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Ein Klassiker der Geisteswissenschaft: Fichtes "Bestimmung des Menschen"

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"Auf das mannigfaltigste zertheilt und getrennt 
schaue in allen Gestalten ausser mir 
ich selbst mich wieder, 
und strahle mir aus ihnen entgegen."
 
In Johann Gottlieb Fichtes Schrift "Die Bestimmung des Menschen" (1800 ) ist in vieler Hinsicht das Experiment keimhaft vorgebildet, das Rudolf Steiner knapp 100 Jahre später unternahm, als er den Versuch unternahm, auf bruchlose Weise die Anschauungen seiner begrifflich-philosophischen  Phase in die Anschaulichkeit einer religiös-theosophischen Weltanschauung zu überführen. Der Übergang von Steiners philosophischem Werk bis 1894 zur theosophisch-anthroposophischen Geisteswissenschaft nach 1904 entspricht im Gestus dem Übergang von den ersten beiden Büchern in Fichtes Schrift ("Zweifel" und "Wissen") zum dritten Buch (über den "Glauben"):



Aus Buch I: "Zweifel"

[...] Welche von beiden Meinungen soll ich ergreifen? Bin ich frei und selbstständig, oder bin ich nichts an mir selbst, und lediglich Erscheinung einer fremden Kraft? Es ist mir soeben klar geworden, dass keine von beiden Behauptungen hinlänglich begründet ist. Für die erste spricht nichts als ihre blosse Denkbarkeit; für die letzte dehne ich einen an sich und in seinem Gebiete ganz wahren Satz weiter aus, als sein eigentlicher Grund reicht. Ist die Intelligenz blosse Natur-Aeusserung, so thue ich ganz Recht daran, jenen Satz auch über sie auszudehnen; aber, ob sie es sey, davon ist eben die Frage; und diese soll durch Folgerung aus anderen Sätzen beantwortet, nicht aber eine einseitige Antwort schon beim Anfange der Untersuchung vorausgesetzt, und aus dieser wieder abgeleitet werden, was ich selbst erst in sie hineinlegte. Kurz, aus Gründen zu erweisen, ist keine von den beiden Meinungen.


Aus Buch II: "Wissen"

Der Geist: Kurzsichtiger! [...]Du wolltest wissen von deinem Wissen. Wunderst du dich, dass du auf diesem Wege auch nichts weiter erfuhrst, als – wovon du wissen wolltest, von deinem Wissen selbst; und möchtest du, dass es anders sey? Was durch das Wissen, und aus dem Wissen entsteht, ist nur ein Wissen. Alles Wissen aber ist nur Abbildung, und es wird in ihm immer etwas gefordert, das dem Bilde entspreche. Diese Forderung kann durch kein Wissen befriedigt werden; und ein System des Wissens ist nothwendig ein System blosser Bilder, ohne alle Realität, Bedeutung und Zweck. Hast du etwas Anderes erwartet? Willst du das innere Wesen deines Geistes ändern, und deinem Wissen anmuthen mehr zu seyn, denn ein Wissen?

Die Realität, die du schon erblickt zu haben glaubtest, eine unabhängig von dir vorhandene Sinnenwelt, deren Sklav du zu werden fürchtetest, ist dir verschwunden; denn diese ganze Sinnenwelt entsteht nur durch das Wissen, und ist selbst unser Wissen; aber Wissen ist nicht Realität, eben darum, weil es Wissen ist. Du hast die Täuschung eingesehen, und kannst, ohne deine bessere Einsicht zu verläugnen, dich nie derselben wieder hingeben. Und dies ist denn das einige Verdienst, das ich an dem Systeme, das wir soeben mit einander gefunden, rühme: es zerstört und vernichtet den Irrthum. Wahrheit geben kann es nicht; denn es ist in sich selbst absolut leer. Nun suchst du denn doch etwas, ausser dem blossen Bilde liegendes Reelles – mit deinem guten Rechte, wie ich wohl weiss – und eine andere Realität, als die soeben vernichtete, wie ich gleichfalls weiss. Aber du würdest dich vergebens bemühen, sie durch dein Wissen, und aus deinem Wissen zu erschaffen, und mit deiner Erkenntniss zu umfassen. Hast du kein anderes Organ, sie zu ergreifen, so wirst du sie nimmer finden.

Aber du hast ein solches Organ. Belebe es nur, und erwärme es; und du wirst zur vollkommensten Ruhe gelangen. Ich lasse dich mit dir selbst allein.


