Über den ersten Teil der spirituellen Autobiographie Judith von Halles
Ingrid Haselberger
Wie schon an anderer Stelle erwähnt, machte ich mich letztes Jahr am Michaeli-Abend auf zur Schreinerei am Blumenweg, um dabeizusein bei der Präsentation von Judith von Halles neu erschienenem Buch Schwanenflügel, dem ersten Teil ihrer »spirituellen Autobiographie«.
* * *
Der Saal ist sehr voll (ich sehe auch einige bekannte Gesichter – ich bin also nicht die einzige, die sich entschlossen hat, auf die Eurythmieaufführung im Rahmen der Weltkonferenz am Goetheanum zu verzichten). Älteren, gehbehinderten Menschen, die erst knapp vor Beginn kommen, werden von früher Gekommenen Sitzplätze angeboten, und Judith von Halle selbst sorgt dafür, daß jemand, von dessen Schwerhörigkeit sie weiß, weiter vorne zu sitzen kommt.
Die Stimmung ist ruhig und freundlich, sachlich und konzentriert – ein gewisser Gegensatz zur lebhafteren, enthusiastischen Stimmung der Weltkonferenz.
Zu Beginn hält Joseph Morel eine kleine Begrüßungsansprache.
Er erklärt, warum dieses Buch in derEdition Morel erschienen ist und nicht direkt im Verlag für Anthroposophie: man habe einen falschen Eindruck vermeiden wollen, denn das Buch habe Judith von Halles innere Erlebnisse vor ihrer Begegnung mit der Anthroposophie zum Inhalt. Es finden sich daher in diesem Buch keine anthroposophischen Begriffe, sondern Schilderungen ihrer Erlebnisse mit Bezeichnungen in ihrer damaligen kindlichen Sprache.
Nach dieser kurzen Einführung erklingt Mozarts Adagio für Glasharmonika, gespielt von Johann Sonnleitnerauf dem Cembalo.
Danach ergreift Judith von Halle selbst das Wort.
Sie beginnt mit einem Dank an Rudolf Steiner – dafür, »daß er die Begriffe hervorgebracht hat.«
Ihr Buch sei »bewußt voraussetzungslos geschrieben«, und sie hoffe, es werde ein Zugang sein auch für Nicht-Anthroposophen. Es gehe ihr darum, »das eine oder andere Herz zu gewinnen für die geistige Welt.«
Und sie fügt ausdrücklich hinzu: »Es ist kein Buch, das Anthroposophen nötig haben.«
Bevor sie einige Stellen aus ihrem Buch liest, erklärt sie noch:
»Ich möchte lieber nichts Spektakuläres isoliert darstellen, das wäre gegen das Anliegen. Also werde ich nicht die interessantesten Stellen lesen.«
Dann liest sie: von ihrem plötzlichen »Erwachen« im irdischen Leib-Bewußtsein (im Alter von zweieinhalb Jahren, im Wohnzimmer ihrer Großeltern), und von ihrem Empfinden ab diesem Zeitpunkt, daß es zwei Arten von Bewußtsein gebe:
»[Ich erinnere mich], wie ich nach jenem Moment meines Erwachens mit einiger Verwunderung darüber nachsann, wo ich denn vorhergewesen war – also während jener Zeit, da mein kleiner Leib schon auf Erden existiert hatte […]. Wie war dieser Leib, in dem ich nun erwacht war, überhaupt hierhergekommen? Wer oder was hatte ihn vorher «funktionieren» lassen? Und vor allem: wo war ichdabei bloß gewesen?[…] [Es war] für mich evident – auf eine vollkommen «natürliche» Weise – dass es zwei Arten von Bewusstsein geben muss: EinBewusstsein, das mich wach im Leib werden ließ; dieses war aber nicht in der Lage, zu wissen oder zu erinnern, wer ich eigentlich war und woher ich kam; stattdessen war es dazu tauglich, jetzt ganz wach in diesem kleinen Erdenleib zu sein. […]
Und dann gab es das andere Bewusstein, und dieses andere Bewusstsein wusste, wer ich war und woher ich kam. Das wusste alles. Mit ihm könnte ich mich auch vollständig erinnern. Denn dieses andere Bewusstein war ich selbst. Mein volles Ganzes sozusagen.
