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Der süße anthroposophische Brei oder: Politischer Schamanismus

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Alle Weltverschwörer auf einen Blick
Natürlich kennt man unter anthroposophischen Märchen- Erzählern das Grimmsche Märchen vom süßen Brei, der derart gärt („Doch ach, ihr fiel das Wort nicht ein. Das Wort, welches dem Topf Einhalt geben würde. Schon war der Topf dreiviertels voll und die Mutter grübelte und grübelte, lief im Raum umher und suchte das Wort“), dass er ein ganzes Dorf unter sich begräbt- eine kaum aufzuhaltende Selbstvermehrung „bis über den Kopf hoch“.

Ähnlich - und nicht selten mit identischen Auswirkungen bis über den Kopf hoch- wuchern seit jeher manche Aussagen Rudolf Steiner, seine Bildwelten und kosmischen Weltbilder- manchmal konstruktiv, manchmal breitgetreten und missbraucht bis zur Beliebigkeit heutiger Esoterik und politischer Positionierungen.

Die Zutaten zum Überquellen des süßen anthroposophischen Breis sind bei Rudolf Steiner selbst zu finden. Zum Pflichtprogramm jedes ernsthaften Studiums sollte gehören, solche kritischen Trigger zu kennen, um ihnen nicht selbst zu verfallen und in die dekadenten Strudel und Abseitigkeiten anthroposophischer Weltbilder hinein zu geraten.

Als Beispiel solcher Abseitigkeiten kann der hier im Blog von Bobby angesprochene Hamburger Anthroposophischen- Polit- Clown Hans Bonneval gelten, der mit entwaffnender Naivität und selbstverliebter Redseligkeit in einem Interview Querfront- lastige, New- World- Order Verschwörungstheorien im Namen von Rudolf Steiner zum Besten gibt- Futter für die esoterische Rechte. Bonneval hat nach Jahren östlicher Meditations- Praxis zur „Wahrheit“ gefunden, die er nach Steiner irgendwo hinter den realen Phänomenen wittert und als heilend empfindet. Sie ist für ihn auf höchst schlichte Art verbunden mit all den Verschwörungstheorien, die seit 9/11 durchs Internet wabern, was er - trotz deutlicher Distanzierungen und Kündigungen vonseiten Hamburger anthroposophischer Institutionen - per YouTube, Blog, Seminaren und Büchern der Welt mitzuteilen gewillt ist.

"Bobby fasst die "Info zum Video" auf der YouTube-Seite von Quer-denken.tv (Hans Bonneval im Gespräch mit Michael Friedrich Vogt) so zusammen: „Wahrheit ist viel mehr als man gewöhnlich annimmt. Sie ist ein hochwirksames Heilmittel für Seele und Leib. Und es ist keineswegs gleichgültig, ob wir im Einzelfall die Wahrheit wissen oder nicht. Sehr vieles, was falsch oder ungünstig läuft, ist die Folge der gewaltigen Menge an Unwahrheit und Lüge, in der wir heute zu leben gezwungen sind…
…Und in ähnlicher Weise korrigiert die Anthroposophie das gesamte Weltbild unserer materialistischen Kultur. Sie ersetzt Unwahrheit und Lügen durch Wahrheit.
Nun gab und gibt es aber Menschen, die schon seit über hundert Jahren versuchen, zu verhindern, daß die Europäer spiritualisiert werden. Anglo-Amerikanische Okkultisten trachten eine Weltherrschaft zu errichten (NWO) zur Unterwerfung der gesamten Menschheit. Zwar konnten sie den großen Eingeweihten des 20. Jahrhunderts nicht hindern, die Weltgeheimnisse mitzuteilen, aber sie konnten das mitteleuropäische Volk, welches dadurch spiritualisiert werden sollte, bei diesem Vorgang stören. Und das geschah durch den ersten Weltkrieg und durch alles, was ihm nachfolgte. Das war – nach Steiner – der eigentliche Grund für den sogenannten Krieg.“ Ein ganzes Netzwerk querfrontiger Politischen- Anthroposophen greift solche und ähnliche Stichwörter dankbar auf und verwurstet sie zu dem üblichen Brei, der umso toxischer wird, je mehr aktuelle politische Positionierungen damit verbunden werden.

Ein anderes Beispiel für das Wuchern des süßen Breis - beliebig heraus gegriffen aus der Masse- ist die australische Bestseller- Autorin Adriana Koulias, die sich explizit als anthroposophische Lehrerin und „goetheanistische“ Forscherin sieht: „But I follow Rudolf Steiner's indications which are Goethean.“ (Facebook) Die Phänomene, die sie zu dentdecken glaubt, sind z.B. ein Kreuz im CT- Querschnitts- Bildes eines Gehirns, woraus sie Schlüsse bzgl des Wirkens Christi zieht - im Sinne von modernem Kaffeesatz- Lesen. Oder sie leitet aus geschichtlichen Koinzidenzen (1917 bolschewistische Revolution - 2017 Trump Erscheinen als „Antichrist“) weitreichende Folgerungen ab, die sie beliebig weiter anreichert, z.B. mit dem Wirken des Templer-Ordens (3 x 666).

So entdeckt sie „goetheanistisch“ unentwegt „Parallelen“, denen eine internationale anthroposophische Netz- Community gebannt folgt: „Dear friends, I woke this morning with this thought:
The two world leaders who now face one another on two sides of the world can be found in this lecture. If we wish to understand the relationship between Putin and Trump I believe we must look to the Mongols and their relationship to Russia on the one side and America on the other.
We may find them incarnated also in France when the two came together to exterminate the Templar Order.
Note well the relationship of the Templars with protecting Europe from America and with their protection of Europe from the Mongols and Arabism.
Note that Rudolf Steiner spends a great deal of time in this series of lectures explaining these relationships and you may see the parallels.“ (Facebook)

Das assoziative Verbinden von einzelnen Fakten oder Phänomenen als Hebel zu weltanschaulichen Positionierungen ist heute wohl das geeignete Mittel, um in den sozialen Netzwerken zu punkten. In diesem Metier ernten die dümmsten Goetheanisten die dicksten Kartoffeln, und der Rest der Szene biedert sich lieber an: Der süße Brei, der sich über die Netzwerke ergießt, setzt schließlich die Trends, garantiert Aufmerksamkeit und Aufregung. Erregungspotential, geistloser Furor, Kaffeesatz- Lesen und NWO- Scheuklappen- Denken als „goetheanistische Erkenntniswissenschaft“- wie konnte es so weit kommen?

Der simple Reflex, dem süßen Brei manichäischer Welterklärungssysteme zu verfallen, kann es alleine nicht sein. Gewiss ersetzt die oben dargestellte Pyramide der Verschwörungen - von Geheimgesellschaften über den Vatikan bis hin zu außerirdischen Mächten - jedes aktive politische Denken und entbindet von der Verantwortung einer eigenen, Vernunft- orientierten Positionierung. Die abergläubische Spekulation erscheint da wir ein Rückfall in archaische, atavistische Reaktionsmuster, ein politischer Schamanismus. Und gewiss findet man den auch bei Rudolf Steiner selbst, dessen Geheimgesellschaften, Jesuiten, Freimaurergesellschaften und amerikanisch- englischen Umtriebe sich ebenso durch sein Werk ziehen wie offen rassistische Zuordnungen.

Gewiss findet man bei Rudolf Steiner auch populistische Impulse, etwa wenn er „die Jugend im zwanzigsten Jahrhundert“ anspricht mit „Die Menschen müssen wiederum dazu kommen, stark fühlen zu können: schön - hässlich, gut- böse, wahrhaftig- verlogen“ (2) statt „herzlose Gedanken anzustreben“. Den süßen Brei heutiger Anthroposophen hat es sicherlich beflügelt, bei Steiner nachzulesen, dass das „Verlangen nach einem lebendigen Denken brodelt (..) (3) im „Blute“ und das „an das Gehirn“ gebundene „heutige Denken“ zu überwinden fordert. Wenn er dann behauptet, dass „der Intellekt .. das automatische Fortdenken (sei), nachdem man von der Welt abgeschnürt ist“ (4), dann möchte man ihn korrigieren, dass die atavistisch- verschwörungstheoretischen Vorstellungen ebenso wie das bloße, unkritische Fortspinnen anthroposophischer Bilder und die simplen, rückkoppelnden Assoziationen ungleich gefährlicher sind als ein kritischer Realismus es je sein könnte. Auch die konstruktiven, humanistisch geprägten Aussagen Rudolf Steiners im gleichen Vortragszyklus („Man wird nur dadurch dem Menschen gerecht, dass man in jedem einzelnen einen neuen Menschen sieht.“ 5) entschuldigen nicht die Bodenlosigkeit seiner populistischen Entgleisungen zuvor. Man kann Steiner gar nicht anders begegnen als mit eben dem kritischen Realismus, den er selbst immer wieder verdammt hat.

Auf der anderen Seite kann man sich - gerade wenn man sich mit der anthroposophischen Vorstellungswelt beschäftigt- nicht hinter dem widersprüchlichen Meister verstecken; Verantwortung für die eigene Positionierung trägt jeder selbst. Bei Steiner findet man Argumente für jede denkbare Haltung. Die Neigung, im esoterischen Wust leicht konsumierbare, verantwortungslose, autoritäre, simplifizierende Welt- Erklärung- Modelle zurecht zu basteln und dem süßen Brei populistischer Verführer zu folgen, scheint heute größer, populärer und lukrativer denn je zu sein.
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1 Adriana Koulias: https://www.facebook.com/adriana.koulias
2 Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation, S. 24 f
3 dito, S. 48 f
4 dito, S. 37
5 dito, S. 62



Die Rechten mögen Info3 nicht

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Wie man hört, waren die überregionalen Sitzungen anthroposophischer Redakteure und Verleger schon früher kein Hort der Einigkeit; so mancher Schreiber fuhr insbesondere in den Gedanken an Jens Heisterkamp und „die Info3- Clique“ dorthin mit pelziger Zunge und dunkel bewölkten Gedanken. Diese Liberalen, Globalisten und spirituell Aufgeschlossenen unter den anthroposophischen Publizisten haben aber nicht nur in der Szene einen schweren Stand, nein selbst das (nach eigener Einschätzung) elitäre Leitmedium der neuen Rechten, die Vordenker der AfD unter Leitung des Hipster- Schlossherrn und Publizisten, ja „geistigen Führers“ (FAZ) Götz Kubitschek aus Schnellroda widmet sich jetzt Info3. Kubitschek und seine Frau mögen, nach Informationen der FAZ, Ziegenkäse, Wehrsportgruppen und Leni Riefenstahl. Die Info3 mögen sie nicht.

Jedenfalls kommt die anthroposophische Zeitschrift in einem aktuellen Artikel Caroline Sommerfelds in Kubitscheks Blättchen Sezession -„Den Weltgeist verraten und verkauft“ -, wie der Titel des Artikels schon verrät, nicht gerade gut weg. Sommerfeld möchte dabei untersuchen, wie der „Mainstream“ in dieser Szene, die ja „ein bißchen anders als die anderen“ ist, tickt- wobei schon diese Ursprungsfrage ganz offensichtlich voreingenommen ist, da der Begriff „Mainstream“ für die Rechten negativ besetzt ist.

