Elsbeth Weymann
Deutsche Flüchtlinge 1945
Flüchtlinge 2015, auf dem Weg nach Deutschland
Bis Ende des Jahres erwartet die deutsche Bundesregierung nach eigenen Angaben 800.000 Flüchtlinge. Hass, dumpf-düstere Parolen, brennende Flüchtlingsunterkünfte auf der einen Seite. Aber auch eine Welle überwältigender Hilfsbereitschaft der Bürger, die praktisch, effektiv, kreativ und menschenzugewandt Willkommensbündnissemit ehrenamtlichen Helfern organisieren.
Seit einiger Zeit arbeite ich mit in der Flüchtlingsunterkunft Berlin Goerzallee.
Bis Ende des Jahres erwartet die deutsche Bundesregierung nach eigenen Angaben 800.000 Flüchtlinge. Hass, dumpf-düstere Parolen, brennende Flüchtlingsunterkünfte auf der einen Seite. Aber auch eine Welle überwältigender Hilfsbereitschaft der Bürger, die praktisch, effektiv, kreativ und menschenzugewandt Willkommensbündnissemit ehrenamtlichen Helfern organisieren.
Seit einiger Zeit arbeite ich mit in der Flüchtlingsunterkunft Berlin Goerzallee.
Ein nicht gerade einladender Bau aus den Siebziger Jahren, im schmutzigen Gelbton. Dort leben etwas über 200 Flüchtlinge, aus dem Balkan, aber vorwiegend aus Syrien, Irak, Eritrea, Somalia. Für die Letzteren besteht echte Hoffnung auf Asyl. Das Willkommensbündnis Zehlendorf-Steglitzbietet vor Ort mit vielen Ehrenamtlichen Deutschkurse an, an denen ich mich beteilige.
Ein riesengroßer Kasten von Haus, eiserne Tore, wartende Menschen überall. Immer wieder werde ich freundlich auf Deutsch (!) begrüßt. Ich warte auf die Frau mit dem Schlüssel für den Unterrichtsraum. Im Hof scharen sich einige junge Männer um ein kaputtes Fahrrad. Lautstark gibt es in verschiedenen Sprachen Ideen für die Reparatur. Und man probiert herum. Endlich gibt es etwas zu tun! Eine junge Eritreerin mit ihrem Säugling auf dem Arm schaut lächelnd zu. Der Kleine blickt mit großen schwarzen Augen um sich, kann sein Köpfchen noch kaum selber halten. Im Kindergarten, ein Raum vollgestopft mit gespendeten Sachen, kommen die ersten Kinder an. Ein Junge rennt mit ausgebreiteten Armen auf die Kindergärtnerin zu und lässt sich herumwirbeln. Sie erzählt mir, dass die Vier-bis Fünfjährigen in ein paar Tagen schon soviel Deutsch aufschnappen, dass sie für ihre Mütter übersetzen können.
Der ziemlich kleine Raum für den Deutschunterricht füllt sich. In fünf Gruppen wird gleichzeitig unterrichtet. Das heißt: Konzentration pur! Die Phonetiklehrerin geht mit ihrer Gruppe ins Freie. Ihre sehr notwendigen Sprechübungen sind einfach zu laut.
Ich habe zwei Syrerinnen zugeteilt bekommen. Beide von Kopf bis Fuß in Mantel und Kopftuch gehüllt. Nur Gesicht und Hände sind frei (bei über 30 Grad Hitze!). Sie können beide lesen und schreiben (das ist in diesem Kontext überhaupt keine Selbstverständlichkeit) – aber nur Arabisch. Beide verstehen kein Wort Deutsch oder Englisch. Da heißt es Ideen haben!