Ich begriff in diesem Moment, dass ich dieses letztere, das «eigentliche» Bewusstsein meiner selbst wiedererlangen musste, dass ich es (das heißt «mich selbst») auch innerhalb der Grenzen meines physischen Leibes, also als Erdenmensch, zurückerobern musste, denn ich fühlte mich mit jenem ersten Erwachen in meinem Erdenleib doch irgendwie furchtbar unvollkommen und meines «Eigentlichen» beraubt, ja geradezu nackt. (Als ich einige Jahre später von der biblischen Paradiesgeschichte hörte, war ich unmittelbar an jene Empfindung bei meinem Erwachen im Leibe erinnert: Das unangenehme Erleben ihres «Nacktseins» markiert den Anfang der Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies und ihren Sturz auf die materielle Erde. Mit dem Kosten vom Baum der Erkenntnis wurden sie gegenüber der irdischen Welt bewusst, aber empfanden sich ihr gegenüber zugleich nackt und ausgesetzt. Sie erlebten das Herausgerissen-Werden aus einem, ja aus dem höheren Ganzen, aus dem all-weisen Bewusstsein.)«
Judith von Halle spricht von ihren auf diese Erfahrung folgenden Erlebnissen in der »Welt der Wirklichkeit«, wie sie die geistige Welt als Kind für sich nannte, im Gegensatz zur Welt des Alltags, in der sie nicht nur keinerlei Verständnis fand, sondern sogar vehemente Ablehnung erfuhr, wenn sie versuchte, über diese Erlebnisse zu sprechen. Bald nannte sie die irdisch-alltägliche Welt daher für sich die »Tag-Theater-Welt«.
Ich habe inzwischen das Buch gelesen und kann mich nicht mehr genau daran erinnern, welche Stellen sie damals las.
Ich glaube aber, sie sprach von der »Lebenszauberkraft«, die sie zum ersten Mal »an, besser gesagt in meinem schlafenden Großvater« wahrnahm, als einen farbigen »Lebensstrom«, der »durch den ganzen Leib wanderte und dabei an bestimmten Punkten oder Stellen sonderbare, fast künstlerisch anmutende Bewegungen vollführte und dadurch diesen Stellen etwas zukommen ließ, dessen sie offensichtlich bedurften, um zu «funktionieren», um lebendigzu werden.«
Mehr und mehr wurde ihr auch bewußt, auf welche Weise sie das wahrnahm – im Buch versucht sie, es zu schildern:
»Es war […] ein das sichtbare Äußere nicht registrierendes, gewissermaßen leeres Glotzen. Genau das aber war notwendig, um überhaupt zu einer Beobachtung des Lebensstromes zu kommen. Nur in solchen Situationen konnte ich in meinen Kindertagen den Lebensstrom sehen. Dadurch, dass das äußerlich Sichtbare eigentlich übersehenwurde, trat es so weit zurück, dass sich das eigentlich Lebendige zeigte. […] das, was ich dann «sah», sah ich nicht mit den Werkzeugen meiner physischen Augen, sondern gewissermaßen mit derselben Kraft, die sonst durch unsere Augen hindurchgeht, wenn wir etwas sehen wollen. Nur dass, in dem Moment, wo man den Lebensstrom weiter willentlich verfolgen wollte, also man eine längere Beobachtung durchführen wollte, diese Kraft mehr und mehr aufgerbacht werden musste, bei gleichzeitig aufgewandtem, wunschlosem Willen, das äußerlich Sichtbare zu ignorieren. Auf diese Weise wurde mir währenddessen diese meine eigene Kraft, die ich vielmehr als eine spezielle Variante des Willens empfand, stetig bewusster.«
An wachen Menschen war diese Lebenszauberkraft für sie sehr viel schwieriger zu bemerken, denn da erschien sie überlagert von einem schnell und oft dramatisch veränderlichen »Gewölk«, das offenbar mit den Gefühlen und dem Willen des jeweiligen Menschen zu tun hatte.
Mit der Zeit findet die kleine Judith heraus, daß es Menschen gibt, mit denen häufig»die Pferde durchgehen« (was sich unmittelbar in diesem »Gewölk« zeigt, das sie für sich schließlich »Seelenkräfteleib« nennt), und andere, die »Herr im Haus« sind. Sie stellt sich die Frage, wer es denn ist, der dann »Herr im Haus« ist, und findet dafür die Bezeichnung »Menschenwesenskern«– dieser wird ihr allerdings, anders als die »Lebenszauberkraft« und das »Gewölk«, nicht unmittelbar sichtbar.