Dabei gibt es eine gewisse ideologische Nähe zu Rudolf Steiner, da dieser, wie Sommerfeld meint, ein strammer Anti- Amerikaner, „Antiglobalist“ und gegen den Marxismus gewesen sei. Steiner sei auch gegen die „verdiesseitigte Massengesellschaft“ gewesen, was ihn eigentlich dazu geeignet zu machen scheint, von der neuen Rechten vereinnahmt zu werden: „Klar ist nur: links ist er nicht! Klar ist auch: der „wirklich freie Geist“ ist einer, der eben nicht in der durchökonomisierten, rhetorisch durchmoralisierten, verdiesseitigten Massengesellschaft zu finden ist. Das „Übersinnliche“ muß ich an dieser Stelle nicht theosophisch-esoterisch ausdeuten, sondern nur als Chiffre nehmen für die zitierte „ Freiheit, daß man sich nötigenfalls den äußeren Verhältnissen entgegenstemmen kann“.“

Da ist sie einigermaßen ernüchtert von den Positionierungen Jens Heisterkamps in diesem Info3- Heft, das sie offenbar gerade vorliegen hat: „Er sieht den „Versuch reaktionärer Kräfte, den Zusammenhalt der Nation wieder vom 'Volk' und vom Völkischen her zu denken“, als „geistiges Krankheitssymptom.““ Das tut ihr weh, so weh, ebenso wie die Bekenntnisse zu einer offenen Gesellschaft und gar zum Oberschurken der Antiglobalisten, George Soros: „„Info 3“ bekennt sich auf den folgenden Seiten fröhlich zur „Offenen Gesellschaft“, denn die gepriesene Initiative „Die Offene Gesellschaft“, an der auch mehrere anthroposophische Institutionen teilhaben, ist ein Ableger der „Open Society Foundation“ des Oberglobalisten und NGO-Finanziers George Soros.“ So schreibt sich Sommerfeld die Finger wund und klagt gegen die „antirechte Propagandanummer“, internationale Konferenzen am Goetheanum und Waldorfschulen, die es wagen, Feste der Weltreligionen „munter“ (auch noch gut gelaunt, offensichtlich!) durcheinanderzufeiern. Das alles riecht doch sehr nach Liberalismus und Weltoffenheit. Nicht einmal Alexander Dugin mögen diese heutigen Anthroposophen, die die schönsten Hoffnungen der Rechten auf einen in ihrem Sinne gestrickten Rudolf Steiner einfach nicht erfüllen wollen. Die heutigen Anthroposophen- die „haben Steiners Freiheitsbegriff mir nichts, dir nichts, an Clinton und Soros verraten und verkauft. Pfui Teufel, oder auch Ahriman!

So wendet sich Frau Sommerfeld und mit ihr die „Sezession“ mit Grauen ab. Glücklicherweise hat sie nicht so genau hingesehen. Bei den Basler „Europäern“ wäre sie sicher ganz in ihrem Sinne fündig geworden. Aber glücklicherweise sind ihre Recherchen in der Szene so hohl wie oberflächlich, so voreingenommen wie ideologisiert.

Der süße Schatten. Einige schauerliche Anmerkungen

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Es lässt sich ja schwer beurteilen, warum - auch im anthroposophischen Themenbereich- bestimmte Aspekte unsere stetige Aufmerksamkeit oder auch unseren Widerwillen wecken. Es hat natürlich immer etwas mit uns selbst zu tun, wenn auch meist mehr oder weniger tief unter der Oberfläche dessen, was anzuerkennen tolerabel wäre.

Ich denke an einen Bekannten, der mich Jahre lang dafür kritisierte, dass ich so deutlich Kritik äußern würde, vor allem in Bezug auf bestimmte anthroposophische Phänomene. Ich weiß nun, dass es einer dieser anthroposophischen Reflexe ist, „positiv“ und unvoreingenommen an Dinge heran gehen zu wollen bzw. zumindest den Anschein zu erwecken. Er hatte ja nicht unrecht - der Skorpion in mir sticht in ungeklärte Angelegenheiten- tat mir aber auch Unrecht, indem er meine unvoreingenommenen Blicke ignorierte. Letztlich hing er sich an den Dingen bei mir auf, die ihm selbst wohl wie ein Gift aufstiessen. Dass er es an mir ausließ, behinderte ihn aber womöglich gerade im Umgang mit seinen Schwächen Die anderen, typisierten Reflexe bei ihm wie Anti- Modernismus, Technophobie, Anti- Materialismus hatten einen ähnlichen für ihn identitären Aspekt, hielten aber stets nur bis zu dem Punkt, an dem sie unbequem wurden. Das identitäre Selbstgefühl sonnte sich in seinem Gutmenschentum. Er schlürfte seinen Steiner, um den süßen Schatten zu bedienen. Er zimmerte sich ein elitäres, wenn auch illusionäres Reich und umgab sich mit Gleichgesinnten. Ich bin sicher, dass er heute mit den anti- elitären Hunden dieser Szene heult, gegen EU, CIA- Verschwörer, Globalisten und Banken.

Ich weiß, dass ein ganz anderes Gift, das mich umtreibt, der natürliche Mangel an Fokussierung ist. Ein verträumtes Kind, ein Kind mit magischen Augen, ein leichtgläubiges Wesen, dessen Mutter von Aberglauben und dessen Vater von Nachkriegs- Illusionen getrieben war. Knapp unter der Oberfläche brütete ein Grauen, das ohne Konturen war, aber nach dem zehnten Lebensjahr seine Schatten so warf, wie es Günther Uecker* unnachahmlich ausdrückt: „Das waren Versuche einer plastischen Malerei, die Licht einfängt und Schatten wirft, gekoppelt an den Gedanken, daß der eigene Schatten sich schauerlicherweise nachts mit der Dunkelheit der Erde verbindet, um in den Morgenstunden wunderbarerweise wieder individuell zu werden. Denken Sie nur an die Angst, die einen abends überkommt. Als einzelgängerisches Kind erlebte ich solche Momente sehr intensiv. In meinen Bildern wird dies thematisiert.“ (S. 79) Uecker hat sich, wie er erwähnt, auch mit Steiner (Arbeitervorträge) und Goethe (Farbenlehre) beschäftigt- gerade was den Umgang mit dem Licht betrifft: „Was der Mensch an Lichtenergie umwandelt, um zu sein, ist höchstwahrscheinlich seine physiologische Existenz.“ (S. 78)

In diesem Sinne ist für Uecker das Licht deshalb zum lebensbestimmenden Thema geworden, weil die Angst, die Dunkelheit und die Schrecken der nächtlichen Entwerdung ihn umtrieben. Für mich selbst war das - auch ohne Künstler zu werden- mit der inneren Indifferenz und dem kindlichen Grauen ganz ähnlich. Für mich war in der anthroposophischen Arbeit ein Element gegeben, einen diffusen Mystizismus ins klare Licht zu holen, die Schattenwelt zu durchleuchten, zu fokussieren und zu stabilisieren, ohne das existentiell Brüchige zu leugnen, in Lethargie oder Selbstgerechtigkeit zu verfallen.

Mit einem Wort: Positivität hängt ab von dem Grauen, dem man entsteigt- dieses gibt die Kraft, sich abzustossen und wirklich den Willen zu entwickeln, der durch ein gestaltetes Leben führt. Oder, um es mit Jörgen Smit zu sagen: „Die Übung der Vorurteilslosigkeit stärkt die Mutkräfte, denn man lässt sich bewusst ein auf das noch nicht Durchschaute und Geübte; niemand lernt schwimmen, ohne daß er in das noch unbekannte Wasser hineinstießt. Hier wird die Kraft des werdenden Menschen, der ständig über sich selbst hinauswächst, geprüft und gestärkt.“ **

Die Kraft, sich den eigenen heftigsten Kontrasten zu stellen und von hier aus bewusst konkret Schritt für Schritt zu setzen in unbekanntes Terrain ist etwas anderes, als sich in einer scheinbaren Toleranz zu wiegen, die das eigene Selbstgefühl konstituiert. Oder dem Common Sense seiner Zeit trotzig zu entsagen, um dann den Parolen der identitären Polit-Clowns zu verfallen. Gewiss, der Konsens der westlichen Zivilisationen ist auf frühes harmonisches Miteinander ausgelegt, auf ein Funktionieren in adäquatem Wohlverhalten, in einem Kollektiv, das nach dem ersten Lebensjahr in Krippen angelegt wird. Individuelle Freiräume werden bei entsprechendem Wohlverhalten zugestanden- ein Funktionieren in einer vernetzten und globalisierten Massengesellschaft kommt ohne sanfte soziale Kontrolle nicht aus. Das ist der Preis der Massengesellschaft. Nicht Wenige begreifen nicht nur diese Systeme als real existierende sozialistische Organismen, deren Kontrolle sie sich widersetzen möchten, befeuert von populistischen Agitatoren. Die Erklärungsversuche, warum sie sich selbst in einem neuen Mainstream der Abgehängten oder - wahlweise- der eingebildeten geistigen Eliten dieser Systeme begreifen, divergieren in der Deutung; sie mögen sich religiös, politisch, elitär oder in Mischungen davon positionieren. Meist bildet sich nicht nur ein neuer, trotziger Mainstream, der das eigene Scheitern umdeutet und sich in oppositionellem, wenn nicht destruktivem Gruppenverhalten gefällt- eine antagonistische Selbstfindung, die auf Vernichtung des Gegners abzielt. In dieser Lage wird die Autobombe ebenso zum persönlichen Statement wie die ostentative Verehrung eines neo-stalinistischen Führers- der Widerstand gegen den Mainstream wird zur Frage der eigenen Identität und ist nicht verhandelbar. Dass sich aus dieser primitiven Gemengelage heute überall der neue politische Mainstream bildet, befeuert von identitären nationalistischen Impulsen, ist bedauerlich. Europa hat offenbar nicht - im Sinne von Uecker- in einer allmählichen Reife einen kontinuierlichen Weg aus dem Schatten geschafft, den es seit Anfang des 20. Jahrhunderts geworfen hat. Der Rückfall in identitäre, nationalistische Reflexe erscheint wie eine Regression, die alle Gefahren wieder auf den Tisch bringt, denen Europa entstammt.

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*Nagel, Axt und Hammer. Orkane des Möglichen - Über die Kunst und die Bewahrung des Menschen, in Letter International, Europas Kulturzeitschrift 116
** Jörgen Smit, Der meditative Erkenntnisweg der Anthroposophie, in (Div) Freiheit drüben, Stuttgart 1988

Doktor Steiner vergeht das Lachen oder: But, my dear friends, what are you all doing?

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Noch lacht der Doktor
Das waren noch Zeiten, als man Jung- Anthroposophen, Hippies und alternative Geister mit Anekdoten von übersinnlichen Fähigkeiten Rudolf Steiners beeindrucken konnte. Jeremy Smith holt dennoch einige solcher Geschichten in seinem Blog „Anthropopper“ aus dem Nähkästchen- manchmal auch einfach Geschichten übersinnlicher Damen über angebliche Aussagen Rudolf Steiners, im Zustand ihrer Entrückung empfangen.

Eine Gladys Mayer (1888 – 1980) z.B., die vom Meister persönlich nicht vorgelassen worden war („At length, I received .. instruction to go to Rudolf Steiner for further advice… I met him frequently for something over two weeks: each time I met him he greeted me with a smile and a warm hand-clasp. Each time I asked him, ‘May I come and speak with you?’ he put me off with the reply: ‘Frage mir nochmal (Not just yet).’ Friends in Dornach told me this did happen sometimes, and of course it had a reason…“) machte das Beste aus ihrer Lage und befragte ihn dann halt übersinnlich:

„At last, I could bear it no longer: I felt I must know more. I seized hold of him, as it were, with all my soul forces, and challenged him, saying: ‘Who are you?’ Then, as there came no answer, I asked wonderingly: ‘Are you the Christ?’ ‘Nicht so’ (Not so). Then, because these were German words, a further thought came to me. ‘Are you, can you be, he whom we know on earth as Rudolf Steiner?’ There was an instant stillness, and then the answer came softly, ‘Eben so’ (Even so).

Auf diese Weise konnte Frau Mayer Steiner auch nach seinem Tod weiter interviewen, wobei dieser ihr auch in aller Offenheit (und in weiterhin sehr schlechtem Deutsch) seine Meinung bezüglich der zersetzenden internen Streitigkeiten um Machtpositionen und Richtungskämpfe der verwaisten Mitglieder mitteilte: „After Steiner’s death in 1925, Gladys Mayer was one of those people who was very upset by the dissensions and splits that occurred between factions in the Vorstand and in the wider General Anthroposophical Society: “Once in those first years, I heard his voice again, in a kind of despairing wonder: ‘Aber, mein lieben Freunde, was tun si alle?’ (‘But, my dear friends, what are you all doing?’)

