Ingrid Haselberger
Inmitten der Apokalypse now, die wir derzeit erleben, habe ich in den letzten Wochen in Wien einige großartige Aufführungen zeitgenössischen Musiktheaters erlebt. Eine bewegende Eurythmieaufführung fügte sich gestern in mir mit diesen Erlebnissen zu einem Ganzen.
Zunächst Textausschnitte aus zwei Opern (man könnte den Eindruck gewinnen, wir seien dazu verurteilt, die Geschichte immer und immer wieder zu wiederholen...):
Der in Wien geborene Ernst Krenek emigrierte 1938, nach dem Anschluß Österreich an das nationalsozialistische Deutschland, in die USA. Seine Oper Pallas Athene weint spielt zur Zeit des Peloponnesischen Krieges. Im demokratischen Athen treffen drei Schüler des Sokrates aufeinander: der skrupellose Populist und glänzende Feldherr, der geschickte Intrigant und der naive Pazifist. Jeder der drei interpretiert (man könnte auch sagen: mißdeutet) die empfangenen Lehren auf seine Weise... und die Bürger Athens sind »knetbar, auf ihren Gefühlen wird gespielt wie auf einer Harfe«.
Der Untergang Athens ist unvermeidlich, die geistige Gegenwartsnähe unheimlich (die Oper entstand 1955, zehn Jahre nach dem 2. Weltkrieg und gegen Ende der McCarthy-Ära), damals wie heute...
PALLAS ATHENE WEINT (1955)
Text und Musik von Ernst Krenek
Ende des 1. Aktes:
Dialog zwischen Sokrates und Agis, dem König von Sparta, der ihn höhnisch auffordert, ihn seine berühmte Weisheit zu lehren:
STAATSOPERETTE – DIE AUSTROTRAGÖDIE
Text und Musik: Otto M Zykan
(1977 Film von Franz Novotny;
2015 Bühnenfassung von Michael Mautner und Irene Suchy)
* * *
Ich fühle mich in den Kosmos hinausgetragen: die Planeten selbst sind es, die schreien, ausweglos, in alle Ewigkeit...
Es folgt eine Szene, die mich an den „Prolog im Himmel“ aus Goethes Faust denken läßt:
Der Satan wettet mit dem Christus: wird Judas dem Satan die Treue halten, selbst wenn dieser ihn einige Zeit lang auf Erden so weit losläßt, daß er dem Christus folgen kann?
Gethsemane: Der einsame Christus von Christian Morgenstern.
Verrat des Judas und Jesu Gefangennahme.
Judas allein. Der Versucher (Luzifer) tritt an ihn heran und verspricht ihm alle Reiche dieser Erde– da erst begreift Judas Christi Wort: Mein Reich ist nicht von dieser Welt - - - sein Gewissen erwacht, seine Verzweiflung ist groß.
Im Kosmos spottet der Satan zunächst des auferstandenen Christus:
Als Judas schließlich erscheint, schweigt er.
Da ruft der Satan aus (wieder aus Thornton Wilders „Hast du nicht achtgehabt auf meinen Knecht Hiob?“):
Nach der eurythmischen Dramatisierung der von Ursula Ostermai und Rüdiger Fischer-Dorp eindringlich gestalteten Texte erklang die 10. Klaviersonate von Alexander Skriabin.
Für mich schließt sich damit der Bogen zum Beginn mit den schreienden Planeten:
Wieder fühle ich mich in den Kosmos hinausversetzt.
Doch nun „schreien“ die Planeten nicht mehr – sie bewegen sich in einer unbeschreiblichen „Himmelsharmonie“, die nicht nur in der Musik und in den Bewegungen auf der Bühne, sondern nun auch in meinem Herzen waltet.
Besonders berührt es mich, daß die Darsteller des Judas, des Satan und des Christus nun Teil des Eurythmie-Ensembles sind. Sie haben sich von den Persönlichkeiten, in denen sie in erdgebundenen Zusammenhängen verkörpert waren, gelöst – und mir wird bewußt, wie sie alle mitgewirkt haben an der großen Aufgabe der Verwandlung. Die Erde allein ist der Ort, an dem diese Verwandlung geschehen kann!