Hier zeigt sich für mich ein Charakteristikum, das das ganze Buch durchzieht: Judith von Halle schildert einerseits unmittelbare Wahrnehmungen und Erlebnisse, andererseits aber berichtet sie von Erkenntnissen, zu denen sie durch gedankliche Schlußfolgerungengekommen ist. Die zwei verschiedenen Bewußtseinsarten sowie ihre wechselseitige Wirkung werden so dem Leser deutlich: ihre Erlebnisse regen neue Gedanken an, und die gedankliche Durchdringung des Erlebten bewirkt ein klareres Sehen beim nächsten Erlebnis in der »Welt der Wirklichkeit«.
Ich gewinne den Eindruck, daß die gedankliche Erkenntnisart mit zunehmendem Alter immer stärker überwiegt. Und Judith von Halle erzählt auch von ihrer schmerzlich empfundenen Regression in Bezug auf ihren Zugang zur »Welt der Wirklichkeit« ab ihrem 14. Lebensjahr: »Ich erreichte das «Tor» nur noch selten, und die Lebeszauberkraft oder den Seelenkräfteleib meiner Mitmenschen sah ich schließlich gar nicht mehr.«
In ihrem Buch schildert Judith von Halle eine reiche Fülle ihrer kindlichen Wahrnehmungen in der »Welt der Wirklichkeit«; sie erzählt auch von nächtlichen Erlebnissen (in »einem Stadium, das ich nur als ein bewusstes Wachbleiben oder sogar intensiveres Erwachen während des Einschlafens bezeichnen kann«) --- es würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, sie alle zu schildern.
Und sie erzählt auch – sowohl im Buch als auch bei der Präsentation – von ihrer Einsamkeit, ihrem Schmerz und ihrer wachsenden Verzweiflung, ihrer schließlichen beinahe-Resignation, weil es niemanden in ihrem Umfeld gab, mit dem sie über diese Erlebnisse hätte sprechen können.
Anregungen empfängt sie fast ausschließlich von längst Verstorbenen: Komponisten (»Ich erlebte die Musik als ein gewissermaßen irdisch wahrnehmbar gemachtes Mitbringsel aus der Welt der Wirklichkeit«), allen voran Mozart (das Buch enthält mehrere Seiten mit lebendigen und humorvollen Charakterisierungen verschiedener Komponisten); in ihrer Schulzeit werden ihr auch Dichter bedeutsam (Ovid; Shakespeare; Yeats; Goethe – wobei sie für eine Hausarbeit einen sehr kritischen Verriß über den Wilhelm Meister schreibt, vom Faustaber zutiefst berührt ist: »Da war er doch! Der wahreWilhelm Meister!«), und – im Rahmen eines Philosophiekurses – Aristoteles'Metaphysik, die sie geradezu verschlingt.
Aber in der Gegenwart fühlt sie sich mehr und mehr »deplatziert«. Immer wieder fragt sie sich: »Wo sind meineMenschen?«
Als die »Welt der Wirklichkeit« sich der Heranwachsenden mehr und mehr verschließt und ihr nur mehr die Erinnerung daran bleibt, ist sie nahe daran zu verzweifeln und gerät in eine tiefe Krise (»mehr als einmal das Messer in der Hand«) - - -
Auch das Architekturstudium wird zu einer »riesigen Enttäuschung«. Die Dozenten erlebt sie zum Teil als »geradezu schamlos in ihre eigene Arbeit und Persönlichkeit verliebt«, und der Lehrstoff erscheint ihr »nach meinem Geschmack […] eher dürftig«.
In ihrer Not gibt sie sich schließlich einen Ruck und wechselt die Lehranstalt --- und nun begegnet sie einem Dozenten, über dessen Vorlesungen sie schreibt:
»Was hier über die Architektur in ihrer Bedeutung für und Wirkung auf das Innere des Menschen gesagt wurde, war völlig unerwartet herabfallender heller, reinster Regen auf den verdorrten Boden meiner Seele. Unkonventionell, spontan, kreativ und in hohem Maße anregend waren die Ausführungen. Die Freude und Hingabe des Dozenten an die Sache war so wahrhaftig, dass mir spontan sein Seelenkräfteleib-Bild vor das innere Auge trat: ein unvergesslich strahlend sonnenheller, goldener Glanz.«
Durch diesen Dozenten begegnet sie schließlich, im Alter von 24 Jahren, den Schriften Rudolf Steiners – zuallererst, durch ein Versehen, dem Seelenkalender, den sie, einige Tage nachdem sie den Dozenten in ihrem Auto mitgenommen hatte, im Spalt neben dem Beifahrersitz findet:
»Es war ein dünnes Heftchen mit goldenen Lettern auf dem Umschlag, nicht viel größer als eine Zigarettenschachtel. Ich schlug es auf. Auf jeder Seite, geordnet nach den Wochen des Jahres, befand sich je ein poetisch gefasster Spruch von wenigen Zeilen:
Erste Maiwoche:
«Ich fühle Wesen meines Wesens:
So spricht Empfindung,
Die in der sonnerhellten Welt
Mit Lichtesfluten sich vereint;
Sie will dem Denken
Zur Klarheit Wärme schenken
und Mensch und Welt
in Einheit fest verbinden.»