Erst einmal ist das Alphabet dran. Im Internet fand ich eine Liste, in der unsere lateinischen Buchstaben und deren Lautung den arabischen gegenübergestellt werden. So können wir beginnen. Schreiben, schreiben, nachsprechen. Vom Benennen der Buchstaben bis zum Lesen ist dann der nächste Schritt zu nehmen. Es geht gut voran. Für jeden Buchstaben lasse ich den (soweit möglich) entsprechenden auf Arabisch schreiben – und probiere es dann selber. So gibt es immer wieder herzliches Lachen. Das Lernen ist ein Miteinander und macht viel Freude. Sie strahlen, wenn ich am Morgen sie mit dem von ihnen gelernten Gruß auf Arabisch begrüße. Ein Bilderlexikon, in das man, nach Sachgruppen geordnet, die entsprechenden Wörter auf Deutsch eintragen muss, wird für uns zu einem kleinen deutsch-arabischen Glossar. Helles Lachen bei dem Bild für: Sofa. Tatsächlich ein Wort, das in beiden Sprachen völlig identisch ist!
Rana ist gemeinsam mit ihren beiden erwachsenen Söhnen geflüchtet. Durch viele Länder. Sie schaut mit wissenden, wachen Augen und „liest“ Menschen und Situationen. Beiden Frauen spürt man Verlust, Entbehrung, Unsicherheit, Angst, Heimweh – alle die extremen Erfahrungen der monate-manchmal jahrelangen Flucht an.
Dann kommen Albaner zum Unterricht. Vier Personen, zwei Ehepaare, deren Kinder hier bereits eingeschult sind. Alle vier sind Handwerker. Eigentlich sind sie es, die Deutschland dringend braucht, wie man vielfach lesen kann. Aber nach dem verschärften Asylgesetz gilt Albanien als „ sicheres“ Herkunftsland. Niemand weiß also, ob alle vier mit ihren zusammen fünf Kindern demnächst abgeschoben werden. Wir unterrichten trotzdem. Die Albanergruppe arbeitet rasch, engagiert und hoch motiviert. Ich lerne einiges über den Winter in Nordalbanien – Schnee in Mannshöhe (!) und beißende Kälte.
Wir verständigen uns in einem Sprachengemisch aus Deutsch, ein wenig Englisch und etwas Neugriechisch. Der wichtigste albanische Dichter der Gegenwart sei Ismael Kadare, lerne ich. Dessen bewegende „Chronik in Stein“, die ich daraufhin lese, schildert den Zweiten Weltkrieg in einem albanischen Bergdorf, aus der Wahrnehmungsperspektive eines zehnjährigen Kindes. Bei meiner Erwähnung des albanischen FürstenSkanderbeg(1405-1468) der auch außerhalb Albaniens bekannt ist, strahlen alle. Skanderbeg gilt als ihr albanischer Nationalheld. Ich ahne, was es bedeutet, eine Identifikationsfigur für das Empfinden des eigenen Volkes zu haben.
Eine Woche später steht frierend ein kleiner Syrer vor dem Unterrichtsraum. Er bittet mich in gutem Englisch, Deutsch lernen zu dürfen. Da in Deutschland alle schulpflichtigen Kinder sofort eingeschult werden müssen, wundere ich mich, ihn hier zu treffen. Er ist eben erst mit seiner Mutter in der Flüchtlingsunterkunft eingetroffen. Die Formalitäten bis zum Schulbesuch sind noch nicht abgeschlossen. Aber er will lernen! Er zeigt mir sein Heft: säuberlich deutsch geschriebene Wörter. Daneben hat er in schöner Schrift jeweils die Übersetzung auf Arabisch eingetragen.
Da Nizar mit seiner Mutter zwischenzeitlich schon ein Jahr in Schweden gelebt hat, spricht er auch Schwedisch. Drei Sprachen also, mit 11 Jahren. Nun wird die vierte hinzukommen. Tief berührt hat mich dieser wache, wissende Blick, der ahnen lässt, was Nizar bereits schon wahrgenommen, erfahren und durchlebt hat. Aber es ist auch noch das wissbegierige und lebenshungrige Kind in diesem Blick anwesend, aus dem ein Leuchten aufscheint bei seinen Worten: „I want to learn, please!“
Den Flüchtlingen durch Offenheit und menschliche Zuwendung ein wenig die Möglichkeit zu geben, wieder Vertrauen in ein tief erschüttertes Leben aufzubauen, das ist der Wille aller hier arbeitenden Ehrenamtlichen.
Elsbeth Weymann,
Berlin, August - Oktober 2015
Berlin, August - Oktober 2015