Und ich fühle, daß ich nicht nur Judas, sondern auch den Satan und den Christus in mir trage. Meine eigene Seele ist der Ort, an dem diese Mächte im Kampf miteinander liegen...
Und ich denke – wieder – an die Worte, mit denen Konrad Paul Liessmann seine Rede zur Eröffnung der diesjährigen Salzburger Festspiele geschlossen hat:
Inmitten der Apokalypse now, die wir derzeit erleben, habe ich in den letzten Wochen in Wien einige großartige Aufführungen zeitgenössischen Musiktheaters erlebt. Eine bewegende Eurythmieaufführung fügte sich gestern in mir mit diesen Erlebnissen zu einem Ganzen.
Zunächst Textausschnitte aus zwei Opern (man könnte den Eindruck gewinnen, wir seien dazu verurteilt, die Geschichte immer und immer wieder zu wiederholen...):
Der Untergang Athens ist unvermeidlich, die geistige Gegenwartsnähe unheimlich (die Oper entstand 1955, zehn Jahre nach dem 2. Weltkrieg und gegen Ende der McCarthy-Ära), damals wie heute...
PALLAS ATHENE WEINT (1955)
Text und Musik von Ernst Krenek
Ende des 1. Aktes:
Sokrates:Mitte des 2. Aktes:
In Freiheit entzweit – sind wir machtlos.
In Zwang geeint – sind wir sinnlos.
Sinn ohne Zwang – wann scheint dein Licht durch unsere Nacht?
Dialog zwischen Sokrates und Agis, dem König von Sparta, der ihn höhnisch auffordert, ihn seine berühmte Weisheit zu lehren:
S: Ich kann dich nicht belehren, Freund, denn alles, was ich weiß, ist, daß ich nichts weiß.
A: Hoho! So tiefe Weisheit kann ich mir nicht gestatten: mir genügt, daß ich weiß, was der Welt nottut.
S: So lehre mich, was der Welt nottut.
A: Ordnung, vor allem Ordnung.
S: Und warum, o Freund, muß Ordnung sein?
A: Ordnung muß sein, damit Friede sei.
S: Und warum führst du dann Krieg?
A: Um Ordnung zu schaffen.
S: Du schaffst nicht Ordnung, nur Gefahr.
A: Gefahr macht stark.
S: Gefahr schafft Angst.
A: Wer Angst hat, hält Ordnung.
* * *
Der Fernsehfilm Staatsoperette von Otto M. Zykan und Franz Novotny verursachte Ende Oktober 1977 einen handfesten Skandal – Bombendrohung gegen den ORF inklusive. Das Thema: Der Austrofaschismus der 30er Jahre (Bundeskanzler Prälat Ignaz Seipel) – die österreichische Zwischenkriegszeit bis zum „Anschluß“.
In der bald vierzig Jahre danach realisierten Bühnenfassung agierten die Darsteller sowohl als Singschauspieler als auch als Puppenspieler (Puppen: Nikolaus Habjan). Und jedesmal, wenn die Puppe in den Vordergrund trat, hatte man den Eindruck: jetzt erst zeigt der jeweilige Politiker sein wahres Gesicht...
Eingerahmt wird das Geschehen von zwei Frauengestalten aus dem Volk, die jeweils die Ansichten und Sorgen der „Rechten“ und der „Linken“ ins Spiel bringen.
Beklemmend, erschreckend... auch, weil die Darsteller einige Gelegenheit zum Extemporieren haben...
Skandal? Nicht die Spur. So katholisch ist Österreich längst nicht mehr
(in der an die Ausstrahlung des Fernsehfilms anschließenden Club2-Diskussion fiel damals der Satz: »Es wäre niemals möglich in einem mohammedanischen Land, mit Zitaten des Herrn Mohammed, bitte, eine Staatsoperette zu machen!«).
Nachdenkliche Gesichter, begeisterter Applaus – und danach geht man wohl zur Tagesordnung über...
