seinen Schriften…
Allerdings spricht Clement – anders als Steiner selbst in seinen Prolegomena – diese Einwände nicht explizit aus. Dennoch leuchten sie geradezu hervor aus gewissen etwas „augenzwinkernden“ Bemerkungen – und ich erkenne diese Einwände wieder, aus meinen eigenen zahlreichen Begegnungen mit „Anthro-Skeptikern“.
Freilich ist es nicht verwunderlich, daß diese „Beize“ nicht jedem „schmeckt“… :-) das haben Beizen nunmal so an sich.

Sowohl Archiatis als auch Clements Vorgangsweisen sind innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft heftig umstritten – und beide Autoren stellen das öffentlich im Internet dar:
rudolfsteinerausgaben_rechtslage
steinerkritischeausgabe_skepsis

Interessanterweise ist gerade Pietro Archiati einer der schärfsten Kritiker Clements.
In seiner Schrift Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend spricht er von Clements Versuch der »Vernichtung«, der »Einsargung der Anthroposophie«…
In gewissem Sinne hat er recht: auch ein Samenkorn erscheint uns wie „tot“, und erst, wenn wir ihm ein Grab in der Erde bereiten, kann es wieder auferstehen und zur neuen Pflanze werden (und wir vertrauen darauf, daß aus einem Sonnenblumenkern wieder eine Sonnenblume wird, und nicht etwa eine Distel…).

Was sagt nun Rudolf Steiner selbst zu diesem Thema?
»Der Mensch verdankt, was er aus seinen Fähigkeiten schaffen kann, der menschlichen Sozietät, der menschlichen sozialen Ordnung. Es gehört einem in Wahrheit nicht. Warum verwaltet man sein sogenanntes geistiges Eigentum? Bloß deshalb, weil man es hervorbringt; dadurch, daß man es hervorbringt, zeigt man, daß man die Fähigkeiten dazu besser hat als andere. So lange man diese Fähigkeiten besser hat als andere, so lange wird man im Dienste des Ganzen am besten dieses geistige Eigentum verwalten. Nun sind die Menschen wenigstens darauf gekommen, daß sich nicht endlos forterbt dieses geistige Eigentum; dreißig Jahre nach dem Tode gehört das geistige Eigentum der gesamten Menschheit. Jeder kann dreißig Jahre nach meinem Tode drucken, was ich hervorgebracht habe; man kann es in beliebiger Weise verwenden, und das ist recht. Ich wäre sogar einverstanden, wenn noch mehr Rechte wären auf diesem Gebiet. Es gibt keine andere Rechtfertigung dafür, daß man geistiges Eigentum zu verwalten hat, als daß man, weil man es hervorbringen kann, auch die besseren Fähigkeiten hat.«
(GA 330, Vortrag am 26. April 1919, Stuttgart-Untertürkheim)

Und so komme ich auch hier, wie bei den „Anwendungsfeldern“, zu dem Ergebnis, daß jede dieser Arten, Rudolf Steiners Texte herauszugeben, heute ihre Berechtigung hat.

Zu seinen Lebzeiten hat Rudolf Steiner selbst sowohl für „Nahrung“ gesorgt (in seinen – vor allem für Mitglieder bestimmten – Vorträgen) als auch für „Saatgut“ (in seinen – die Auseinandersetzung mit einer kritischen Wissenschaft suchenden – Schriften).
Nun ist es an uns, diese Impulse weiterzutragen – und was Steiner in seiner Person vereint hat, trennt sich in verschiedene Initiativträger.

Auch wenn heute wohl niemand die Fähigkeiten hat, das hervorzubringen, was Rudolf Steiner hervorgebracht hat: jeder einzelne, der den Impuls dazu in sich findet, kann eigenverantwortlich auf seine Weise mit dem umgehen, was uns in diesen Texten geschenkt ist. Sowohl als Herausgeber als auch als Leser, sowohl als Nahrungssuchender als auch als jemand, dem es um Saatgut für die Zukunft geht.
Und das ist recht.



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