Aus Buch III: "Glaube" 

Gesegnet sey mir die Stunde, da ich zum Nachdenken über mich selbst und meine Bestimmung mich entschloss. Alle meine Fragen sind gelöst; ich weiss, was ich wissen kann, und ich bin ohne Sorge über das, was ich nicht wissen kann. Ich bin befriedigt; es ist vollkommene Uebereinstimmung und Klarheit in meinem Geiste, und eine neue herrlichere Existenz desselben beginnt [...]

Ich weiss in jedem Augenblicke meines Lebens sicher, was ich in ihm thun soll: und dies ist meine ganze Bestimmung, inwiefern dieselbe von mir abhängt. Hiervon, da mein Wissen nicht darüber hinausreicht, soll ich nicht abgehen; ich soll darüber hinaus nichts wissen wollen; ich soll in diesem einigen Mittelpuncte feststehen, und darin einwurzeln. Auf ihn soll alles mein Dichten und Trachten, und mein ganzesVermögen gerichtet seyn, er soll mein ganzes Daseyn in sich verweben [...]

Von nun an weiter zu sorgen, wäre vergebliche Qual, die ich mir selbst zufügte; wäre Unglaube und Mistrauen gegen jenen Willen. Es soll mir nie einfallen, statt Seiner die Welt regieren zu wollen, die Stimme meiner beschränkten Klugheit statt seiner Stimme in meinem Gewissen zu hören, und den einseitigen Plan eines kurzsichtigen Einzelnen an die Stelle seines Planes, der über das Ganze sich erstreckt, zu setzen. Ich weiss, dass ich dadurch nothwendig aus seiner Ordnung, und aus der Ordnung aller geistigen Wesen herausfallen würde.

So wie ich diese höhere Fügung durch Ruhe und Ergebung ehre, ebenso soll ich die Freiheit anderer Wesen ausser mir in meinem Handeln ehren. Es ist nicht davon die Frage: was sie nach meinen Begriffen thun sollen, sondern davon, was ich thun darf, um sie zu bewegen, dass sie es thun. Aber ich kann unmittelbar nur auf ihre Ueberzeugung und auf ihren Willen wirken wollen, soweit die Ordnung der Gesellschaft und ihre eigene Einwilligung es verstattet; keinesweges aber ohne ihre Ueberzeugung und ohne ihren Willen auf ihre Kräfte und Verhältnisse. Sie thun auf ihre eigene Verantwortung, was sie thun, wo ich es nicht ändern kann, oder nicht darf, und der ewige Wille wird alles zum Besten lenken. Mir ist mehr daran gelegen, dass ich ihre Freiheit ehre, als, dass ich verhindern oder aufhebe, was mir beim Gebrauche derselben böse scheint.

Ich erhebe mich in diesen Standpunct, und bin ein neues Geschöpf, und mein ganzes Verhältniss zur vorhandenen Welt ist verwandelt. Die Fäden, durch welche bisher mein Gemüth an diese Welt angeknüpft war, und durch deren geheimen Zug es allen Bewegungen in ihr folgte, sind auf ewig zerschnitten, und ich stehe frei, und selbst meine eigene Welt, ruhig und unbewegt da. Nicht mehr durch das Herz, nur durch das Auge ergreife ich die Gegenstände, und hänge zusammen mit ihnen, und dieses Auge selbst verklärt sich in der Freiheit, und blickt hindurch durch den Irrthum und die Misgestalt bis zum Wahren und Schönen, so wie auf der unbewegten Wasserfläche die Formen rein und in einem milderen Lichte sich abspiegeln. [...]

Die todte lastende Masse, die nur den Raum ausstopfte, ist verschwunden, und an ihrer Stelle fliesst und woget und rauscht der ewige Strom von Leben und Kraft und That – vom ursprünglichen Leben; von Deinem Leben, Unendlicher: denn alles Leben ist Dein Leben, und nur das religiöse Auge dringt ein in das Reich der wahren Schönheit.

Ich bin dir verwandt, und was ich rund um mich herum erblicke, ist Mir verwandt; es ist alles belebt und beseelt, und blickt aus hellen Geister-Augen mich an, und redet mit Geister-Tönen an mein Herz. Auf das mannigfaltigste zertheilt und getrennt schaue in allen Gestalten ausser mir ich selbst mich wieder, und strahle mir aus ihnen entgegen, wie die Morgensonne in tausend Thautropfen mannigfaltig gebrochen sich selbst entgegenglänzt.

