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Der Geruch der Freiheit: Einander schützen, grenzen und grüßen.

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Drei Erlebnisse und eine Vision


Ingrid Haselberger



Erlebnis 1


Wiener Musikverein, Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Chorprobe eines jugendlichen Amateurchores, auf dem Programm: Schuberts große Messe in Es-Dur.

Das Agnus Dei beginnt mit einer Fuge: zuerst die langen Pfundnoten des Basses, dann nimmt der Tenor mit seinem Einsatz das Ende des Themas vorweg; „unser“ Alteinsatz fällt mitten in diese Vorwegnahme, und einige Takte später singen wir ganz dieselbe Melodie wie der Tenor bei seinem ersten Einsatz, während der Sopran die Pfundnoten des Themenbeginns darüberlegt...
Dieser Eindruck ist mir ganz unvergeßlich. Es war meine erste wirkliche Begegnung mit einer Fuge, mit diesem Gefühl, zwar im Grunde „dasselbe“ zu singen wie alle anderen, aber jeweils zu einer anderen Zeit, was das „Behaupten“ der eigene Stimme gegenüber den anderen notwendig macht, aber nicht etwa „feindlich“, sondern in einem grandiosen Miteinander, das erst dadurch vollständig wird, daß keine einzige Stimme sich in die Melodieführung einer anderen „hineinziehen“ läßt.
Die Augen sind beim Dirigenten, der nicht nur das Tempo vorgibt, sondern obendrein versucht, uns deutlich zu machen, welcher Stimme der „Vortritt“ zu lassen ist, weil sie gerade den Themenkopf singt.
Freilich geschieht es, vor allem an schwierigeren Stellen, daß man die anderen Stimmen sicherheitshalber „ausblendet“, gewissermaßen „Scheuklappen“ über die Ohren legt, um sich nicht aus der eigenen Stimme „herausbringen“ zu lassen.
Aber je sicherer ich der eigenen Stimme werde, desto besser gelingt es mir, während des Singens auch den anderen zuzuhören, ohne mich von ihnen „stören“ zu lassen, und immer klarer erkenne ich schließlich selbst, wo das Thema gerade entsteht, und trete auch ohne das Zeichen des Dirigenten mit meiner eigenen Stimme hervor oder zurück, je nachdem, wie es die Musik erfordert.

Was dieser Schilderung fehlt, und was ich auch nicht wirklich in Worten ausdrücken kann, das ist die Freude, das Entzücken, ja: die Seligkeit, die ich damals zum allerersten Mal empfand.
Ich hätte Tag und Nacht nur Fugen singen mögen (Schuberts Es-Dur-Messe hat glücklicherweise auch noch mit einigen anderen, sehr viel komplexeren aufzuwarten) ... und den Kollegen ging es wohl ganz ähnlich. Nur so ist es zu erklären, daß einige von uns sich auf der Heimfahrt von unserer Italientournee (wir sangen Schuberts „Lazarus“ und eben seine Messe in Es-Dur) in einem Zugabteil zusammendrängten, um, ganz ohne Dirigenten und Orchester, noch einmal diese Agnus-Dei-Fuge zu singen...


Erlebnis 2


Shanghai 2001, Chinatournee eines oberösterreichischen Chores und Orchesters, die mich eingeladen haben, die Sopranpartien in Joseph Haydns „Schöpfung“ zu singen.

Ich trete aus dem Hotel und gehe ein paar Schritte. Vor mir eine große Kreuzung zweier Straßen, die ich daheim in Österreich wohl als vier- bis fünfspurig bezeichnet hätte. Hier paßt dieser Begriff nicht, denn es gibt keine „Spuren“: nur sehr selten sieht man ein Auto. Die allermeisten Menschen (es sind unzählige!) sind zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs, und jeder einzelne hat eine andere Richtung eingeschlagen. Es geht kreuz und quer durcheinander…
Mit großen Augen stehe ich eine ganze Weile vor dieser Kreuzung und sehe dem Treiben zu.
Und ich erkenne: Der Weg, den ich gehen will, existiert gar nicht. Es wird ihn erst dann geben, wenn ich ihn gehe…

Schließlich wage ich den ersten Schritt. Es ist gar nicht so schwierig, wie es aussieht – vorausgesetzt, ich bleibe gelassen und bewege mich langsam und kontinuierlich in die gewünschte Richtung. Der Verkehr funktioniert unaufhörlich und reibungslos… allerdings: ängstlicher Stillstand oder auch eine heftige, schnelle Richtungsänderung würden wohl Chaos verursachen.
Keiner sieht den anderen an – ich bemerke schnell: bei so großer körperlicher Nähe (wir streifen manchmal sachte aneinander an) würde das als Bedrohung empfunden. Auch ich senke den Blick. Und so erreiche ich schließlich wohlbehalten mein Ziel auf der anderen Straßenseite…