Das ist die Frage, die Doktor Steiner in der geistigen Welt bis heute umtreiben mag, denn die Richtungskämpfe zwischen Nominalisten und Spiritualisten, Individualisten und Okkultisten, sozial Engagierten und Reaktionären, Praktikern und Spinnern haben der Bewegung fast hundert Jahre Lagerkämpfe und Auseinandersetzungen über die anthroposophische Identität beschert- mit erschöpfenden internen Diskussionen, die - wie Konstitutionsfragen in Bezug auf die Legitimität der Anthroposophische Gesellschaft, Bedeutung des Rudolf- Steiner- Verlages, Erbansprüche der Ehefrau Marie Steiner uvam. nicht nur keinerlei Bedeutung für die Außenwelt hatten, sondern auch Energien banden und gesellschaftlich so weit abschotteten, dass die Verschrobenheit der Bewegung allen „Weltkonferenzen“ und der selbst zugeschriebenen universellen Bedeutung zum Trotz stetig wuchs.

Regelmäßig auftretende Hellsichtige, Visionäre und stigmatisierte Christus- Seher festigten den Ruf eines esoterischen Walhalla auf dem Dornacher Hügel ebenso wie die latent rechtslastige, antiliberale, verschwörungstheoretische Ausrichtung vieler Protagonisten. Im Schwung von Pegida und Rechtspopulisten werden die Sagen von der Großen Amerikanischen Verschwörung, was 9/11 betrifft, auch heute noch von prominenten Anthroposophen und Zeitschriften aufgewärmt - trotz öffentlich bekannter Warnungen bzgl der verwendeten Quellen und im fahrlässigen Umgang damit. Dass Quellen aufgelassen, sinnentstellend zitiert und tendenziös wiedergegeben werden, verwundert nicht- Streitgespräche darüber, wie hier bei Facebook, führen letztlich keinen Schritt weiter.

Der Mix von realen Daten, selektiv heraus gepickten und aufgeladenen Details und propagandistischer Absicht schafft eine zwitterhafte Alternative- fact- Realität a la Daniele Ganser, der auch in der Szene goutiert, gehört und interviewt wird. Offenbar hat, dem populistischen Zeitgeist folgend, eine Verschiebung stattgefunden fort von der verschrobenen Selbstbeleuchtung früherer anthroposophischer Diskussionen hin zu nicht minder zweifelhaften politischen Positionierungen- der Okkultismus der Trump- Ära mit seinen nationalistischen, fremdenfeindlichen, scheinbar Elite- kritischen Tönungen lässt grüßen. Offenbar gefällt sich auch das anthroposophische Identitäts- Empfinden der Gegenwart in Anti- Mainstream- Attitüde, ganz in der Diktion der neuen Rechten und Querfrontler. Das entspricht auch einer anti- intellektuellen und anti- materialistischen Positionierung Rudolf Steiners, die schon zu seiner Zeit merkwürdig anmuten musste für eine sich "wissenschaftlich" verstehende Geisteswissenschaft. Seitdem ist diese Positionierung nicht zuletzt von den Nationalsozialisten derartig missbraucht worden, dass ein Rückfall in solche Rhetorik anrüchig erscheinen muss- nicht zuletzt deshalb, weil die anti- intellektuelle Attitüde heute ebenso als antisemitische Chiffre zu verstehen ist wie das Anti- Elitäre. Die angeblichen Eliten und Geheimbünde werden in der ganzen Querfront - Szene - nicht nur von Viktor Orban- heute gern festgezurrt an Personen wie dem jüdischen Investor George Soros.

Es mag sein, dass die „illiberale“ (Viktor Orban) Gegenreformation unserer Zeit noch einige Jahre andauern wird, womöglich mit fort dauernden Angriffen auf ein offenes, friedliches Europa. Sollte sich der Zug anthroposophischer Kreise in den destruktiven, populistischen und irrationalen Trend als identitäres Element verstärken, würde sich die Verschwörungstheorie als Neo- Okkultismus ebenso wie fremdenfeindliche Hetze als „anthroposophisches Denken“ etablieren, wäre es wohl wiederum an Rudolf Steiner, mit einiger Irritation zu fragen: „But, my dear friends, what are you all doing?

Rückkehr nach Reims und Fluchten aus der Provinz. Meine Bücher im Mai

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Teju Cole via Bookforum
Die Selbstvergewisserung als moralisches, sexuelles, politisches, gesellschaftliches Wesen ist vielleicht in den mittleren Jahren das geringste Problem: Wenn man sich in Familie, Beruf, Interessen ausleben kann, bedarf es keiner irritierenden Selbstbeschäftigung- das Eingebundensein in den sozialen, ideellen und gesellschaftlichen Kontext trägt und prägt, sofern man einer der privilegierten Gesellschaften angehört, die gerade nicht umgewälzt und zerstört werden. Ein Individuum, gibt ihm im Sich- Ausleben eine spezifische Note, in der es sich getragen fühlen kann. Das ist im besten Sinne als soziale Inkarnation zu verstehen.

Dieser Note, die sich in einem sozialen Geflecht, in einem Sprach- und Ausdrucks- Zusammenhang und in einer Perspektive entfaltet, entspringt das sich im weitesten und im konkretesten Sinne verwirklichende Individuum. Solche Perspektiven sind das Privileg liberaler Gesellschaften, denn wer von der Hand in den Mund, von Tag zu Tag, von Mahlzeit zu Mahlzeit lebt, wagt an solche Perspektive nicht zu denken. Auch nicht, wer in einem Kulturkreis lebt, der von Klasse, Geschlecht oder jeden Aspekt des Alltags durchdringender Korruption determiniert ist.

Teju Cole, der nigerianisch- amerikanische Autor der großen Ode an New York, „Open City“ (1), hat auch ein Buch über sein seit nahezu zwei Jahrzehnten nicht mehr aufgesuchtes Herkunftsland Nigeria mit dessen Hauptstadt Lagos geschrieben- ein Frühwerk. Nicht nur die Korruption ist das von Cole dargestellte Problem, sondern eine alle Schichten durchdringender frömmelnder Aberglaube, man müsse sich nicht tatsächlich aktiv einsetzen, da die Dinge schon wahr werden würden, wenn man sie sich fest genug vorstelle: „Ich sehe ihn forschend an, finde aber keine Zeichen von Einsicht in seiner Mimik. Er schüttelt nur den Kopf, als würde er mich dafür bemitleiden, dass ich in meinem wissenschaftlichen Weltbild gefangen bin. Entspann dich! Gott hat alles im Griff. Und in seiner Haltung finde ich endlich den Schlüssel zu so vielem, was mir in den vergangenen Wochen aufgefallen ist. Die Vorstellung, dass etwas Realität wird, weil man es sagt, dass die Gesetze der Einbildungskraft stärker sind als alle anderen.“ (2)

Dieser feste Glaube an die Macht der Vorstellung scheint ein ferner, moderner Nachfahre des Animismus zu sein. Der Fatalismus bereitet den Boden für die Flucht der Einen und für die Ergebenheit der Anderen an die Verhältnisse, wie sie sind- egal wie korrupt sie erscheinen. Der Fatalismus geht bis in die Regierungsspitze: „Der Präsident der Republik ist unfähig, nicht permanent von Gott zu reden, hierin ist er seinen Wählern nicht unähnlich. Sein Lieblingsthema ist das »Image« des Landes. Präsident Obasanjo glaubt, den größten Schaden erführe Nigeria durch Leute, die das Land kritisierten. Kritik ist unpatriotisch. Er beharrt darauf, der einzige Fehler sei es, auf Fehler hinzuweisen. Man sollte ausschließlich gute Dinge sagen.“ (2) In diesem Sinne kann der Idealismus sich sich wie Bann über die Gesellschaft legen, selbst im 21. Jahrhundert: „In Nigeria bekomme ich häufig die Redewendung idea l’a need zu hören, also in etwa: Man braucht nur eine prinzipielle Idee, das Konzept. Man sagt das bei allen möglichen Gelegenheiten und meint: Das ist gut genug, kein Grund, sich in Details zu verlieren.“ (2)

Aber natürlich durchdringt die fatale Perspektivlosigkeit nicht nur Kontinente, sondern jede Biografie- auch die privilegierteste. Mit dem Altern, Krankheit und Tod schrumpfen die Möglichkeiten, schnurren zusammen auf ein einziges Zimmer, ein Bett, einen einzigen durchdringenden Schmerz. So ergeht es dem Erzähler Harry Chapman, einer 70jährigen Figur in Paul Baileys Roman (3), der zum seltenen Genre von Literatur des hohen Alters gehört. Chapman, ein schwuler, agnostischer Londoner Romancier, ist mit heftigen Magenbeschwerden ins Krankenhaus eingeliefert worden. In der Perspektive auf den Nullpunkt des Krankenhausbettes zusammen geschnurrt, entsteht zwischen einer fatalen Operation zur nächsten eine reiche Innenwelt des Erzählers, in der nicht nur seine längst verstorbene, ätzende Kommentare absondernde Mutter, sondern Sexpartner, Freunde, Penner, sogar geliebte Romanfiguren zwischen Ärzten, Besuchern und Krankenschwestern auftauchen und mit ihren penetranten Fragen und Einwürfen das Leben Chapmans aufrollen wie ein großes Tuch. Erfolge, Versagen, Begierden, Großmut- im Nullpunkt der Existenz, im Verschwimmen von Imaginationen und Realität, enthüllt sich das gelebte Leben, und die ungelösten Fragen treiben an die Oberfläche:

„-Oh Mother, you could tell me now.
-I could, if I had a mind to. But perhaps I haven´t.“ (3)

Ein Moment, das Chapman in diesem Kamaloka der verschwimmenden Perspektiven aufgeht, ist die Entstehung der eigenen intellektuellen Londoner Schriftsteller- Identität aus dem Widerstand gegen die Herkunft, die von Armut geprägt war.

Dieses Phänomen der Herkunft, diesen Widerstand gegen die Determination, hat Chapman mit Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ (4) gemein. Armut, Provinzialität, Vorurteil legen sich sich auch in den Perspektive- reichen westlichen Gesellschaft wie Schatten über die Biografien. Eribon, ein in Frankreich bekannter Soziologe und populärer TV- Philosoph, Linker und schwuler Aktivist, legt mit der „Rückkehr nach Reims“ ein Mittelding zwischen Biografie und soziologischer Betrachtung vor. Nach 30 Jahren bewusst abgebrochenen Kontakts zur proletarisch- kommunistischen, strikt homophoben Familie kehrt Eribon zurück, nur um festzustellen, dass die gesamte Familie inzwischen rechts wählte: „Wie konnte es dazu kommen, dass man in derselben Familie wenig später rechte oder rechtsextreme Parteien wählte und dies sogar manchmal als die „natürliche“ Wahl empfand? Was war geschehen, dass nun so viele den Front National wählten, die ihn zuvor intuitiv als Klassenfeind betrachtet und seine Vertreter genüsslich beleidigt hatten, sobald sie auf dem Fernsehschirm auftauchten (eine seltsame und doch wirksame Art, sich in dem zu bestätigen, was man ist und woran man glaubt)?“ (4)

Eribon ist keinesfalls der TV- Salonlinke, den man vermuten könnte, sondern geht sehr ehrlich mit sich und der Situation um. Das betrifft das Versagen der Linken (ohne „Sehnsüchte und Energien“) ebenso wie die eigene Karriere, das Selbst, das sich im Widerstand gegen das dumpfe Elternhaus bildete, die ewigen Minderwertigkeitsgefühle wegen der eigenen Herkunft und seiner Homosexualität, die Flucht in angeeignete Kultur und Bildungsbürgertum, immer im Bewusstsein des eigenen „Klassengefühls“: „Was mir vor allen Dingen unbestreitbar vorkommt, ist die Tatsache, dass ein solches Ausbleiben des Klassengefühls eine bürgerliche Kindheit kennzeichnet. Die Herrschenden merken nicht, dass ihre Welt nur einer partikularen, situierten Wahrheit entspricht (so wie ein Weißer sich nicht seines Weißseins und ein Heterosexueller sich nicht seiner Heterosexualität bewusst ist).“ (4)

Vor diesem Hintergrund beleuchtet Eribon, durch das biografische Element lebendig geschildert, Identität und „Transformationsprozesse des Selbst“ im Zusammenhang mit der sozialen Herkunft. In seinem Fall geht es um eine bewusst vorgenommene Trennung, um eine „Desidentifikation, die sich aus der immer wieder zurückgewiesenen Identität speiste“, die aber auch die Energie vermittelte, eine akademische und öffentliche Karriere zu bestehen. Reims bleibt für ihn die „Stadt der Beleidigung“, die homophobe Provinz. Paris dagegen war für ihn mit der Hoffnung verbunden, ein „freies schwules Leben“ führen zu können und ein „Intellektueller“ werden zu können (S. 223).

