Ingrid Haselberger
Ihr Alle, die Ihr uns mithilfe von Zusammenkleisterungen von Fakten, Ängsten, Wünschen und Schlußfolgerungen von bösen Menschen erzählt, die sich im Geheimen zusammengetan haben und als unbekannte „Allesbestimmer“ im Hintergrund die Fäden ziehen, um Europas Staaten zu entvölkern bzw „umzuvolken“ und eine neue, uns alle entrechtende oder auch gleich ganz versklavende Weltordnung einzurichten:
Ich kann nicht beweisen, daß Ihr Unrecht habt.
Ebensowenig wie Ihr beweisen könnt, daß Ihr Recht habt.
Das alles ist ebensowenig „beweisbar“ wie die Existenz von Erzengeln, Zeitgeistern, Widersachermächten und sonstigen „geistigen Wesenheiten“.
Statt also vergeblich nach Beweisen zu suchen, die man ja immer nur im Gewordenen, also in der Vergangenheit, finden kann, entscheide ich mich dafür, in die Zukunft zu blicken.
Dort gibt es freilich keine Beweise. Aber Erweise lassen sich finden – ganz im Sinne von Goethes Ausspruch: »Was fruchtbar ist, allein ist wahr.«
Und so blicke ich auf die Wirkungen des jeweiligen Glaubens – und zwar dort, wo ich sie unmittelbar und zweifelsfrei erkennen kann: in meinem eigenen Inneren.
Wenn ich an eine „Weltverschwörung“ glaube, fühle ich mich irgendwelchen undurchdringlich miteinander vernetzten und ungeheuer mächtigen menschlichen „Allesbestimmern“ hilflos ausgeliefert, sodaß mir nur mehr ohnmächtiger Zorn und/oder wehleidiges Lamentieren bleiben (wie es ja auch in unzähligen postings im Netz zu finden ist).
Wenn ich aber, statt - unbekannte oder auch bekannte -böse Einzelmenschen als Verursacher aller Übel dieser Welt anzunehmen, die Existenz „geistiger Wesenheiten“ anerkenne (gleich, ob ich sie nun „Erzengel“, „Hierarchien“, „Wesen“, „Kräfte“ oder sonstwie nenne; und auch gleich, ob sie „immer schon da waren“, von Gott erschaffen und/oder von Menschen in die Welt gesetzt wurden), die nicht irgendwo „dort draußen“ wirken, sondern in den Seelen jedes einzelnen Menschen, also auch in meiner eigenen Seele – – – dann kann ich mich in jedem Augenblick neu entscheiden, welcher geistigen Macht ich meine eigenen Kräfte zur Verfügung stelle.
Ich denke dabei an Rudolf Steiners „Pfingstspruch“ (aus den „Wahrspruchworten“, GA 40; Hervorhebung I.H.):
Wo Sinneswissen endet,Unter den „Weltenmächten“ verstehe ich in diesem Zusammenhang nicht etwa weltliche Mächte wie die USA, Rußland, große Konzerne (Monsanto!) oder Geheimkonferenzen (Bilderberger!) – denn sie führen ihre Kämpfe dort draußen in der Welt und nicht, wie Steiner sagt,auf der Seele eignen Grunde.
Da stehet erst die Pforte,
Die Lebenswirklichkeiten
Dem Seelensein eröffnet;
Den Schlüssel schafft die Seele,
Wenn sie in sich erstarket
Im Kampf, den Weltenmächte
Auf ihrem eignen Grunde
Mit Menschenkräften führen;
Wenn sie durch sich vertreibet
Den Schlaf, der Wissenskräfte
An ihren Sinnesgrenzen
Mit Geistes-Nacht umhüllet.
Unter den „Weltenmächten“ verstehe ich dahermächtige geistige„Wesenheiten“, sowohl allseits bekannte (Liebe, Haß, Freigebigkeit, Geiz, Sanftmut, Zorn, Gier, Verzichtsfähigkeit, Mut, Angst...) als auch etwas komplexere (Individualitätsbewußtsein,Gruppenzugehörigkeitsgefühle,Streben nach Freiheit um jeden Preis, unveränderliche moralischeÜberzeugungen, schwarz-weiße Vorurteile, differenziertes Wahrnehmen...) --- als auch geistige Wesenheiten, wie Rudolf Steiner sie beschreibt und benennt (Sonnen- und Mondenkräfte, unterschiedliche Erzengel, Zeitgeister, Widersacher...).
Alle diese geistigen Mächte führen ihren Kampf auf dem Grunde der Seele jedes einzelnen Menschen und mithilfe der Kräfte dieser einzelnen Menschen.
Ich denke dabei auch eine Stelle aus Erika Mitterers Roman „Der Fürst der Welt“ (Hervorhebung I.H.):
»Höre, Beatus: Wessen Macht ist größer, die Macht Gottes oder die des Satans? ... Rede nicht gleich. Überlege es gut und warte dort im Erker. Ich rufe dich dann.«
»Hast du deine Antwort bereit, Beatus?«
»Ich glaube schon« sagte Beatus und trat leichtfüßig heran.
»Ich höre, mein Sohn.«
»Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker.«
»In unseren Herzen, Kind. Aber in der Welt, in der großen Schöpfung des Lebens?«
»Verzeiht mir, mein gnädiger Vater!«, sagte Beatus schüchtern, »aber muß es nicht dort genauso sein?«
Und ich denke an die alte Geschichte von dem weisen Indianer, der zu seinem Enkel spricht:
»Weißt du, wie ich mich manchmal fühle? Es ist, als ob da zwei Wölfe in meinem Herzen miteinander kämpfen würden. Einer der beiden ist rachsüchtig, aggressiv und grausam. Der andere hingegen ist liebevoll, sanft und mitfühlend«.
Der Junge fragte: »Welcher der beiden wird den Kampf um dein Herz gewinnen?«
»Der Wolf, den ich füttere«, antwortete der Alte.
* * *
Selbst dann, wenn ich vollkommen überzeugt wäre von der Wahrheit einzelner oder sogar aller Verschwörungstheorien, die derzeit im Umlauf sind – selbst dann würde ich mich vor allem anderen darum kümmern, welchen der „Wölfe“ in meinem eigenen Herzen ich füttere.