In der bald vierzig Jahre danach realisierten Bühnenfassung agierten die Darsteller sowohl als Singschauspieler als auch als Puppenspieler (Puppen: Nikolaus Habjan). Und jedesmal, wenn die Puppe in den Vordergrund trat, hatte man den Eindruck: jetzt erst zeigt der jeweilige Politiker sein wahres Gesicht...
Eingerahmt wird das Geschehen von zwei Frauengestalten aus dem Volk, die jeweils die Ansichten und Sorgen der „Rechten“ und der „Linken“ ins Spiel bringen.
Beklemmend, erschreckend... auch, weil die Darsteller einige Gelegenheit zum Extemporieren haben...
Skandal? Nicht die Spur. So katholisch ist Österreich längst nicht mehr
(in der an die Ausstrahlung des Fernsehfilms anschließenden Club2-Diskussion fiel damals der Satz: »Es wäre niemals möglich in einem mohammedanischen Land, mit Zitaten des Herrn Mohammed, bitte, eine Staatsoperette zu machen!«).
Nachdenkliche Gesichter, begeisterter Applaus – und danach geht man wohl zur Tagesordnung über...
Text und Musik: Otto M Zykan
(1977 Film von Franz Novotny;
2015 Bühnenfassung von Michael Mautner und Irene Suchy)
EPILOGDuett mit ChorDIE LINKE:Heut, sagen manche Leut, wär's Zeit, beieinander z'stehn,denn wenn's so weitergeht, sag'n manche Leut,könnt die Welt dabei untergehn, könnt dabei untergehn.Heut, sag'n manche Leut, wird sich's zeigen,wohin ma wollen,denn wenn's so weitergeht, sag'n manche Leut,könnt uns morgen schon der Teufel hol'n,könnt uns der Teufel hol'n.Dann ist's sicher z'spät.Wenn euch die Reu'überkommt,dann könnts euch hamdrahn,dann wird's euch owezahn,hauts eure Schädeln nur ein,'s wird sicher net schad drum sein.DIE RECHTE:Sah ein Knab ein Röslein stehnRöslein auf der HeidenWar so jung und morgenschönLief er schnell, es anzusehnRöslein, Röslein, Röslein rot.ENTFERNTE STIMMEN (Chor):Wir beherrschen,wir besiegen alles, alles in der Welt.Für das Vaterland, für das Vaterland.Für unser Vaterland.DIE LINKE:Denn wenn's so weitergeht, sag'n manche Leut,ist der Gspaß vorbei, kommt a böse Zeit,die sicher niemand freut.(mit Hall)
ROT-WEISS-ROT BIS IN DEN TOD??DIE LINKE UND DIE RECHTE:
Röslein auf der HeidenENTFERNTE STIMMEN:
sind wir alle heut entbrannt.
ENDE
* * *
Mein schmerzlicher Eindruck nach diesen Aufführungen, in Zusammenhang mit den tagesaktuellen Nachrichten: es kann sein, daß uns noch eine ganze Weile lang nichts anderes übrigbleiben wird, als dabei zuzusehen (und mitzuwirken!), wie die Geschichte sich wiederholt... und gleichzeitig bin ich froh, in einer Zeit zu leben, in der solche Opern entstehen und aufgeführt werden!
Gestern nun gastierte das Stuttgarter Else-Klink-Ensemble in Wien, mit einer dramatischen Eurythmie-Komposition zum Thema Verrat und Gewissen.
DAS RÄTSEL DES JUDAS
Künstlerische Leitung: Benedikt Zweifel
Im Programmheft heißt es:
Unser aktuelles Programm kann besonders in der gegenwärtigen Weltlage als eine existentielle Frage erlebt werden, als eine, die uns alle betrifft: Judas der Verräter. Im Grunde genommen lebt heute Judas in uns allen. Judas ist der heutige Mensch. Wir werden täglich zum Verräter an unserer Umwelt, an unseren Mitmenschen, an uns selbst.Verrat entsteht durch Gewissenlosigkeit. Die Erweckung des Gewissens in uns ist die Heilung des Judas!Die – wie aus einem Guß wirkende – eurythmisierte Collage aus Texten und Musik beginnt mit Musik von Isabella Arazian und Maria Pitea und dem Gedicht Landschaft aus Schreien von Nelly Sachs.