Dein Leben, wie es der Endliche zu fassen vermag, ist sich selbst schlechthin durch sich selbst bildendes und darstellendes Wollen; dieses Leben fliesst, – im Auge des Sterblichen mannigfach versinnlicht, – durch mich hindurch herab in die ganze unermessliche Natur. Hier strömt es als sich selbstschaffende und bildende Materie durch meine Adern und Muskeln hindurch, und setzt ausser mir seine Fülle ab im Baume, in der Pflanze, im Grase. Ein zusammenhängender Strom, Tropfen an Tropfen, fliesst das bildende Leben in allen Gestalten, und allenthalben, wohin ihm mein Auge zu folgen vermag; und blickt mich an, – aus jedem Puncte des Universums anders, – als dieselbe Kraft, durch die es in geheimem Dunkel meinen eigenen Körper bildet. Dort woget es frei, und hüpft und tanzet als sich selbst bildende Bewegung im Thiere, und stellt in jedem neuen Körper sich dar, als eine andere eigene für sich bestehende Welt: dieselbe Kraft, welche, mir unsichtbar, in meinen eigenen Gliedmaassen sich reget und bewegt. Alles was sich regt folgt diesem allgemeinen Zuge, diesem einigen Princip aller Bewegung, das von einem Ende des Universums zum anderen die harmonische Erschütterung fortleitet: das Thier ohne Freiheit; ich, von welchem in der sichtbaren Welt die Bewegung ausgeht, ohne dass sie darum in mir gegründet sey, mit Freiheit.

Aber rein und heilig, und deinem eigenen Wesen so nahe, als im Auge des Sterblichen etwas ihm seyn kann, fliesset dieses dein Leben hin als Band, das Geister mit Geistern in Eins verschlingt, als Luft und Aether der Einen Vernunftwelt; undenkbar und unbegreiflich, und doch offenbar daliegend vor dem geistigen Auge. In diesem Lichtstrome fortgeleitet schwebt der Gedanke, unaufgehalten und derselbe bleibend von Seele zu Seele, und kommt reiner und verklärt zurück aus der verwandten Brust. Durch dieses Geheimniss findet der Einzelne sich selbst, und versteht und liebt sich selbst nur in einem anderen; und jeder Geist wickelt sich los nur von anderen Geistern, und es giebt keinen Menschen, sondern nur eine Menschheit, kein einzelnes Denken und Lieben und Hassen, sondern nur ein Denken und Lieben und Hassen in und durch einander. Durch dieses Geheimniss strömt die Verwandtschaft der Geister in der unsichtbaren Welt fort bis in ihre körperliche Natur, und stellt sich dar in zwei Geschlechtern, die, wenn auch jedes geistige Band zerreissen könnte, schon als Naturwesen genöthigt sind, sich zu lieben; fliesst aus in die Zärtlichkeit der Eltern und Kinder und Geschwister, gleich als ob die Seelen ebenso aus Einem Blute entsprossen wären, wie die Leiber, und die Gemüther Zweige und Blüthen desselben Stammes wären; und umfasset von da aus in engeren oder weiteren Kreisen die ganze empfindende Welt. Selbst ihrem Hasse liegt der Durst nach Liebe zum Grunde, und es entsteht keine Feindschaft, ausser aus versagter Freundschaft.

Dieses ewige Leben und Regen in allen Adern der sinnlichen und geistigen Natur erblickt mein Auge durch das, was Anderen todte Masse scheint, hindurch; und siehet dieses Leben stets steigen und wachsen, und zum geistigeren Ausdrucke seiner selbst sich verklären. Das Universum ist mir nicht mehr jener in sich selbst zurücklaufende Cirkel, jenes unaufhörlich sich wiederholende Spiel, jenes Ungeheuer, das sich selbst verschlingt, um sich wieder zu gebären, wie es schon war; es ist vor meinem Blicke vergeistiget, und trägt das eigene Gepräge des Geistes: stetes Fortschreiten zum Vollkommeneren in einer geraden Linie, die in die Unendlichkeit geht.