Reims hat politisch die Fahnen gewechselt, aber die Provinzialität so wenig verloren wie Coles Nigeria. Auch Teju Cole hat die Metropole vorgezogen, um eine Existenz und Identität begründen zu können. Die Fluchten aus der Provinzialität, Determination durch vorgefundene Rollen, soziale Klammern, Korruption, Religion und Apathie begründen die existentielle Selbstschöpfung, eine eigene Sprache und biografische Spur. Die Widersprüche zwischen der gelebten Moderne und den verfallenen Gespenstern vergangener Epochen könnten größer nicht sein, durchziehen die globale Gemeinschaft und spitzen sich in ihren Widersprüchen stetig zu.


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1 Teju Cole, Open City
2 Teju Cole, Jeder Tag gehört dem Dieb 
3 Paul Bailey, Chapman´s Odyssee, London 2011
4 Didier Eribon, Rückkehr nach Reims, Berlin 2017/ 13

Die Postfaktizität Judith von Halles

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Judith von Halle in Motief
Vor kurzem ist ein Von Michel Gastkemper geführtes Interview mit Judith von Halle erschienen- aus produktionstechnischen Gründen mit etwa 3 Jahren Verspätung, aber immerhin. Man kann nun auch vergleichen, wie die Zeit mit der 44jährigen anthroposophischen Architektin, Esoterikerin und Okkult- Autorin umgegangen ist, die vor Jahren mit ihrer Stigmatisierung und angeblichen Nahrungslosigkeit heftige Diskussionen bis hin zum SPIEGEL- Magazin ausgelöst hatte, aber zugleich der finanziellen Unterstützung vonseiten der Szene- Mäzene, Anthroposophen- Unternehmer und Verleger sicher sein konnte. Inzwischen erlaubt Frau von Halle auch die Ablichtung ihres Antlitzes, hat gewichtige Aufträge als Architektin und ermöglicht durch eine Autobiografie Einblicke in ihre Entwicklung.

Eine gewisse Rechtfertigung für ihre Erkenntnismethoden, die sie im Interview vorlegt, erscheint heute mehr oder weniger obsolet - sie sei, erklärt sie, keine bloße Hellseherin, sondern bewerte mit klarem Bewusstsein zugleich das von ihr Geschaute: „Wenn ich also beispielsweise eine Aussage machen will über die elementarische Welt, dann reicht es nicht, wenn ich mit meinem Bewusstsein in die elementarische Welt hineinsteige, sondern wenn ich eine Aussage über das elementarische Reich treffen will, muss ich mich auch – nachdem ich in dieser Sphäre wahrgenommen habe –, mit meiner rein geistigen Gedankentätigkeit über diese Sphäre erheben. Also das heißt: Ich muss mindestens bis zur imaginativen Stufe kommen, um über die elementarische Welt korrekte Aussagen machen zu können. Ansonsten würde man nur das Wahrgenommene beschreiben können, aber das wäre keine Erkenntnis. Wahrnehmung findet innerhalb der jeweiligen Sphäre statt, z.B. im Elementarreich, und da muss man auch hineinsteigen, wenn man das Elementarreich kennenlernen will. Aber die Erkenntnis muss in einer der darüber liegenden Sphären gebildet werden.

In der Folge führt Frau von Halle nicht gerade überraschende, aber womöglich selbst geschöpfte Erkenntnisse über das Engel- Bewusstsein, und die Erneuerung von Individuum, Moral und Erde durch Christus aus, einschließlich wohl bekannter Ausführung Rudolf Steiners über die „Sklerotisierung“ der Erde und eine kommende Überwindung des an das Gehirn gebundenen Denkens: „Und ich muss dafür sorgen, dass ich mir einen Leib schaffe, der mein Ich auch in Zukunft aufnehmen kann, wenn die materielle Erde und die materiellen Leiber weiter in einen Zerfall hineingehen.“

Das machen wir, Frau von Halle. Aber bis zu diesem Punkt im Interview finden wir keinen einzigen originellen oder originären Gedanken. Das gilt auch für von Halles Darstellung der anthroposophischen Streitkultur, die lediglich auf dem Beharren auf eigenen Standpunkten beruhe, und daher ihrer Meinung nach verbessert werden sollte, da sie in den Kinderschuhen stecke: „Wenn wir nur darauf aus sind, auf unserer persönlichen Meinung zu beharren, tragen wir zu einer Eskalation bei, nicht aber zu einer gemeinschaftlichen Erkenntnisbildung. Leider muss man feststellen, dass Kindern so etwas oft besser gelingt als uns Anthroposophen.“ Das alles klingt sehr banal, auch wenn von Halle -ein geschickter Spin- den scheinbar moralischen Appell speziell an Anthroposophen gibt, über den Tellerrand ihrer karmischen Peergroup hinaus zu schauen: „Das verbindende Element heißt Anthroposophie.“ Sie selbst sieht sich offenbar außerhalb der Ebene derer, die ihre okkulten Ausführungen für fragwürdig oder sensationslüstern halten, da diese im Gegensatz zu ihr in ihre „gravierenden karmischen Probleme(n)“ verstrickt und damit unfähig seien, „die Dinge objektiv“ zu sehen: „Wenn man also merkt, dass man eine persönliche karmische Beziehung zu jener Gruppe von Menschen hat, die in gravierende karmische Probleme verstrickt ist, dann sollte man zuerst prüfen, in wieweit man selbst in der Lage ist, die Dinge objektiv zu sehen oder in wieweit man doch selber so verstrickt ist, dass man unter Umständen befangen ist und sich eingestehen muss: in Wahrheit will ich gar nicht zu einer Einigung kommen.

Ihre Kritiker sind also - so die von ihr damit unterschobene, typisch anthroposophische Attacke, karmisch unreif und zu schwer moralisch- geistig belastet, um Judith von Halles Superiorität zu erkennen. Die aber bleibt ganz außer Frage- sie befindet sich in ihrer Eigensicht gar nicht auf einer gemeinsamen Ebene mit dem gemeinen anthroposophischen Pöbel, der nicht in der Lage ist, diese ihre Superiorität “objektiv“ anzuerkennen. Sie selbst muss sich damit nur vor himmlischen Kräften verantworten: „Und so stelle ich meine Arbeit in die Welt, indem ich mich vor Gott verantworte.“ Interviews und Diskussionen sei sie nur deshalb aus dem Weg gegangen, weil die Leute aus ihr einen Hype gemacht hätten und sensationslüstern gewesen seien: „..dass um meine Person zu viel „hype“ gemacht wird, und ich wollte das nicht noch befeuern durch Interviews, weil wirklich mein Anliegen die anthroposophische Arbeit ist und die Themen, die ich in meinen Büchern aufgreife. Und ich weiß, dass die Interviewpartner leider am wenigsten der Inhalt meiner Bücher interessiert, sondern das scheinbar Sensationelle meines Schicksalsganges..

Ach, bitte. Sich nun als die demütige, bescheidene Person darzustellen, der bitteres Unrecht geschehen ist, nachdem sie sich als als stigmatisierte Heilige vom anthroposophischen Bezirksverband Berlin inszeniert hatte, aus der Christus spricht und sie aus der Masse der sensationslüsternen Masse erhebt, ist ja die Finte des postfaktischen Zeitalters schlechthin. Verwesende Johannesse und von Schwarzmagiern wimmelnde Kreuzigungen pflastern ihren Weg. Sie hat sich als Marke, als Produkt erschaffen, das medial durch jeden Shitstorm gewinnt. Die Inszenierung als Opfer passt so wenig zu ihrem Eigen- Marketing wie ihre medialen und finanziellen Erfolge.

Vielleicht kann man sagen, dass uns drei Jahre später, nach Brexit, Trump- Kampagne, Putin- Trollen, diese postfaktische anthroposophische Inszenierung Judith von Halles nicht mehr weiter erschüttert oder auch nur verwundert. Die armen konventionellen Funktionäre der Anthroposophischen Gesellschaft können gegen solche medialen Rammböcke herzlich wenig ausrichten und wirken tatsächlich wie Schuljungen. So ist es ja sogar den Medienprofis Hillary Clintons ergangen- wenn auch auf einer anderen Ebene.

Vielleicht wäre das Phänomen von Halle auch weiter keiner besonderen Beachtung wert, wenn man nicht befürchten müsste, dass das in Agonie versinkende Funktionärstum anthroposophischer Prägung in Zukunft immer bizarrere postfaktische Phänomene dieser Art produzieren wird- mediale Gewächse, die Aufmerksamkeit erregen und den Frustrierten und Sektierern einen willkommenen Ersatz für ihre esoterischen Bedürfnisse bieten.

DOCTOR STEINER STOPS SMILING OR: BUT, MY DEAR FRIENDS, WHAT THE FUCK ARE YOU ALL DOING?

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Posted by Michael Eggert,   April 28, 2017
Translated by Tom Mellett,  May 4, 2017

Those were the good old days, yes, when young anthroposophists, hippies and seekers of alternative spirituality could still be gobsmacked with anecdotes of Rudolf Steiner's super-sensible abilities. Jeremy Smith still digs up such gems of super-sensible sensationalism on his Anthropopper blog --- sometimes just homespun reports of alleged statements of Rudolf Steiner, as super-sensibly received by super-sensible ladies still in the throes of their rapture.

Take Gladys Mayer (1888-1980), for example, who herself  had never been personally granted an audience with the Master himself while alive . . .

(„At length, I received stetig zunahm the instruction to go to Rudolf Steiner for further advice…I met him frequently for something over two weeks: each time I met him he greeted me with a smile and a warm hand-clasp. Each time I asked him, ‘May I come and speak with you?’ he put me off with the reply: ‘Frage mir nochmal (Not just yet).’ Friends in Dornach told me this did happen sometimes, and of course it had a reason…“)

. . . so she made the most of her situation by asking him post-mortem:

„At last, I could bear it no longer: I felt I must know more. I seized hold of him, as it were, with all my soul forces, and challenged him, saying: ‘Who are you?’ Then, as there came no answer, I asked wonderingly: ‘Are you the Christ?’ ‘Nicht so’ (Not so). Then, because these were German words, a further thought came to me. ‘Are you, can you be, he whom we know on earth as Rudolf Steiner?’ There was an instant stillness, and then the answer came softly, ‘Eben so’ (Even so).

In this way, Ms Mayer was able to interview Steiner after his death --- he who, in all openness (and also in terrible German), imparted his opinions to her on the devastating internal battles raging among the orphaned members of the Society about positions of power and what direction they should go:

After Steiner’s death in 1925, Gladys Mayer was one of those people who was very upset by the dissensions and splits that occurred between factions in the Vorstand and in the wider General Anthroposophical Society: “Once in those first years, I heard his voice again, in a kind of despairing wonder: ‘Aber, mein lieben Freunde, was tun si alle?’ (‘But, my dear friends, what [the fuck] are you all doing?’)“

This is the question that Doctor Steiner may still have to deal with in the spiritual world to this very day, given the infighting between those nominalists and spiritualists, the individualists and occultists, the socially adept and the reactionaries, the practical folks and the loony mystics have all bequeathed to the movement nearly one hundred years of trench warfare and endless arguments about anthroposophical identity.

Behold the mind-numbing internal discussions:  like constitutional questions about the legitimacy of the Anthroposophical Society, the significance of the Rudolf Steiner publishing house, the inheritance claims of wife Marie and many others. Not only do these have absolutely no significance for the outside world, but they also shackle energies and breed social isolation to the point that the eccentricity of the movement has kept on growing steadily all the while these “world conferences” of self-aggrandized universal significance keep happening.

With uncanny regularity do clairvoyants and visionaries appear, even Christ seers blessed with Stigmata, and all of them together cement the reputation of an esoteric Valhalla on the Dornach hill, just as much as do the latent right-wing extremist, anti-liberal, conspiracy-theory orientation of so many other protagonists. In the wake of PEGIDA [far-right German political group  “Patriotic Europeans Against the Islamization of the West”]  and right-wing populists, the myths of the Great American Conspiracy, as far as 9/11 are concerned, are still served up by prominent anthroposophists and magazines, despite well-known public warnings about the reliability of their sources and the careless application of them. The fact that sources are either omitted, or else quoted to distort meaning and then reproduced in a biased way is not surprising. Arguments about it, like here on Facebook, ultimately lead nowhere.

