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«…das geistige Gestanden-Haben vor dem Mysterium von Golgatha…»

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Muss ich mit meinen Erkenntnissen der geistigen Welt vor der äußern Welt schweigen? 


Jostein Sæther 

Aus einem einfachen Grund bin ich in vielerlei Hinsicht damit einverstanden, dass es in der sogenannten geistigen Welt keine geistigen Wesen gibt. Denn es gibt da keine Engel, keine Erzengel oder andere Geister, weil es da überhaupt keine Substantive gibt. Es gibt nur sozusagen verbale, sich selbst aussprechende oder fortdauernde in Handlung sich befindende Ausdrücke desjenigen, was west, was sich ständig, falls es wesenhaft werden würde, sich allerdings entweset. Dennoch ist es meine Erfahrung, dass meine vielfachen sinnesbefreiten Geist-Erlebnisse so mannigfaltig waren, zumal ich eine vielgestaltige Ausdrucksweise der geistigen Welt so erlebte, dass es derartig unterschiedlich sich selbstverwirklichte. Deshalb ist Folgendes zu berücksichtigen: In einem abklingenden Geist-Erleben sind der einzelne und die mehreren Engel gerade da gewesen! Bald aber sind sie von meinem Ich fortgegangen, aber ihr besiegelnden Niederschlag in meinem verformbaren Wesen sind so, dass die «Fußspuren» der geistigen Wesen im meiner «Seelenwüste» für immer bleiben. 

Es ist nicht nur, dass es in der geistigen Welt keine Substantive gibt, auch gewisse Pronomen gibt es hier nicht. Es gibt eigentlich nur ein Pronomen: Ich. Vorausgesetzt – also vor dem Geist-Erleben – kann dies zur Illusion, zur falschen Auslegung führen, dass es nur ein All-Ich gebe, wie es z. B. in der integralen Philosophie ausgelegt wird. Es gibt nach meiner Erkenntnis das geistig vielfältige Verb «sich ichen», das gleichzeitig ein Aufgeben des eigenen ist zwecks der Dienstwilligkeit für den anderen, für ein Du, das es irgendwie auch nicht gibt, sondern nur wird gegeben haben. Nach solchem «Erkenntnis-Erscheinung» (Rudolf Steiners Begriff; siehe weiter unten) wird der Initiierte versuchen, das Pronomen «man» in der Umgangssprache überwiegend zu vermeiden. Warum Steiner trotzdem es so viel benutzte, ist für mich aus oben genanntem Grund ein Rätsel. 

Die Art meines erneuten meditativen Geist-Erlebens eines Engels war immerhin ganz anders als das Erleben von physischen Sinnesempfindungen, Körperempfindungen oder Erinnerungen, ja sogar anders als das Empfinden eines Denkprozesses. Im von Raum- und Zeitempfinden befreiten Erleben suchte mich ein Wesen auf, dass so intuitiv und rasch alles aufnahm, was ich fragen oder tun wollte, dass es bei ihm immer um eine Art Voraussein handelte. Ich erlebte, dass sein In-mir-denken schon bei der Antwort angekommen war, ehe ich eine Frage zu stellen vermochte. Diese Umkehrung der Verhältnisse habe ich zwar im Normalbewusstsein vorher gedacht, damit ich für dieses Paradox vorbereitet war, aber dafür passte im Nachhinein wiederum kein Begriff aus meinem ziemlich großen Vokabular als ausübender mehrerer germanischen Sprachen. Ich musste den geistigen Widerspruch zuerst erleben, um neue Begriffe dafür bilden zu wollen. 

Ein Begriff dafür ist Zurückwandlung (Steiner; siehe unten). Ein anderer ist das Norwegische omkalfatring (Umkalfatern – von: Kalfatern, auch: Kalfaten – von arabisch: kafr; «Asphalt» und: kalafa). Kalfatern ist eine Verrichtung beim Schiffsbau, bei der die Nähte zwischen Holzschiffsplanken mit Werg, Stofffasern oder Baumwolle und Holzteer, Pech oder Gummi abgedichtet werden. Es ist, als ob das andere Wesen in meinem Wesen eine Abdichtung vornimmt, die aber nicht zumacht, sondern mich mehr durchlässig für geistiges Erleben und geistige Eindrücke macht. Also ist ein reales Geist-Erleben eine Umkehrung gegenüber jedem Erleben im physischen Raum und keines desgleichen wie normal. Dementsprechend können eigentlich keine gebräuchlichen Begriffe verwendet werden für die geistigen Erfahrungen, die wir heute machen, sondern sie müssen für jedes individuelles Geist-Erleben neu gebildet werden. 