Die Sonne gehet auf und gehet unter, und die Sterne versinken und kommen wieder, und alle Sphären halten ihren Cirkeltanz; aber sie kommen nie so wieder, wie sie verschwanden, und in den leuchtenden Quellen des Lebens ist selbst Leben und Fortbilden. Jede Stunde, von ihnen herbeigeführt, jeder Morgen und jeder Abend sinkt mit neuem Gedeihen herab auf die Welt; neues Leben und neue Liebe entträufelt den Sphären, wie die Thautropfen der Wolke, und umfängt die Natur, wie die kühle Nacht die Erde.

Aller Tod in der Natur ist Geburt, und gerade im Sterben erscheint sichtbar die Erhöhung des Lebens. Es ist kein tödtendes Princip in der Natur, denn die Natur ist durchaus lauter Leben; nicht der Tod tödtet, sondern das lebendigere Leben, welches, hinter dem alten verborgen, beginnt und sich entwickelt. Tod und Geburt ist bloss das Ringen des Lebens mit sich selbst, um sich stets verklärter und ihm selbst ähnlicher darzustellen. Und mein Tod könnte etwas Anderes seyn – meiner, der ich überhaupt nicht eine blosse Darstellung und Abbildung des Lebens bin, sondern das ursprüngliche, allein wahre und wesentliche Leben in mir selbst trage? – Es ist gar kein möglicher Gedanke, dass die Natur ein Leben vernichten solle, das aus ihr nicht stammt; die Natur, um deren willen nicht ich, sondern die selbst nur um meinetwillen lebt.

Aber selbst mein natürliches Leben, selbst diese blosse Darstellung des inneren unsichtbaren Lebens vor dem Blicke des Endlichen, kann sie nicht vernichten, weil sie sonst sich selbst müsste vernichten können; sie, die bloss für mich, und um meinetwillen da ist, und nicht ist, wenn ich nicht bin. Gerade darum weil sie mich tödtet, muss sie mich neu beleben; es kann nur mein in ihr sich entwickelndes höheres Leben seyn, vor welchem mein gegenwärtiges verschwindet; und das, was der Sterbliche Tod nennt, ist die sichtbare Erscheinung einer zweiten Belebung. Stürbe kein vernünftiges Wesen auf der Erde, das da nun einmal ihr Licht erblickt hätte, so wäre kein Grund da, eines neuen Himmels und einer neuen Erde zu harren: die einzig mögliche Absicht dieser Natur, Vernunft darzustellen und zu erhalten, wäre schon hienieden erfüllt, und ihr Umkreis wäre geschlossen. Aber der Act, durch den sie ein freies selbstständiges Wesen tödtet, ist ihr feierliches, aller Vernunft kundbares Hinüberschreiten über diesen Act, und über die ganze Sphäre, die sie dadurch beschliesst; die Erscheinung des Todes ist der Leiter, an welchem mein geistiges Auge zu dem neuen Leben meiner selbst, und einer Natur für mich hinübergleitet.

Jeder meines Gleichen, der aus der irdischen Verbindung heraustritt, und der meinem Geiste nicht für vernichtet gelten kann – denn er ist meines Gleichen – zieht meinen Gedanken mit sich hinüber; er ist noch, und ihm gebührt eine Stätte. Indess wir hienieden um ihn trauern, so wie Trauer seyn würde, wenn sie könnte im dumpfen Reiche der Bewusstlosigkeit, wenn sich ihm ein Mensch zum Lichte der Erdensonne entreisst, ist drüben Freude, dass der Mensch zu ihrer Welt geboren wurde, so wie wir Erdenbürger die unserigen mit Freude empfangen. Wenn ich einst ihnen folgen werde, wird für mich nur Freude seyn; denn die Trauer bleibt in der Sphäre zurück, die ich verlasse.

Es verschwindet vor meinem Blicke und versinkt die Welt, die ich noch soeben bewunderte. In aller Fülle des Lebens; der Ordnung und des Gedeihens, welche ich in ihr schaue, ist sie doch nur der Vorhang, durch die eine unendlich vollkommenere mir verdeckt wird, und der Keim, aus dem diese sich entwickeln soll. Mein Glaube tritt hinter diesen Vorhang, und erwärmt und belebt diesen Keim. Er sieht nichts Bestimmtes, aber er erwartet mehr, als er hienieden fassen kann, und je in der Zeit wird fassen können.

So lebe und so bin ich, und so bin ich unveränderlich, fest und vollendet für alle Ewigkeit; denn dieses Seyn ist kein von aussen angenommenes, es ist mein eigenes, einiges wahres Seyn und Wesen.

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