The mix of real data, with details that are cherry-picked and emotionally charged plus an intention to propagandize creates a hybrid reality of “alternative facts” à la Daniele Ganser, who is also praised, heard and interviewed in this same scene. Obviously, following the populist Zeitgeist, a shift took place from the usual eccentric self-centered enlightenment of earlier anthroposophical discussions to no less dubious political positioning --- the occultism of the Trump era greets us with its nationalistic, xenophobic, and ostensibly elitist-critical tinges.

Evidently the contemporary anthroposophical sense of identity favors an anti- mainstream attitude, all expressed in the very phraseology of the new right and the Querfrontier [3rd Position = beyond left & right.]. This also corresponds to an anti-intellectual and anti-materialist positioning of Rudolf Steiner, which, in his time, had to come across as unearthly with its "scientifically" self-understood spiritual science.

Since then, this positioning was not really so abused by the Nazis that a relapse into such rhetoric must appear disreputable, not the least because the anti-intellectual attitude today is to be understood as an anti-Semitic code language [dog-whistle] just the same as the anti-elitist. The alleged elites and secret societies in the entire Querfront [3rd Position] scene --- not just Victor Orban [President of Hungary] --- now happily implicate people like  Jewish investor George Soros.

It may be that the "Illiberal" (Viktor Orban) Counter-Revolution of our Time will continue for several years, possibly with unrelenting attacks on an open, peaceful Europe. Should these traits of anthroposophical circles be reinforced into destructive, populist and irrational trends as an element of their very identity, then conspiracy theory would become established as a Neo-Occultism just as xenophobic rabble-rousing would morph into “anthroposophical thinking.”   If only we could once more hear Rudolf Steiner, who, with some irritation, asks: “But, my dear friends, what the fuck are you all doing?”



Mit herzlichen Grüßen vom Goetheanum oder: Irgendwie, irgendwann, irgendwo

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Das Problem ist schon ewig bekannt: Das des anthroposophischen Schismas - unüberwindlich, ehern, global: Die Tochterbewegungen wie Waldorfschulen funktionieren notwendigerweise innerhalb ihres sozialen und gesellschaftlichen Kontextes pragmatisch, aber jedenfalls ohne den Geist, der aus Dornach weht. Und Dornach richtet zwar Tagungen, Kongresse und Festspiele aus, in denen es sich selbst zelebriert- bleibt aber ansonsten weitgehend Geist ohne Pragmatik, eine Insel der Seligen, die auf dem Hügel sich selbst genug ist. Selbst überaus pragmatische Persönlichkeiten, die auf fernen Kontinenten viele Jahre lang in Brennpunkt- Vierteln konkrete Arbeit geleistet haben, werden, wenn sie in Dornach tätig werden, von diesem ätherischen Inselreich nach kurzer Zeit eingeatmet, sprechen in dem Insel- Jargon, denken in den Insel- Kategorien und klingen durchweg wie Michaela Glöckler. So erhält Dornach seit Jahrzehnten einen Touch von Kafkas Schloß oder von Thomas Manns Zauberberg: Von ferne klingen die Töne der umtriebigen Welt, aber gedämpft.

Natürlich möchte die Anthroposophische Gesellschaft immer wieder etwas ändern. Bei aller Liebe zur Selbstliebe geht es dem Anthroposophen ja darum, Impulse in die Welt zu setzen. Dumm, dass die niemand vernimmt- nicht einmal (vielleicht am wenigsten) die Tochtergesellschaften. Deshalb hat Dornach letztes Jahr eine Weltkonferenz angesetzt, an der 800 Menschen darüber nachdenken sollten, wie das zu ändern sei. Nun kann man das Skript all der Impulse herunterladen und nachlesen. Und, um es von meinem Standpunkt aus auszudrücken: Es ist kafkaesk wie eh und je: Lauter Impulsreferate ohne jeden Impuls.

Mittendrin verrät Michaela Glöckler immerhin das bis dahin nicht artikulierte Dogma: Streitkultur gibt es nicht, die ist verpönt: „Schon als Kind hatte ich das Glück, von meinem Vater zu lernen:
Wo Streit ist, zieht sich die geistige Welt zurück. Daher liebe ich den hier und da so gern zitierten Begriff der „Streitkultur“ nicht. Ich sehe es vielmehr als nötig an, ihn durch die Begriffe einer „Verständniskultur“ oder „Friedenskultur“ zu ersetzen. Solche Kulturversuche sind keine „Totschweigekulturen“, die Auseinandersetzungen nicht zulassen – nein: Entwicklung braucht ja die Steigerung, die nur durch Positionsspannungen und echte Auseinandersetzungen und Geisteskämpfe möglich wird –, jedoch bei voller Anerkennung der Menschenwürde. Diese aber sehe ich im Streit verletzt.“

Ja, ja. Habe ich den Vortrag nicht schon ihr gehört? Vor 15 oder 18 Jahren? Oder war es ein anderer dieser sanftmütigen anthroposophischen Gurus, die dennoch fest im Sattel sitzen und wieder einen neuen Leitungskreis gegründet haben, in denen sie mit dem Vorstand residieren und ihre Impulse in die Welt senden? Zum tausendsten Mal beschwört Michaela Glöckler eine „michaelische Kultur“, die „Entwicklungsbedingungen“ schaffe. Nicht für die Menschen, nicht für die erschütterte Welt, nicht für die in Zuckungen liegenden Streitparteien an jeder einzelnen Bruchstelle unserer Gesellschaften, sondern um „etwas zu beginnen, was vielleicht für den „Lehrer der Menschenliebe“ und die geistige Welt interessant sein könnte.

Wovon natürlich niemand weiß, worum es sich handelt. Die ätherische Selbstbezüglichkeit zeigt sich auch in der methodischen Vorgabe, dass alle Impulse dieser Tagung von dem Grundsteinspruch Rudolf Steiners auszugehen hatten, die dann auch fast jeder Redner in typisch Dornacher Diktion zu interpretieren versucht- auch mit rühmlichen, positiven Ausnahmen. Frau Glöckler, als intrinsisch Dornacher Gewächs, allerdings stellt, aus dem Grundsteinspruch abgeleitet, lediglich dar, dass Anthroposophen Anthroposophie durch Nachahmung, eigene Lebenserfahrung oder durch Einsicht verinnerlichen könnten. Ja, es gibt verschiedene Arten der Verdauung. Für sich selbst konstatiert sie stolz, dass sie diese Verdauung seit 28 1/2 Jahren kontinuierlich praktiziere (und damit den Stillstand auf geradezu herausragende Art und Weise repräsentiert):

Ich habe mich sehr gefreut, dass die Thematik der Grundsteinmeditation zum Fundament für unsere Arbeit bei dieser Michaeli-Begegnung am Goetheanum gewählt wurde. Denn sie hat auch meine Leitungstätigkeit in der Medizinischen Sektion am Goetheanum durch die vergangenen 28 1/2 Jahre begleitet.“ Aber irgendwie, irgendwann, irgendwo könnte eventuell das innere Licht durch noch mehr Verdauungsprozesse Dornacher Art zum „Weltenwesenslicht“ führen, woraufhin die Welt erlöst wäre und endlich, eventuell, Probleme dieser Welt konkret angegangen werden könnten : „Ideale sind nicht Sterne, die man vom Himmel holen und hier und jetzt verwirklichen oder mit fanatischen Parolen erkämpfen kann – nein: Ideale sind geistig Erschautes, das wesenhaft werden möchte dadurch, dass Menschen diese Ideale zu leben versuchen. Geschieht dies, so kann das Weltenwesenslicht das freie Menschenwollen erleuchten.“

Nein, erkämpft nichts. Setzt Euch nicht ein für die konkreten Probleme. Kommt auf unsere kleine Insel und verdaut mit uns, im geistbeseelten Takatukaland. Irgendwann erleuchtet uns der geistige Führer, und dann wird alles gut. Bis dahin ist sich Dornach, auch in der globalen Welttagung, weiterhin selbst genug und verschiebt die Initiativen aufs nach-michaelische Irgendwie, Irgendwann, Irgendwo.

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Download: http://www.goetheanum.org/fileadmin/aag/GV2017/GWK/Weltkonferenz_deutsch.pdf
Download englisch: http://www.goetheanum.org/fileadmin/aag/GV2017/GWK/World_Conference_english.pdf

Anthroposophische Nationalisten, revisited: Eine Blog- Attacke vom Juni 2016 neu angesehen

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Anmerkung ein Jahr später- nach dem Brexit, nach ausgebliebenem Frexit, nach den wehrhaften Niederländern und einer gewissen Ernüchterung, Präsident Trump und seinen Guru Bannon betreffend: Die illiberale Welle ist, wie Mitte 2016 befürchtet, über die Gesellschaften herein gebrochen, aber sie erweisen sich als lernfähig und als bereit, damit umzugehen. Selbst die Botarmeen, die instrumentalisierten Wikileaks und die korrupten Medienagenturen des hybriden russischen Krieges werden inzwischen als solche erkannt, relativiert und zunehmend weniger wahlentscheidend: So jedenfalls die "Enthüllungen" gegenüber Emmanuel Macron, der sich sowohl russischen wie amerikanischen Attacken kurz vor Öffnung der Wahllokale ausgesetzt sah. Die Wähler hat das nicht mehr beeindruckt. Den manipulativen, destruktiven Manipulations- Methoden der Russen, die im Wahlkampf gegen Hillary Clinton - wahrscheinlich auch bei der Brexit- Entscheidung, gemeinsam mit dem Yellow- Press- Verleger Murdoch- so erfolgreich gewesen waren, ist damit nun ein gewisser Riegel vorgeschoben.

Aber es ist auch in den Auseinandersetzungen hier, sogar was den anthroposophischen Kontext betrifft, ein Abbau der Spannungen bemerkbar. Anthropopper - die britische Website Jeremy Smiths- erwähnt meine unteren Attacken auf ihn bzgl seiner Pro- Brexit- und Anti- EU- Positionierung auch in einem aktuellen Artikel. Er bleibt bei seiner in der anthroposophischen Szene verbreiteten "anti- globalisierten" Sicht. Ich möchte aber doch mit folgender Erklärung wenigstens die Heftigkeit meiner damaligen Kritik an ihn aus heutiger Sicht relativieren und entschuldigen:

Ich bedauere, mich im tagespolitischen Geschäft sehr explizit und scharf über Jeremy geäußert zu haben. Das geschah aus der Situation heraus, die bestimmte Kommentatoren in seinem Blog einschloss, eine sehr schwierige Situation in Europa, ein internationales Aufflackern nationaler Egoismen und schließlich eine bodenlose UKIP Kampagne. Zumindest der Druck auf den Zusammenhalt der Staatenverbünde lockert sich mit den Niederländern und den Franzosen. Damals, vor einem dreiviertel Jahr, sah die Situation deutlich gefährlicher aus. Die EU, aber auch viele Staatschefs, formieren sich neu, den Rechten, den russischen Manipulationen, aber auch den Webfehlern der EU - Struktur entgegen zu wirken. Vom jetzigen Zeitpunkt aus ist es nicht mehr nur die Opferung eines friedlichen Staatenverbunds zugunsten nationalistischer, kurzfristiger Effekte. Dies und andere Probleme - der Verlust der historischen Mittelachse Frankreich, Großbritannien, Deutschland, einem austarierten Gebilde, sagen wir mit Bedauern Ade. Es ist immer ganz gut, den Deutschen auf die Finger zu schauen, vor allem seit der Wiedervereinigung. Also Verzeihung für meine heftige Reaktion- den Kontext habe darzulegen versucht.

Hier nun der ursprüngliche Beitrag: 

Der Ärger eines anonymen Kommentators ("Jeremy Smith the Waldorf School Inspector and his side-kick Gemma the ignoramus soul sucker.") soll nicht ganz unerläutert bleiben, obwohl ich eigentlich nicht vorhatte, einzelne Beiträge des Blogs von Jeremy Smith zu kommentieren. "Anthropopper" entspricht in vieler Hinsicht den heute typischen, weit verbreiteten anthroposophischen Standpunkten, wie sie sich rund um den Globus in sozialen Netzwerken, Newsletters, Zeitschriften und Internetseiten darstellen, wobei ebenso typisch bleibt, dass diese typischen Sichtweisen sich als konträr zu einem vorgestellten "Mainstream" stehend sehen. Damit ist schon, nicht nur von den Inhalten her, eine Haltung eingenommen, die hierzulande der von AfD- und in Großbritannien Brexit- Anhängern entspricht.