Das von vielen Menschen gewünschte oder rechtfertigte Schweigen in Zusammenhang mit geistigem Erleben kann ich nachvollziehen. Gewiss besteht die Gefahr immer, dass das geistig Erlebte von einem Selbst durch die sprachliche Substantivierung und Veräußerlichung zugedeckt wird, sodass nur noch ein blasser Schatten davon übrigbleibt. Nichtsdestotrotz hat Steiner und andere angefangen, ihre Geist-Erfahrungen zu kommunizieren. Diese Verständigung mit anderen Menschen ist die Voraussetzung für Anthroposophie in der Welt. Sollten wir also alles auf das Schweigen beruhen lassen, verschwände die selbsterlebte Weisheit wieder von der historischen Fläche. Dieweil einmal in mir dermaßen geistig geschwiegen wurde, erlebte ich, dass mein mikrokosmisches Schweigen etwas anderes ist, als das, was ein makrokosmisches Wesen des Schweigens in mir schwieg. Daraus kann ich sagen, dass wir dazu berufen sind, Zeugen des Unsagbaren zu werden. 

Eine beherzte Haltung des Bezeugens kann nun auf alles, was Rudolf Steiner kommuniziert hat, verwendet werden. Am heutigen Karfreitag – mit dem 3. April laut ihm können wir sogar eine Wiederholung des ursprünglichen Datums der Kreuzigung erleben – eines Geist-Erinnerns an das Mysterium von Golgatha ist es infolgedessen angemessen, sich seine folgenden gedruckten autobiographischen Worte aus dem Jahr 1925 zu verinnerlichen: 

«In der Zeit, in der ich die dem Wort-Inhalt nach Späterem so widersprechenden Aussprüche über das Christentum tat, war es auch, daß dessen wahrer Inhalt in mir begann, keimhaft vor meiner Seele als innere Erkenntnis-Erscheinung sich zu entfalten. Um die Wende des Jahrhunderts wurde der Keim immer mehr entfaltet. Vor dieser Jahrhundertwende stand die geschilderte Prüfung der Seele. Auf das geistige Gestanden-Haben vor dem Mysterium von Golgatha in innerster ernstester Erkenntnis-Feier kam es bei meiner Seelen-Entwickelung an.» (Rudolf Steiner: Mein Lebensgang. GA 28. Kapitel XXVI. Seite 366.) 

Steiners Begriff «geistiges Gestanden-Haben» kann mit dem Begriff «Zurückwandlung» verglichen werden. Letzteres stammt aus dem Karmavortrag vom 15. Juni 1924 in Breslau. Er schildert darin die Art wie jemand erkennt, dass er ein früheres Erdenleben hatte. Der sich Erinnernde «wird sich selber gegenwärtig in dem Verlaufe der früheren Erdenleben», denn «er schaut da nicht nur hinein, sondern er schaut sich in seinem ganzen Wesen zurück». Die Fortsetzung der Beschreibung dieses von seinem früheren Ich eingeprägten Vergegenwärtigens, lautet wie folgt: 

«Es ist nicht ein abstrakt-erkenntnismäßiges Hineinschauen, es ist eine Zurückwandlung, ein Einssein, ein Identischwerden mit demjenigen, was man war. Es wird sehr lebendig das Innere, sehr bewegt und erregt, wenn man da zurückkommt in die früheren Erdenleben.» (Rudolf Steiner: Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge. Band V. GA 239. Dornach 1963. Seite 259ff.) 

Rudolf Steiners Aussage vom Gestanden-Haben muss nicht zwangsweise bedeuten, dass er sich hier in einem früheren Inkarnation von sich selbst zurückgewandelt erlebt, dass er also mehr als hineingeschaut hatte in einem eigenen Leben zurzeit des Golgathamysteriums, sondern es kann um eine entsprechende Erkenntnis-Erscheinung durch die Beteiligung eines geistigen Wesens, eines Engels oder eines Verstorbenen gehandelt haben, sodass er den Ort des Geschehens in Palästina nur geistig besucht hat. Deshalb wird nur ein fortgeführtes Forschen auf geistigem Gebiet eine Klärung schaffen, wofür dieser ganz neue Begriff gewählt worden ist. Solche Erkenntnisforschung und deren freigegebenen Erweise werden sowohl das denkbare Schweigen der Welt darüber und die vermutliche Lust des philologischen Auseinanderpflückens standhalten müssen, um weiter kommunizierbar zu bleiben, für die, die selbst geistig erleben, geistig erscheinenlassen und geistig forschen wollen. 


Illustration: 
Cornelius Brown (1852 - 1907): Dachma im indischen Bombay. Radierung von 1886. Der Begriff Dachma (persisch ‏دخمه‎, DMG: daḫme) bedeutet Grabmal, bezeichnet aber besonders Bauwerke, die Türme des Schweigens genannt werden und den Zoroastriern als Stätten für Himmelsbestattungen dienen. Online-Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Dachma

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