Ich fühle mich in den Kosmos hinausgetragen: die Planeten selbst sind es, die schreien, ausweglos, in alle Ewigkeit...
Es folgt eine Szene, die mich an den „Prolog im Himmel“ aus Goethes Faust denken läßt:
Der Satan wettet mit dem Christus: wird Judas dem Satan die Treue halten, selbst wenn dieser ihn einige Zeit lang auf Erden so weit losläßt, daß er dem Christus folgen kann?
Gethsemane: Der einsame Christus von Christian Morgenstern.
Verrat des Judas und Jesu Gefangennahme.
Judas allein. Der Versucher (Luzifer) tritt an ihn heran und verspricht ihm alle Reiche dieser Erde– da erst begreift Judas Christi Wort: Mein Reich ist nicht von dieser Welt - - - sein Gewissen erwacht, seine Verzweiflung ist groß.
Im Kosmos spottet der Satan zunächst des auferstandenen Christus:
Ich habe meinen Feind überschätzt. Lerne denn abermals, Himmelsfürst: Wäre mir verstattet, in eigener Person zur Erde zurückzukehren, nicht auf dreißig Jahre, sondern auf dreißig Stunden– ich machte alle Menschen mir anhangen, und alle Versuchungen des Himmels könnten auch nicht einen einzigen bewegen, mich zu verraten...Doch Judas bleibt aus, der Satan wird ungeduldig und unsicher...
Als Judas schließlich erscheint, schweigt er.
Da ruft der Satan aus (wieder aus Thornton Wilders „Hast du nicht achtgehabt auf meinen Knecht Hiob?“):
Was haben sie dir getan, mein vielgeliebter Sohn? Welche letzte, armselige Rache haben sie an dir versucht? Komm zu mir! Hier ist Trost für dich. Hier kann all diese Gewalttätigkeit wiedergutgemacht werden. Der vergebliche Haß des Himmels kann dich hier nicht erreichen. - Aber warum sprichst du nicht zu mir? Mein Sohn, mein Kleinod!Doch als Judas schließlich Worte findet, ist es ein Fluch, den er gegen den Satan schleudert... und der Satan muß weichen.
Nach der eurythmischen Dramatisierung der von Ursula Ostermai und Rüdiger Fischer-Dorp eindringlich gestalteten Texte erklang die 10. Klaviersonate von Alexander Skriabin.
Für mich schließt sich damit der Bogen zum Beginn mit den schreienden Planeten:
Wieder fühle ich mich in den Kosmos hinausversetzt.
Doch nun „schreien“ die Planeten nicht mehr – sie bewegen sich in einer unbeschreiblichen „Himmelsharmonie“, die nicht nur in der Musik und in den Bewegungen auf der Bühne, sondern nun auch in meinem Herzen waltet.
Besonders berührt es mich, daß die Darsteller des Judas, des Satan und des Christus nun Teil des Eurythmie-Ensembles sind. Sie haben sich von den Persönlichkeiten, in denen sie in erdgebundenen Zusammenhängen verkörpert waren, gelöst – und mir wird bewußt, wie sie alle mitgewirkt haben an der großen Aufgabe der Verwandlung. Die Erde allein ist der Ort, an dem diese Verwandlung geschehen kann!
Und ich fühle, daß ich nicht nur Judas, sondern auch den Satan und den Christus in mir trage. Meine eigene Seele ist der Ort, an dem diese Mächte im Kampf miteinander liegen...
Und ich denke – wieder – an die Worte, mit denen Konrad Paul Liessmann seine Rede zur Eröffnung der diesjährigen Salzburger Festspiele geschlossen hat:
Vielleicht leben wir in den kostbaren Augenblicken, da wir solch einem Gelingen beiwohnen dürfen, vielleicht sogar dazu etwas beitragen können, nicht wie Götter; aber wir leben – endlich – einmal so, wie Menschen leben sollten.
Und mehr bedarf's nicht.