Anthropopper kritisiert natürlich auch die Anthroposophie- Kritiker. "Anthroposophie", wie sie von Smith gesehen wird, wird als Ideal verteidigt, insbesondere dann, wenn der Vorwurf des Sektiererischen erhoben wird: No, anthroposophy is not a cult. Sektiererisch sei "Anthroposophie"* nicht, weil Steiner ja selbst gefordert hätte, seine Aussagen zu prüfen. Hier und da gäbe es vielleicht Anthroposophen, die mit Hilfe von Steiner- Zitaten esoterische Autorität einfordern würden, das sei aber keineswegs die Regel: "Anthroposophists who are given to quoting Steiner on all subjects rather than speaking from their own experience and knowledge are not doing what Steiner asked of them – and such behaviour does not make anthroposophy a cult, even if a few anthroposophists sometimes can give that impression."

Zweifel seien - so Smith- substantiell für Anthroposophie, es gäbe keinerlei Zwänge in Auffassungsfragen, ja geistige Freiheit sei der Kern des anthroposophischen Denkens: "The word “must” does not exist in the anthroposophical vocabulary, since freedom is at the core of anthroposophy." Obgleich Steiner von Anthroposophen als "Initiierter" - also als unumstössliche geistige Autorität in jedem Detail seiner Aussagen- aufgefasst werde, würden sie sich selbst als Anthroposophen keineswegs als elitär erleben, sondern, ganz im Gegenteil, eng mit "der Welt" verbunden bleiben: "As mentioned under (1) above, anthroposophists often regard Steiner as an initiate and anthroposophy certainly sees itself as having much to contribute towards current world problems – but there is no sense in which anthroposophists regard themselves as an elite separate from the rest of society."Und schließlich gäbe es natürlich keine Führer und Leiter der Anthroposophie- von Steiner einmal abgesehen: "Since Steiner’s death in 1925, there has been no ‘leader’ of anthroposophy."

Das ist nur ein kleiner Teil der griffigen Argumentationskette, die aufzeigt, wieso sich Anthroposophen Anthroposophie vorstellen, ohne die impliziten Widersprüche zu bemerken. Keine Autoritäten, außer der von Steiner, der aber dennoch keine Autorität darstelle, auch wenn ihm niemand unter den lebenden und verstorbenen Anthroposophen das Wasser reichen könne. Keine Bluffs bezüglich nachgebeteter und abgeleiteter okkulter Selbstdarsteller, da Anthroposophie per se "Freiheit des Denkens" repräsentiere, obwohl das Internet, die Seminare und Hauspostillen überquellen von angemaßten Esoterik- Steiner- Nachbetern. Selbst ein Katechismus wie dieser hier von Smith aufgezeigte, wie man Anthroposophie aufzufassen habe, ist ja selbst die Postulierung eines Ideals, das vor allem echte kritische Nachfragen abwürgen und die bedenklichen Auswüchse im anthroposophischen Umfeld negieren will. Seis drum.

Was der oben genannte Kommentator noch meint, ist vielleicht die politische Positionierung des freiheitlichen Denkers Smith und seiner Gefolgschaft. Denn Smith ist erwartungsgemäß Pro Brexit, stimmt also ein in den Chor der neo- nationalistischen Reaktionäre. Seine erste und größte Klage ist die, dass die Brexit- Gegner die Ermordung von Jo Cox im Rahmen der rassistischen Brexit- Kampagne instrumentalisieren könnten, um die Abspaltung Britanniens noch zu verhindern: "Jo Cox had been a fervent advocate for Remain and her death seems to have coincided with opinion polling showing increasing support for Remain and the tide turning against Leave. It was distasteful to see some of the leaders of the Remain campaign try to suggest that her death was in some way the fault of those who want to leave the EU." Wie ekelhaft ist das denn?

Wer es sich antun möchte, lese nicht nur den weitschweifigen Artikel, sondern auch die Kommentar- Linie, in der z.B. "Gemma" das ganze Repertoire der heutigen Populisten aufbietet, um z.B. die EU als verdammenswerten "ahrimanischen" Apparat darzustellen. Sie wissen schon, was folgt, wenn Sie als Leser ein wenig vertraut sein sollten mit den heute gängigen neo- rechten und offen faschistischen Verschwörungstheorien. Die Zutaten bzgl. Antiamerikanismus und Antisemitismus sind die gleichen, wenngleich hier überhöht mit eben den pseudo- okkulten Bluff- Argumenten, die so viele gläubige Steiner- Anhänger aus seinen Aussagen von vor 100 Jahren ableiten.

Smith selbst spiegelt auch die internen Argumente der UKIP- Anhänger, was die Struktur des politischen Systems Großbritanniens angeht: "This result will be a salutary shock to London, which voted overwhelmingly for Remain. It is revealed as an arrogant and centralising city state, out of touch with the rest of England." Dass die UKIP- Kampagne, deren Vertreter inzwischen so kläglich vor den Folgen ihrer Initiative von Bord gesprungen sind, die rassistische und nationalistische Karte gezogen haben, um mit Hilfe eines Medien- Moguls wie Murdoch die Massen zu täuschen, irritiert den "Freiheitsdenker" Smith nicht im geringsten. Falls er und seine Mitstreiter(innen) tatsächlich die repräsentative Haltung von "Anthroposophie" darstellen sollten, wäre diese in billigsten rechten populistischen Meinungsströmen, im braunen Mainstream- Sumpf versickert,  kaum unterscheidbar von reaktionären, rassistischen "Soul suckern" und Rattenfängern.

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* von mir in Anführungszeichen gesetzt, weil es meiner Meinung nach keine "Lehre", keinen Katechismus dieses Namens gibt, sondern allenfalls eine historische Bewegung

Rainer Herzog: Zu Sebastian Gronbachs „Maßlos lieben“

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Sorry, liebe Gronbach-Fans, aber ich muss gestehen, dass ich diese "evolutionary postmodern guru" Geschichte nicht ansatzweise ernst nehmen kann. Ich werde auch einigermaßen sauer, wenn ein selbsternannter "spiritueller Lehrer" erst einmal im Vorwort seines Buches erklärt, dass der Verstand natürlich beim Lesen seines Buches auszuschalten ist:

"Der Verstand wird 1001 Gründe suchen, warum mein Geschenk an Dich nicht der Schlüssel für wirkliche Befreiung und glückliche Erfüllung sein könnte".

Nein. Es reichen 3 - 4 Gründe. Der Verstand ist eine großartige Angelegenheit - verbunden mit Empathie, Gefühl und einem gesunden Pragmatismus kann man damit weit kommen und viel bewirken. Nebenbei ist der Verstand auch ein entwicklungsnotwendiges-evolutionäres (!) Geschenk der Götter an die Menschen (anthroposophisch Interessierte wissen das). Der in jedem 2ten billigen psychologischen oder spirituellen Buch auftauchende Hinweis "Man sieht nur mit dem Herzen gut" wird amüsanterweise häufig von denen vorgetragen, die meistens zu faul sind, ihr Denken zu benutzen.

Mit dem Verstand kann man auch relativ schnell erkennen, dass der "Guru-Weg" sich längst überholt hat (sich auch nur bedingt auf westliche psychische Konstitutionen und Lebensweisen anwenden lässt). Man lese doch vielleicht mal lieber "Liegestütz zur Erleuchtung" von Andre van der Braak über Andrew Cohen und seine jahrelangen gezielten, teilweise extremen Demütigungen seiner Schüler. SG ist übrigens ein erklärter Fan von Cohen (weil dieser ja auch gaaanz, gaaaanz viel das Lieblingswort "evolutionär" benutzt, und zudem laut SG "nicht Mainstream" ist). Ebenso empfehlenswert zu diesem Thema, der Film "Guru"über Osho/Bhagwhan.

Skurrilerweise ist ausgerechnet der ehemalige Anthroposoph SG der spirituelle Lehrer, der am meisten auf sich selbst, seine Person hinweist und den "Guru-Weg" wieder und wieder thematisiert (Er nennt es dann etwas anders, in dem Stil, "blicke auf mich, dann erblickst Du Gott" usw. Manchmal schreibt er sogar, dass der "Guru-Weg" der "absolut natürliche Weg" (!) sei). Warum hat er das nötig? Liegt es vielleicht daran, dass er keine wirkliche "Lehre", keine Methode hat, die er seinen Schülern anbieten kann? Dass er deshalb nur auf sich zeigt? Man hat auch ein bisschen bei ihm den Eindruck, es geht ihm vor allem darum, besonders positiv, dynamisch und gut drauf zu sein.

Es gibt ausgezeichnete moderne (nichtanthroposophische!) Lehrer, wie Rupert Spira, Jeff Foster, A.H. Almaas, Christian Meyer, die eine Methode anbieten, einen Übungsweg und nicht in einer maßlosen Selbstüberschätzung Schüler an sich binden. Übrigens auch Eckhart Tolle: Ein Weg wird gezeigt, einige Hinweise, mehr nicht.

"Meine Worte jedoch sind die kostbarsten Perlen der Weisheit". Soso.

"Like die Worte, bevor Du sie liest" hat er tatsächlich aus Facebook für sein Buch übernommen. Noch schräger geht`s wohl nicht mehr.

Das in diesem Buch vorgestellte Prinzip über "Mann und Frau" ist auch, bei genauerem Hinsehen, eine spirituell verbrämte Idealisierung von weiblichen/männlichen Rollenklischees; ich kann, wie gesagt, die diesbezügliche Begeisterung nicht teilen, das geht wohl echt nur, ohne Verstand (Auf FB ist es ja immer ganz lustig zu beobachten, dass manche Schüler jedes Wort des Meisters anscheinend für eine göttliche Offenbarung halten und prinzipiell alles von ihm liken). SG schreibt z.B. über die ideelle Liebe der Frau, sie wäre "ein Darbieten des tiefsten Punktes zur Befruchtung - ein Sterben zum Aufblühen in die höchste Blüte..."; "Mach mit mir was Du willst. Ich bin Liebe". Hingegen beim Mann? Klar, das liegt nahe, natürlich eher "Bereitschaft, Tatendrang...eine aufrichtige furchtlose Haltung..." usw. Wie oft hat man das schon gelesen...? (Eine spirituell anspruchsvollere Darstellung über das wichtige Thema der Liebe von Mann und Frau findet man in Massimo Scaligeros "Traktat über die unsterbliche Liebe")

Schade, SG ist sonst besser, eigentlich ein talentierter und nicht unsympathischer Mensch. Wäre schön, wenn er die Gurugeschichte irgendwann hinter sich lässt.

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Sebastian Gronbach, Maßlos Lieben: Tief, offen & erwacht: göttliche Beziehungen, On- demand- Druck, 2017

Sprachliche Distanz – Herausforderung, Hindernis oder Anregung? Oder: Gibt es den endgültigen Text?

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Ingrid Haselberger



Veranstaltungskalender Sektion für Schöne Wissenschaften
In der Zusammenfassung der Vorträge und Arbeitsgruppen-Ergebnisse der Weltkonferenz am Goetheanum wird unter vielem anderen auch über das Referat berichtet, das Marcelo da Veigaim Rahmen der nachmittäglichen Fachgruppenarbeit der Sektion für Schöne Wissenschaften hielt.
Vor kurzem wurde in einem Blog-Kommentar darauf Bezug genommen.
Da das die Fachgruppe war, an der ich selber teilgenommen habe, ergreife ich die Gelegenheit, über die Diskussionen zum Thema „Sprachliche Distanz“ zu berichten und einige eigene Gedanken daran zu knüpfen. Ich ziehe dabei nicht nur meine (teils noch sehr lebhafte) Erinnerung, sondern auch meine damaligen Aufzeichnungen zu Rate.