Meine Knie gaben nach. Ich sackte neben meinem Auto auf den Asphalt. Tränen liefen über meine Wangen. Zitternd drückte ich das Heftchen an meine Brust. – Ich war zu Hause.«
Die Sprüche des Seelenkalenders werden ihr zum »Schlüssel«, der ihr die »Welt der Wirklichkeit« wieder aufschließt. Und sie gewinnt neue Erkenntnisse, auch über die Zeit ihrer Krise...
Durch ihren Dozenten lernt sie bald weitere Schriften Rudolf Steiners kennen – als erstes die Theosophie:
»nun, nach all den jammervollen Jahren der Isolation, hatte ich einen Menschen getroffen, der alle meine geistigen Erfahrungen, welche ich vor der die Welt der Wirklichkeit weitgehend ignorierenden, ja gar verspottenden Umwelt mein ganzes Leben lang streng gehütet hatte, mit der herrlichsten Bestimmtheit aussprach! […] Ich war absolut fassungslos. – Da hatte es einen Menschen gegeben, der schon knapp einhundert Jahre zuvor von den mir im Innern lebenden und pochenden Bedeutsamstkeiten gesprochen hatte, und ich war mein ganzes Leben lang unwissend, mein eigenes kleines grünes Gärtchen auf den Schultern mit mir herumtragend, in der Wüste umhergeirrt!
Darüber hinaus hatte der Verfasser mittels eines ganz besonderen, herausstechenden «Werkzeugs» noch viel weitergehendere Studien anstellen und Weistümer zutage fördern können – ein Werkzeug, das mir seit jeher unverzichtbar erschienen war für die Behandlung der Belange des Über-Sinnlichen, doch hatte ich mir das meinige nicht gar so vollendet gezimmert wie er. Denn das eine hing an dem anderen: je vollendeter das selbst erschaffene Werkzeug, desto präziser und umfangreicher die «Findungen» jenseits des «Tores» […] Dieses Werkzeug hatte zwei gleich bedeutsame Seiten namens: lebendiges Denken und das Finden des zur jeweiligen Erkenntnis passenden Begriffs.«
Im Anhang des Buches finden sich – für Menschen, die Rudolf Steiner nicht kennen – etliche Zitate aus der GA: »um meinem Leser die Möglichkeit zu geben, meine damaligen Erfahrungen zu teilen und meine Freude über diese nachvollziehen zu können.«
Die erlösende Begegnung mit diesem Dozenten und durch ihn mit Rudolf Steiner findet gegen Ende des Buches statt.
Es schließt damit, daß dieser Dozent sie endlich einmal zu einem »abendlichen Seminar« im Berliner Rudolf Steiner Haus mitnimmt.
Er hatte, trotz ihrer Bitten, lange damit gezögert und es »mit allerlei Ausreden« umgangen, sie dort einzuführen:
»Später gestand er mir den Grund für sein merkwürdiges Verhalten: Er habe gefürchtet, dass ich ihn für verrückt halten und mich von ihm abwenden könnte, wenn ich mit einer Gruppe von Menschen in Berührung käme, die alle von der Existenz einer geistigen Welt ausgingen und sich den Fragen der übersinnlichen Welt mit einem Ernst stellten, der wohl für die meisten Menschen lächerlich wirken musste. Dies war der Zeitpunkt, von dem an ich ihm mehr von meinen inneren Erfahrungen und meiner Wesensart erzählte und er ganz zu meiner Vertrauensperson wurde.