Auch dieser Schilderung fehlt das Gefühl, das ich damals empfand. Wieder war es Entzücken, „innere Erhebung“, eine unbeschreibliche Freude daran, selbst meinen Weg zu wählen, die einmal eingeschlagene Richtung konsequent fortzusetzen und dabei von anderen, die in ganz anderer Richtung unterwegs sind, selbstverständlich akzeptiert zu werden – ganz ohne „Kampf“, und natürlich auch ohne daß ich selbst die Richtung eines anderen als „störend“, oder gar als „falsch“ oder „feindlich“ wahrgenommen hätte…

Ich habe damals meine geplante Besichtigungstour verschoben und bin stattdessen noch etliche Male in verschiedenen Richtungen und im dichtesten Gewühl hinüber- und wieder herübergegangen, nur um dieses neue Gefühl auszukosten und mir „einzuverleiben“.


Erlebnis 3


Weil am Rhein, Februar 2014, Vitra-Campus.
Es ist herrliches Wetter, und ich habe mich entschlossen, eine Architekturführung mitzumachen.
Im Jahre 1981 hatte ein Brand viele der Produktionsgebäude zerstört, was die Eigentümer zum Anlaß nahmen, sehr unterschiedliche zeitgenössische Architekten mit der Neugestaltung der einzelnen Gebäude zu beauftragen.
Und so stehen hier nicht nur das Vitra Design-Museum von Frank Gehry oder der „Dome“ von Buckminster Fuller, sondern auch ein Feuerwehrhaus von Zaha Hadid, ein Konferenzpavillon von Tadao Ando und mehrere Produktionshallen von verschiedenen herausragenden Architekten. Sogar eine Bushaltestelle und eine Tankstelle sind architektonisch gestaltet (Fotos und Kurzbeschreibungen der einzelnen Gebäude finden sich hier).
Dabei wurde nicht nur Wert darauf gelegt, »die Bauwerke harmonisch in das umliegende Wohngebiet einzufügen und sie mit der Natur im Dreiländereck zu verschmelzen«, wie es auf der website heißt, sondern viele dieser Gebäude nehmen auch direkten Bezug auf ihre „Nachbarn“. Am deutlichsten wird das an der großen und sehr schlichten Produktionshalle von Álvaro Siza: das Brückendach, das sie mit dem angrenzenden Gebäude von Nicholas Grimshaw verbindet, ist so konstruiert, daß es bei Schönwetter den Blick auf das Feuerwehrhaus Zaha Hadids freigibt und sich nur bei Regen automatisch absenkt, um eine trockene Passage zu ermöglichen.

Staunend und mit wachsender Begeisterung gehe ich zwischen diesen originellen und ganz unterschiedlichen Gebäuden umher, die da gewissermaßen „aufeinander Rücksicht nehmen“ – es erfüllt mich mit Freude und Dankbarkeit gegenüber den Auftraggebern, die das ermöglicht, und den Architekten, die diesen Campus gestaltet haben. Und es erfüllt mich auch mit Hoffnung für die Zukunft…


Im Rückblick verschmelzen diese drei Erlebnisse (auch unter dem Eindruck von Michaels Artikel über Francis Lucille und den Geruch der Freiheit– auf den ich daher in meinem Titel Bezug nehme) zu der folgenden Vision:


Vision


Wieder stehe ich an der Straßenkreuzung in Shanghai (in Gedanken; in Wirklichkeit sieht es dort längst ganz anders aus – ein Auto ist inzwischen keine Seltenheit in Shanghai, was sicher Verkehrsregelungen zur Folge hatte…).
Diesmal gehen wir nicht nur, sondern wir singen, während wir gehen – eine mächtige, vielstimmige Fuge.
Und es gelingt uns nicht nur immer besser, die „Scheuklappen“ von unseren Ohren zu nehmen, einander zuzuhören und zu erkennen, wer gerade „das Thema hat“, sondern wir wagen es auch immer öfter, den Blick zu heben und einander in die Augen zu sehen...

Ich denke an Rudolf Steiners Grundmaxime des freien Menschen: »Lebenin der Liebe zum Handeln und Lebenlassenim Verständnisse des fremden Wollens«.
Aber vor allem denke ich an Rainer Maria Rilke und an die Liebe, die wir, wie er an Franz Xaver Kappus schreibt, »ringend und mühsam vorbereiten, [die] Liebe, die darin besteht, daß zwei Einsamkeiten einander schützen, grenzen und grüßen.«
Und mich erfaßt eine große, ernste Freude.


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