Marcelo da Veiga schilderte zunächst die Entwicklung der Philosophie, als Ursprung aller Wissenschaften:
Zu Beginn war die Philosophie ganz sachbezogen – man fragte nach der Wirklichkeit, nach den allerersten Gründen des Daseins.
Später wurden diese Fragen, und damit die Philosophie selbst, mit der Religion assoziiert – im Mittelalter mutierte die Philosophie daher zur »Magd der Theologie«.
Im 18./19.Jahrhundert wurde die Philosophie mehr und mehr personenbezogen– vor allem im deutschen Sprachraum bildeten sich Philosophenschulen, die jeweils die »Wahrheit des Meisters« vertraten. Philosophisch-wissenschaftliches Arbeiten war nun vor allem Exegese der vorliegenden Werke der »Advokaten« verschiedener Philosophen (Kant, Fichte etc).
Im 20. Jahrhundert erschien Philosophie degradiert zur Hilfswissenschaftfür die Natur- und Sozialwissenschaften.
Nun aber besinne man sich (vor allem im amerikanischen Raum) mehr und mehr auf die Phänomenologie, auf Husserls Forderung, sich bei der analytischen Betrachtung der Dinge an das zu halten, was dem Bewußtsein unmittelbar (phänomenal) erscheint.
In Amerika gebe es inzwischen, so da Veiga, »Argumentationswettbewerbe. Man liest gar nichts mehr.« Die Diskussion sei ganz sachbezogen geworden, man berufe sich auf keine Autoritäten mehr, es gelten nur noch Argumente.

In der oben verlinkten Zusammenfassung heißt es (S 131):

»Der Umgang mit Anthroposophie ist auch im 21. Jh. indessen noch stark exegetisch geprägt und erhält durch die editorische Tätigkeit von Christian Clement derzeit sogar neuen Auftrieb. Anthroposophische Geisteswissenschaft will sich aber, ähnlich wie die Naturwissenschaften es mit unterschiedlichen Ausschnitten der natürlichen Wirklichkeit jeweils tun, mit geistiger Wirklichkeit befassen. Welche Rolle das überlieferte schriftliche Werk Rudolf Steiners in Zukunft dabei spielen kann oder muss, gilt es – auch in Anbetracht einer immer größer werdenden sprachlichen Distanz zu beforschen und neu auszuloten.« 

In der Anthroposophie, so da Veiga, herrsche »extreme Personengebundenheit«, das genaue Gegenteil von Sachbezogenheit – wenn man sie als Wissenschaft verstehen wolle, begegne man daher häufig dem Einwand: »Das ist ja eine Ein-Mann-Wissenschaft!«

Marcelo da Veiga schilderte »zwei Gesten« der Anthroposophie:
Einerseits die
Verständigung des Bewußtseins mit sich selbst, andererseits die Darstellung des Übersinnlichen.
Anthroposophie sei »weder eine Heilslehre noch ein Heilsweg«, sondern es gehe darum, »das intellektuelle Denken anknüpfungsfähig zu machen für die Geistige Organbildung«: Die Darstellung übersinnlicher Inhalte solle helfen, Organe auszubilden, die dann ein Erkennen ermöglichen. Die Darstellung/Überlieferung sei also nur ein »Vehikel«, aber nicht die Sache selbst.

In meinen Worten:
Ein Text, und sei er auch von Rudolf Steiner, ist nicht dasselbe wie die Geistige Wirklichkeit. Und so wie sich Rudolf Steiner als Geisteswissenschaftler nicht ausschließlich mit Texten anderer befaßte, so kann es auch heute nicht die Aufgabe der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft sein, sich ausschließlich mit Textexegese zu befassen.
Martin Basfeld sagte dazu (diesen Satz habe ich wörtlich mitgeschrieben): »Steiners Texte regen an, dorthin zu kommen, wo reales Geistiges sich aktuell vollzieht.«

Für eine solche Anregung aber kann das, was als »sprachliche Distanz« bezeichnet wurde, ein Hindernis sein: die gesprochene Sprache entwickelt sich weiter, die Sprache des Textes aber bleibt stehen in der Zeit, in der der Text geschrieben wurde. Basfeld bezeichnete das als »riesige Barriere – die Texte werden immer unverständlicher.«

Marcelo de Veiga erzählte von den Erfahrungen mit der Übersetzung Steiner’scher Texte: da sei man von vornherein mit dem Problem der Sprachentfernung konfrontiert — und selbstverständlich übersetze man Steiner in das heutige Portugiesisch, und nicht in das Portugiesisch, wie es vor hundert Jahren gesprochen wurde.

Ich erinnerte mich daran, was ich vor einiger Zeit in dem Büchlein Geistige Schau und irdischer Ausdruck (Verlag Freies Geistesleben, 2001) von Rudi Lissau gelesen habe – ich habe die Stelle jetzt herausgesucht:

»Im Vorwort zu seiner neuen Übersetzung der Philosophie der Freiheitins Englische spricht Michael Lipson von der wunderbaren Möglichkeit, die englisch sprechende Menschen haben, von Zeit zu Zeitdieses Werk in ihre Sprache zu übersetzen. […] Gerade die Tatsache, sagt Michael Lipson, dass wir wissen, dass unsere englische Sprache nicht die idealen Worte für Steines Ausdrücke besitzt, gibt uns ein lebhaftes Gefühl für sein Ringen, das Unsagbare in Worte zu fassen. So kann Michael Lipson sein Vorwort mit den Worten schließen: «Hier haben wir einen Vorteil deutschsprachigen Lesern gegenüber, die der Versuchung unterliegen, ihre Version des Textes für die endgültige zu halten.»«
  
Auch Owen Barfield, der Steiner-Texte ins Englische übersetzte, hatte es als einen Vorteilder amerikanischen Anthroposophen betrachtet, daß eine Übersetzung immer auch eine Aktualisierung der Sprache mit sich bringt.

Um diese Probleme bewegte sich die Diskussion in der Fachgruppe der Sektion für Schöne Wissenschaften: Soll man auch im Deutschen Steiners Sprache „aktualisieren“ – oder soll man im Deutschen auf diesen selbstverständlichen „Vorteil“ des unmittelbareren sprachlichen Zugangs verzichten, der sich in Übersetzungen selbstverständlich ergibt?

Marcelo da Veiga machte darauf aufmerksam, daß ein Übersetzer ja niemals direkt die Wörter aus der anderen Sprache überträgt, sondern er muß zuerst Klarheit gewinnen über das Gemeinte, die Begriffe – um dann diese Begriffe in die Worte der betreffenden Sprache zu fassen.
Martina Maria Sam bezeichnete Steiners Sprache nicht als veraltet, sondern im Gegenteil als eine »Sprache der Zukunft«, und wies darauf hin, daß in jeder Übersetzung der Text »vorverdaut« erscheine, »auf das Verständnis des Übersetzers heruntergebrochen«.
Und auch Tomáš Zdražil (früher Klassen- und Oberstufenlehrer in Tschechien, lehrt an der Freien Hochschule Stuttgart) plädierte für die Beibehaltung der Originalgestalt und erzählte: »Ich habe Deutsch gelernt an Steiner.« Durch das Lesen in Steiners Original-Sprache könne man die Entwicklung Rudolf Steiners mitvollziehen und daran anknüpfen und fortsetzen.

Sind also Steiners Texte für alle Zeiten in Stein gemeißelte, endgültige Darstellungen?

Dazu noch einmal Rudi Lissau (Geistige Schau und irdischer Ausdruck):
»Aber die geistige Welt spricht weder deutsch noch englisch noch sonst eine Erdensprache. […] Die Vokabeln unserer Sprachen stammen […] größtenteils aus dem Bereich der Sinneswelt, manchmal auch aus den Bedürfnissen der menschlichen Seele. So überrascht es nicht, dass Steiner immer wieder ausruft, unsere Sprache sei einfach nicht imstande auszudrücken, was wirklich geschieht, wenn Wesen mit Wesen verschmilzt. Immer wieder begegnen uns als Leser der Vorträge Steiners Stellen wie «ich kann das nur andeuten» oder «ich kann das nur in stammelnden Worten sagen». Das ist keine falsche Bescheidenheit, das sind keine Floskeln, das ist einfach eine Tatsache oder auch manchmal Ausdruck der Verzweiflung. Ein erschütterndes Beispiel findet sich in dem Dornacher Arbeitervortag vom 17. März 1923. Steiner beschreibt da seine mühevolle Vorbereitung auf den Vortrag, die Suche nach geeigneten Worten und sagt, dass der ärgste Augenblick immer erst nach Beendigung des Vortrags komme. Denn «nachher … kriegt man erst recht Angst, dass die Worte eigentlich nicht das Richtige bezeichnet haben».«
  
Ich würde dafür plädieren, daß es im Umgang mit den Mitteilungen Rudolf Steiners ganz Verschiedenes geben sollte – aber jeweils genau bezeichnet, sodaß der mündige Leser weiß, woran er ist mit dem Text, den er in Händen hält:

Einerseits die Originaltexte der Schriften, so wie Rudolf Steiner sie niedergeschrieben hat.

Andererseits die Vorträge, so wie sie von Stenographen mitgeschrieben wurden – aber mit dem deutlichen Hinweis darauf, daß es sich um Mitschriftenhandelt, die naturgemäß (um mit Martina Maria Sam zu sprechen) »auf das Verständnis des jeweiligen Stenographen/Redakteurs heruntergebrochen« erscheinen.

Drittens Übersetzungen, sowohl in fremde Sprachen als auch, von Zeit zu Zeit, wenn ein Text aus sprachlichen Gründen unverständlich zu werden (und infolgedessen gar nicht mehr gelesen zu werden) droht, in die heutige deutsche Sprache  – wieder: mit dem deutlichen Hinweis darauf, daß es sich dabei nicht mehr um einen Originaltext, sondern um das Verständnis eines einzelnen Übersetzers handelt.

Und viertens natürlich Darstellungen der übersinnlichen Wirklichkeit, wie sie dem eigenen Bewußtsein des jeweiligen Autors erschienen ist – am schönsten mit der andeutungsweisen Schilderung, wie es dazu gekommen ist.
Hier könnte es sich erweisen, was Martin Basfeld sagte: 
»Steiners Texte regen an, dorthin zu kommen, wo reales Geistiges sich aktuell vollzieht.«

Magical Mystery Touren für den gepflegten Okkultisten

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Die besonderen Empfehlungen des Online- Reiseveranstalters umfassten auch einen Trip ins Landesinnere Siziliens, von Palermo aus in die Berge, um, nahe einem Ort namens Corleone, ein bizarres Felsgebilde zu besuchen, an dem die Mafia besonders bevorzugt ihre überschüssigen Leichen abzulegen pflegte: „In den weiten, kahlen Hügeln erhebt sich die 1613, hohe Felsbastion Rocca Busambra, deren Bergwälder und durch Grotten und Felsspalten zerklüftete Karsthochfläche als Versteck und „Friedhof der Mafia“ galten..“ Heute, möchte man vermuten, ist auch dieser Brauch des Leichenablegens globalisiert, anonymisiert, outgesourct. Die Nostalgiker mögen das bedauern, buchen aber vielleicht im Urlaub doch eine Buttertour mit Bus, Wein, Weib und Gesang zu dieser Sehenswürdigkeit.

Das erinnerte mich an die Zeiten, als es noch so viele Angebote von Reisen mit anthroposophischer Begleitung gab. Man konnte den Dauervortrag mit geisteswissenschaftlicher Bildungsreise buchen, und das in beinahe jedem esoterisch interessanten Ort auf diesem Planeten. Auch das ist heute individualisiert. Vor einiger Zeit las ich die Reisebeschreibung einer deutschen Anthroposophin auf Facebook, die - insbesondere nach kürzlich erfolgtem Terroranschlag - Eurythmie in einer menschenleeren CheopsPyramide empfahl; ein Vergnügen, das in dieser Idylle nur noch in Zeiten erhöhter Sicherheitsstufen und Warnungen des Auswärtigen Amtes möglich ist, wenn man nicht in Scharen von internationalen Touristenströmen ertrinken will.