Über das Jahr hin zogen wir zusammen und heirateten fünf Jahre später.«
* * *
Nach der Lesung gibt es Gelegenheit, Fragen zu stellen – die Atmosphäre bleibt ruhig, interessiert und aufmerksam.
Judith von Halle spricht davon, wie schwierig es für sie war, mit ihren Eltern nicht über ihre Erlebnisse sprechen zu können, sieht es aber auch als einen Vorteil an, nicht anthroposophisch aufgewachsen zu sein: »Viele [anthroposophisch aufwachsende] Kinder distanzieren sich ja später – ich war frei.«
(Auf eine Frage – die einzige derartige Erwähnung an diesem Abend – nach den Gründen für ihre Schwierigkeiten mit Sergej O. Prokofieff antwortet sie nur kurz:
»Ich möchte dieses Thema hier ausklammern. Nur soviel: ich hoffe, daß sich auch diese verquere Situation noch ins Gute wandelt.«)
Einige der Zuhörer, die als Kinder offenbar ebenfalls Erlebnisse in der geistigen Welt hatten, sind weniger an weiteren detaillierten Schilderungen interessiert als vielmehr an Judith von Halles Umgangdamit. Wieso erinnert sie sich bis heute so genau und detailreich daran?
Judith von Halle erzählt, daß sie mit etwa zehn Jahren damit begann, ihre Erlebnisse aufzuzeichnen. Bis zu ihrem vierzehnten Lebensjahr schrieb sie etwa 30 Hefte voll – allerdings vernichtete sie die meisten eines Tages, »damit sie nicht in falsche Finger geraten«. Vier dieser Hefte blieben, gewissermaßen aus Versehen, erhalten – »Ich habe sie mit 25 Jahren beim Umzug gefunden und wieder gelesen. Und ich hab mich gewundert, wieviel ich doch vergessen hatte.«
Beim Lesen stiegen die Erinnerungen wieder in ihr hoch – aber ohne diese Hefte, meint Judith von Halle, wären diese ihre kindlichen Erlebnisse wohl vergessen geblieben.
Beim Schreiben ihres Buches habe sie also nicht »aus dem vollen Fundus schöpfen« können, sondern eben nur aus dem in diesen vier Heften Festgehaltenen. Der größte Teil ihrer damaligen inneren Erlebnisse und Beobachtungen sei leider weder schriftlich noch in ihrer Erinnerung erhalten geblieben.
Etliche Heftseiten sind im Buch zitiert und im Anhang faksimiliert abgedruckt – Judith von Halle schreibt dazu:
»... all das, was ich über mein damaliges inneres Leben bislang geschrieben habe, ist hier in den Worten eines Erwachsenen dargelegt […] es wäre mir natürlich damals nicht möglich gewesen, sie so zu formulieren, wie ich es jetzt getan habe. Darum erhält man gewiss einen authentischeren oder vollständigeren Eindruck von jener Zeit und den Erfahrungen, über die ich berichte, wenn ich zusätzlich einige meiner damaligen Notizen beifüge und mit meinem Leser teile.«
Auch danach wird gefragt, ob sie damals in der »Welt der Wirklichkeit«nur als Beobachterin anwesend war, oder ob sie »dort« auch etwas »zu tun« gehabt hätte – Judith von Halle antwortet, es habe regelmäßig »Prüfungen« für sie gegeben, an denen sie vieles lernte. Was sie dazu andeutet, kann ich nicht mehr in ihren Worten wiedergeben – aber es ist mir ganz unmittelbar nachvollziehbar. Es scheint sich um Erlebnisse zu handeln, wie ich sie auch selbst aus meiner Kindheit in Erinnerung habe, in Träumen, oder halb-träumenden Zuständen... manchmal auch als Erwachsene, im Zusammenhang mit dem Genesungsschlaf zu Zeiten von Krankheit...
Auch der Fragesteller und einige andere im Publikum scheinen mit solchen Erfahrungen vertraut zu sein.
(Im Buch schildert Judith von Halle Näheres dazu – aber auch das würde den Rahmen dieses Aufsatzes bei weitem sprengen.)
Zum Abschluß der Buchpräsentation erklingt eine Komposition Johann Sonnleitners für Orgel und Bratsche, in erweiterter Tonalität (Johann Sonnleithner erklärt dazu: »Die Bratsche spielt nicht falsch – sondern Sie werden Intervalle hören, die nicht jeder schon ans Herz genommen hat.«).
