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Persönlich oder nicht persönlich, das ist hier die Frage...

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Zu einem (meiner Ansicht nach: scheinbaren) Widerspruch in den Äußerungen Rudolf Steiners über seine „Philosophie der Freiheit“ 


Ingrid Haselberger


In seinem Entwurf einer Hinleitung zu Rudolf Steiners philosophischen Schriften  zitiert Christian Clement einerseits aus Rudolf Steiners Brief an Rosa Mayreder vom 4. November 1894 (Hervorhebungen R.St.):
»Ichlehre nicht; ich erzähle, was ich innerlich durchlebthabe. Ich erzähle es so, wie ich es gelebt habe. Es ist alles in meinem Buche persönlich gemeint. Auch die Form der Gedanken. Eine lehrhafte Natur könnte die Sache erweitern. Ich vielleicht auch zu seiner Zeit. Zunächst wollte ich die Biographie einer sich zur Freiheit emporringenden Seele zeigen. Man kann da nichts tun für jene, welche mit einem über Klippen und Abgründe wollen. Man muß selbst sehen, darüberzukommen. Stehenzubleiben und erst andern klar zu machen: wie sie am leichtesten darüberkommen, dazu brennt im Innern zu sehr die Sehnsucht nach dem Ziele. Ich glaube auch, ich wäre gestürzt: hätte ich versucht, die geeigneten Wege sogleich für andere zu suchen. [...] Willkürlich, ganz individuell ist bei mir manche Klippe übersprungen, durch Dickicht habe ich mich in meiner nur mir eigenen Weise durchgearbeitet. Wenn man ans Ziel kommt, weiß man erst, daß man da ist. Vielleicht ist aber überhaupt die Zeit des Lehrens in Dingen, wie das meine, vorüber. Mich interessiert die Philosophie fast nur noch als Erlebnis des Einzelnen.«
und, im Gegensatz dazu, aus einem Vortrag beim theosophischen Kongreß in München 1907 (GA 284, S 48):
»Für die, welche sich einleben wollen in ein ganz sinnlichkeitsfreies Denken, versuchte ich ein Buch zu schreiben wie meine Philosophie der Freiheit. Es ist kein persönliches Werk. Es ist so entstanden wie ein Organismus. Es ist ein Gedankenorganismus und nur eine Anleitung für das, was man im Rosenkreuzer-Sinne Studium nennt.« 
Dieser Widerspruch zwischen dem Brief aus der Zeit unmittelbar nach der Entstehung der „Philosophie der Freiheit“ und dem später, allerdings lange vor der Neuauflage gehaltenen Vortrag in München hat mich sehr beschäftigt – auch vor dem Hintergrund, daß ich die Briefstelle selbst immer wieder gern zitiert habe.

Hier finde ich die Stelle aus GA 284 ein klein wenig anders, als Christian sie zitiert:
»Für die, welche sich einleben wollen in ein ganz sinnlichkeitsfreies Denken, versuchte ich ein Buch zu schreiben wie das meiner «Philosophie der Freiheit». Es ist kein persönliches Werk. Es ist so entstanden wie ein Organismus: es ist ein Gedankenorganismus, und eine Anleitung für das, was man im Rosenkreuzersinne Studium nennt.«
Christian schreibt »nur eine Anleitung« – was den Eindruck erwecken kann, Steiner hätte seine „Philosophie der Freiheit“ ausschließlich als „Anleitung“ geschrieben, und damit in direktem Widerspruch zu stehen scheint zu seinem »Ich lehrenicht« an Rosa Mayreder.
Ich bin dankbar für diesen kleinen Fehler – denn er macht mich in einer Weise „stutzig“, wie es ohne ihn wohl nicht geschehen wäre. Und durch dieses von einem kleinen Fehler verursachte Innehalten können sich die scheinbar widersprüchlichen Äußerungen Rudolf Steiners in mir neu zusammensetzen:

Die „Philosophie der Freiheit“ ist entstanden wie ein Organismus.
Alles, was darin enthalten ist, hat Rudolf Steiner innerlich erlebt. Persönlich erlebt.
Allerdings nicht auf dem gewöhnlichen»Erlebnisgebiet der Seele«, sondern auf einem besonderen: auf demjenigen, auf dem sich die beiden geschilderten „Wurzelfragen“ entwickeln, und auf dem sich »durch die innere Seelentätigkeit selbst in jedem Augenblicke, in dem der Mensch dessen bedarf, die Frage erneut lebendig beantwortet.«
Der Weg, dieses »Erlebnisgebiet der Seele« zu erreichen, kann (wie jeder erlebte Weg) nur im Persönlichenbeginnen.
Das charakterisierte Erlebnisgebiet selbst aber liegt im Überpersönlichen– es ist »das Seelengebiet […], auf dem das freie [also nicht an Persönlichem haftende, i.h.] Wollen sich entfalten kann«.
Das Entstehen dieses Organismus’ hat Rudolf Steiner also persönlich erlebt.
Indem er von seinem inneren Erleben erzählt, entsteht ein Gedankenorganismus – der nun aber kein persönliches Buch mehr ist: denn das, was Steiner persönlich erlebt hat, ist das Überpersönliche.

Der fertig entwickelte Gedankenorganismus kann nun auch als Anleitung dienen für andere – allerdings nur dann, wenn sie so geartet sind, daß die philosophischen Ideen, in denen Steiner seine Anschauungen damals ausdrückte, sie tiefinnerlich ansprechen.

Rudolf Steiner dazu (unmittelbar anschließend an die oben zitierte Stelle aus GA 284):
»Gewiß machen viele so etwas nicht durch. Für die meisten, die etwas derartiges nicht durchmachen können, genügt schon die einfache theosophische Lehre. […] Theosophie ist selbst Rosenkreuzerstudium, wenn Sie es in richtiger Weise betreiben. Man braucht sich dabei nicht in philosophische Höhen zu verlieren. Die schlichteste Seele kann sich da hinein vertiefen.«

Wenn ich diese Äußerung zusammenhalte mit den folgenden Zeilen aus dem Brief an Mayreder:

»Eine lehrhafte Natur könnte die Sache erweitern. Ich vielleicht auch zu seiner Zeit. Zunächst wollte ich die Biographie einer sich zur Freiheit emporringenden Seele zeigen. Man kann da nichts tun für jene, welche mit einem über Klippen und Abgründe wollen. Man muß selbst sehen, darüberzukommen. Stehenzubleiben und erst anderen klarmachen: wie sie am leichtestendarüberkommen, dazu brennt im Innern zu sehr die Sehnsucht nach dem Ziele. Ich glaube auch, ich wäre gestürzt: hätte ich versucht, die geeigneten Wege sogleich für andere zu suchen. Ich bin meinen gegangen, so gut ichkonnte; hinterher habe ich diesenWeg beschrieben. Wie andere gehen, dafür könnte ich vielleicht hinterher hundert Weisen finden. Zunächst wollte ich von diesen keine zu Papier bringen.«
so scheint es sich mir bereits 1894 anzukündigen, daß es Rudolf Steiner später ein Anliegen sein wird, Wege für andere zu suchen, zu beschreiben, wie andere am leichtestenüber die geschilderten „Klippen und Abgründe“ kommen könnten.

Da ihm wohl schon zur Zeit der Entstehung der „Philosophie der Freiheit“ immer deutlicher wurde, daß viele Menschen »etwas derartiges nicht durchmachen können«, erscheint es mir nicht als „Bruch“, sondern nur konsequent, daß er die Gelegenheit ergriff, als sich ihm ein anderes Umfeld bot, mit anderen Ideen, durch die er seine Anschauungen nunmehr ausdrücken konnte.
Schließlich hatte er schon 1894 geschrieben:
»Eine lehrhafte Natur könnte die Sache erweitern. Ich vielleicht auch zu seiner Zeit.«

=====
Kleiner Anhang:
Kann man denn das Überpersönliche persönlich erleben?
Andererseits:
Kann man überhaupt etwas erleben, ohne es persönlich zu erleben?

Für diese Fragen kann es hilfreich sein, sich den Ursprung des Wortes persona (im antiken griechischen Theater wurde mit diesem Wort die von den Schauspielern verwendete Maske bezeichnet) vor Augen zu halten: per-sonare --- hindurch-tönen.
Es kommt also sehr darauf an, ob der Zuschauer/Leser auf die Maske blickt, oder auf das, was durch sie hindurchtönt...


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