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Zum Schluß noch zwei Zitate aus dem Nachwort des Buches, die mir interessant erscheinen im Zusammenhang mit der Diskussion um die Notwendigkeit und Bedeutung eines spirituellen Lehrers/Meisters/Gurus:
»Wir erleben nicht bewusst das, was Wirklichkeit ist: die geistige Potenz unseres eigentlichen Wesenskerns und das unzerstörbare Band der Liebe, welches uns alle miteinander verbindet. Doch ich glaube daran, dass es einen Schlüssel gibt, mit dem die verschlossene Tür zur «Welt der Wirklichkeit» in jedem von uns aufgeschlossen werden kann: Wenn man nämlich zum Beispiel die eigene Tür so weit zu öffnen bereit ist, dass man den anderen durch sie in die dahinter liegende, übersinnliche (unser aller) Heimat hineinspähen lässt. Dann kann ihm dies zum Schlüssel werden, der zu seiner eigenen Tür passt, weil etwas von dem lebendigen Geist der Wirklichkeit im Alltagsbewusstsein des Mitmenschen aufleuchtet und ihn an den lebendigen Geist der Wirklichkeit seines eigenen unsterblichen Wesenskerns erinnert. Natürlich kann es sich nur darum handeln, dass sich der andere dadurch an seine eigene Beziehung zur geistigen Welt erinnert fühlt. Er muss ja seinen eigenen schöpferischen Geist, seinen eigenen Menschenwesenskern finden. Daher soll er auch nicht glauben, er müsste irgendetwas mit meinen Erlebnissen absolut Identisches in sich aufspüren oder mein Zeugnis von der geistigen Wirklichkeit aus dem Grunde rundweg ablehnen müssen, weil er selbst solche Erfahrungen nicht gemacht hat. Jedes einzelnen Menschen innere Biographie ist selbstverständlich vollkommen individuell, so wie die spirituellen Erlebnisse und unsichtbaren Begegnungen, die diese ausmachen.«
Und:
»Mut machen mögen die Berichte über meine Erlebnisse mit der geistigen Welt! Mut machen für das Vertrauen in die göttlich-geistige Welt! Mut machen für das gemeinsame Leben mit unseren Mitmenschen und für das scheue und ehrfürchtige Achten des göttlich-geistigen Inneren jedes einzelnen Menschen, der nicht in der Welt wäre, wenn er nicht auch wie wir aus dem lebendigen Geist herausgeboren wäre!
Unterstützend wirken mögen meine Erzählungen auch für Eltern, deren Kinder ihnen ein Rätsel scheinen, aber auch Mut machen, das eigene Kind in verständnisvoller Weise als freie Individualität zu entdecken – nicht allein den Eltern kleiner Kinder, sondern auch den Eltern erwachsener Kinder, denn selbst rückwirkend oder in späten Tagen kann noch vieles ergriffen, verwandelt, neu gestaltet werden. Zu spät ist es nie, solange wir noch im Erdenleben beieinander sind und die Zeit nutzen, um schließlich mit verwandelten Herzen und Geistern in die geistige Welt eintreten zu können. Es mögen meine Aufzeichnungen aber auch eventuelle Schuldgefühle bei den Erziehenden mindern, indem sie zeigen, dass heute grundsätzlich schwierige Bedingungen dafür herrschen, den anderen Menschen als das göttliche Wesen zu erkennen, das er ist. Und umgekehrt möge durch diese Aufzeichnungen den Kindern Mut gemacht werden, Geduld, Nachsicht, Verzicht und Ausdauer zu entwickeln. – Umso mehr darf dieses Buch verstanden werden als ein Appell für die Wahrnehmung des anderen Ichs, unabhängig von seinem Alter und von dem Alter dessen, der es wahrnimmt; ein Appell für das aufrichtige Interesse an unserem Nächsten.
[…]
In jedem Einzelnen von uns wohnt Gott, eine höhere geistige Wesenheit, die sich unablässig um uns bemüht, die uns niemals im Stich lässt und die wir als die eigene seelisch-geistige Moralität finden können, welche uns den rechten Weg im Denken, Empfinden und Handeln weist und uns eint mit unseren Menschenbrüdern! – Wenn wir uns ihr nur zuwenden, wenn wir nur unsere Aufmerksamkeit auf sie lenken.
Dies durch das Teilen meiner intimen spirituellen Erfahrungen anregen zu können, […] ist der Impuls zur Veröffentlichung dieser Aufzeichnungen gewesen.«