Für andere Wagemutige empfehlen sich die zwiespältigen Reiseempfehlungen Rudolf Steiners, der auch Orte kannte, die sozusagen für die Seele nächtlicherseits okkult interessant werden könnten: „Das macht es, daß die Seele auch heute noch stark gewappnet sein muß, wenn sie in die Nähe jener Gegenden kommt, von denen alle feindlichen Einflüsse ausgehen können, die sich für die Geheimnisse des Gral auf die fortschreitende Menschheitsentwickelung beziehen.“ (1 mit Vorspann im Zusammenhang)

Ein solcher Ort liegt sozusagen auf der anderen, südlichen Seite des vom Reiseveranstalter empfohlenen Berges- Caltabellotta bei Sciacca in Sizilien. Die regionalen Beschreibungen klingen harmlos: "The churches of the Carmine, of S. Maria della Pietà, partly carved into the rock, and of the Saviour are also worth-visiting. The tour includes the Castelvecchio, a fortification of unknown origin and, in the area of the Castello Mount, the remnants of a tower belonged to a Norman castle, where visitors can enjoy a breath-taking view of the territory and of the African Sea, in the distance." (3) Hier hat, nach Rudolf Steiner, der magische Clan, den man mit dem Namen Klingsor belegt, ein ebenso magisches Einvernehmen mit Iblis, der weiblich- islamischen Version Luzifers gefunden. Die Auswirkungen auf den einzelnen Reisenden können wir in der Kürze nicht eruieren, aber auf die Einwohner des nahe gelegenen Corleone mögen sie ein paar hundert Jahre lang spürbar gewesen sein.

Daher ist nicht ganz sicher, ob - außer vielleicht bei Aleister Crowley und den Seinen in Cefalu - die Reise- Empfehlungen Steiners besonders gut angekommen wären. Crowley hat, von Heroin, Sex Magic, Armut und öden Anhängern gezeichnet, einige Jahre in seiner magischen Abtei verbracht: „In 1920 Aleister Crowley set up his Abbey of Thelema outside Cefalù with his mistress Leah Hirsig, who was totally dedicated to him. Crowley hoped that this was to be the beginning of his new religion. He regularly took trips to Palermo (staying at Hotel des Palmes, where Richard Wagner some 40 years before completed Parsifal) and Naples in search of drugs, supplies and prostitutes. The trips were probably also made to escape the jealous arguing of his two mistresses at Thelema, Leah and Ninette, referred to by Crowley as 'first concubine' and 'second concubine‘.“ (2)

So eine Magical Mystery Tour kann eben ganz schön anstrengend sein.

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1 „Ebenso wie wir, wenn wir heute den Boden Siziliens betreten und den okkulten Blick haben, auf uns einwirken sehen die Akasha-Nachwirkungen des großen Empedokles, wie diese in der Atmosphäre Siziliens vorhanden sind, so sind auch in ihr heute noch wahrzunehmen die bösen Nachwirkungen Klingsors, der einstmals sich verbunden hat von seinem Herzogtum Terra de labur aus über die Meerenge hinüber mit jenen Feinden des Gral, die dort seßhaft waren in jener Feste, die man im Okkul- tismus und in der Legende nennt Kalot bobot. Kalot bobot auf Sizilien war in der Mitte des Mittelalters der Sitz jener Göttin, die man nennt Iblis, die Tochter des Eblis. Und unter allen schlimmen Verbindungen, die innerhalb der Erdentwickelungen zwischen Wesenheiten, in deren Seelen okkulte Kräfte waren, zugetragen haben, ist den Okkultisten als die schlimmste dieser Verbindungen diejenige des Klingsor mit der Iblis, der Tochter des Eblis. Eblis so heißt in der mohammedanischen Tradition die Gestalt, die wir mit Luzifer bezeichnen. Eine Art weiblicher Aspekt von Eblis, dem mohammedanischen Luzifer, ist Iblis, mit der sich zu seinen bösen Künsten, durch die er im Mittelalter gegen den Gral wirkte, derjenige verband, den man den bösen Zauberer Klingsor nennt. Alles, was man unternommen hat als eine feindliche Herrschaft gegen den Gral, und wodurch auch verwundet worden ist Amfortas, das ist zuletzt zurückzuführen auf den Bund, den Klingsor geschlossen hat auf der Festung der Iblis, Kalot bobot. Und alles, was hereinleuchtet an Elend und Not in das Gralstum durch Amfortas, drückte sich aus in diesem Bund. ..“ Rudolf Steiner, GA 144, Seite 71f

2 http://www.wondersofsicily.com/cefalu-aleister-crowley-abbey-thelema.htm
3 http://www.agrigento-sicilia.it/english/caltabellotta.htm

Mut machen für das Vertrauen in die göttlich-geistige Welt

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Über den ersten Teil der spirituellen Autobiographie Judith von Halles

 Ingrid Haselberger



Wie schon an anderer Stelle erwähnt, machte ich mich letztes Jahr am Michaeli-Abend auf zur Schreinerei am Blumenweg, um dabeizusein bei der Präsentation von Judith von Halles neu erschienenem Buch Schwanenflügel, dem ersten Teil ihrer »spirituellen Autobiographie«.

* * *

Der Saal ist sehr voll (ich sehe auch einige bekannte Gesichter – ich bin also nicht die einzige, die sich entschlossen hat, auf die Eurythmieaufführung im Rahmen der Weltkonferenz am Goetheanum zu verzichten). Älteren, gehbehinderten Menschen, die erst knapp vor Beginn kommen, werden von früher Gekommenen Sitzplätze angeboten, und Judith von Halle selbst sorgt dafür, daß jemand, von dessen Schwerhörigkeit sie weiß, weiter vorne zu sitzen kommt.
Die Stimmung ist ruhig und freundlich, sachlich und konzentriert – ein gewisser Gegensatz zur lebhafteren, enthusiastischen Stimmung der Weltkonferenz.

Zu Beginn hält Joseph Morel eine kleine Begrüßungsansprache.
Er erklärt, warum dieses Buch in derEdition Morel erschienen ist und nicht direkt im Verlag für Anthroposophie: man habe einen falschen Eindruck vermeiden wollen, denn das Buch habe Judith von Halles innere Erlebnisse vor ihrer Begegnung mit der Anthroposophie zum Inhalt. Es finden sich daher in diesem Buch keine anthroposophischen Begriffe, sondern Schilderungen ihrer Erlebnisse mit Bezeichnungen in ihrer damaligen kindlichen Sprache.

Nach dieser kurzen Einführung erklingt Mozarts Adagio für Glasharmonika, gespielt von Johann Sonnleitnerauf dem Cembalo.

Danach ergreift Judith von Halle selbst das Wort.
Sie beginnt mit einem Dank an Rudolf Steiner – dafür, »daß er die Begriffe hervorgebracht hat.«
Ihr Buch sei »bewußt voraussetzungslos geschrieben«, und sie hoffe, es werde ein Zugang sein auch für Nicht-Anthroposophen. Es gehe ihr darum, »das eine oder andere Herz zu gewinnen für die geistige Welt.«
Und sie fügt ausdrücklich hinzu: »Es ist kein Buch, das Anthroposophen nötig haben.«

Bevor sie einige Stellen aus ihrem Buch liest, erklärt sie noch:
»Ich möchte lieber nichts Spektakuläres isoliert darstellen, das wäre gegen das Anliegen. Also werde ich nicht die interessantesten Stellen lesen.«

Dann liest sie: von ihrem plötzlichen »Erwachen« im irdischen Leib-Bewußtsein (im Alter von zweieinhalb Jahren, im Wohnzimmer ihrer Großeltern), und von ihrem Empfinden ab diesem Zeitpunkt, daß es zwei Arten von Bewußtsein gebe:

»[Ich erinnere mich], wie ich nach jenem Moment meines Erwachens mit einiger Verwunderung darüber nachsann, wo ich denn vorhergewesen war – also während jener Zeit, da mein kleiner Leib schon auf Erden existiert hatte […]. Wie war dieser Leib, in dem ich nun erwacht war, überhaupt hierhergekommen? Wer oder was hatte ihn vorher «funktionieren» lassen? Und vor allem: wo war ichdabei bloß gewesen?[…] 
[Es war] für mich evident – auf eine vollkommen «natürliche» Weise – dass es zwei Arten von Bewusstsein geben muss: EinBewusstsein, das mich wach im Leib werden ließ; dieses war aber nicht in der Lage, zu wissen oder zu erinnern, wer ich eigentlich war und woher ich kam; stattdessen war es dazu tauglich, jetzt ganz wach in diesem kleinen Erdenleib zu sein. […] 
Und dann gab es das andere Bewusstein, und dieses andere Bewusstsein wusste, wer ich war und woher ich kam. Das wusste alles. Mit ihm könnte ich mich auch vollständig erinnern. Denn dieses andere Bewusstein war ich selbst. Mein volles Ganzes sozusagen. 
Ich begriff in diesem Moment, dass ich dieses letztere, das «eigentliche» Bewusstsein meiner selbst wiedererlangen musste, dass ich es (das heißt «mich selbst») auch innerhalb der Grenzen meines physischen Leibes, also als Erdenmensch, zurückerobern musste, denn ich fühlte mich mit jenem ersten Erwachen in meinem Erdenleib doch irgendwie furchtbar unvollkommen und meines «Eigentlichen» beraubt, ja geradezu nackt. (Als ich einige Jahre später von der biblischen Paradiesgeschichte hörte, war ich unmittelbar an jene Empfindung bei meinem Erwachen im Leibe erinnert: Das unangenehme Erleben ihres «Nacktseins» markiert den Anfang der Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies und ihren Sturz auf die materielle Erde. Mit dem Kosten vom Baum der Erkenntnis wurden sie gegenüber der irdischen Welt bewusst, aber empfanden sich ihr gegenüber zugleich nackt und ausgesetzt. Sie erlebten das Herausgerissen-Werden aus einem, ja aus dem höheren Ganzen, aus dem all-weisen Bewusstsein.)«

Judith von Halle spricht von ihren auf diese Erfahrung folgenden Erlebnissen in der »Welt der Wirklichkeit«, wie sie die geistige Welt als Kind für sich nannte, im Gegensatz zur Welt des Alltags, in der sie nicht nur keinerlei Verständnis fand, sondern sogar vehemente Ablehnung erfuhr, wenn sie versuchte, über diese Erlebnisse zu sprechen. Bald nannte sie die irdisch-alltägliche Welt daher für sich die »Tag-Theater-Welt«.

Ich habe inzwischen das Buch gelesen und kann mich nicht mehr genau daran erinnern, welche Stellen sie damals las.
Ich glaube aber, sie sprach von der »Lebenszauberkraft«, die sie zum ersten Mal »an, besser gesagt in meinem schlafenden Großvater« wahrnahm, als einen farbigen »Lebensstrom«, der »durch den ganzen Leib wanderte und dabei an bestimmten Punkten oder Stellen sonderbare, fast künstlerisch anmutende Bewegungen vollführte und dadurch diesen Stellen etwas zukommen ließ, dessen sie offensichtlich bedurften, um zu «funktionieren», um lebendigzu werden.«

Mehr und mehr wurde ihr auch bewußt, auf welche Weise sie das wahrnahm – im Buch versucht sie, es zu schildern: 
»Es war […] ein das sichtbare Äußere nicht registrierendes, gewissermaßen leeres Glotzen. Genau das aber war notwendig, um überhaupt zu einer Beobachtung des Lebensstromes zu kommen. Nur in solchen Situationen konnte ich in meinen Kindertagen den Lebensstrom sehen. Dadurch, dass das äußerlich Sichtbare eigentlich übersehenwurde, trat es so weit zurück, dass sich das eigentlich Lebendige zeigte. […] das, was ich dann «sah», sah ich nicht mit den Werkzeugen meiner physischen Augen, sondern gewissermaßen mit derselben Kraft, die sonst durch unsere Augen hindurchgeht, wenn wir etwas sehen wollen. Nur dass, in dem Moment, wo man den Lebensstrom weiter willentlich verfolgen wollte, also man eine längere Beobachtung durchführen wollte, diese Kraft mehr und mehr aufgerbacht werden musste, bei gleichzeitig aufgewandtem, wunschlosem Willen, das äußerlich Sichtbare zu ignorieren. Auf diese Weise wurde mir währenddessen diese meine eigene Kraft, die ich vielmehr als eine spezielle Variante des Willens empfand, stetig bewusster.«

An wachen Menschen war diese Lebenszauberkraft für sie sehr viel schwieriger zu bemerken, denn da erschien sie überlagert von einem schnell und oft dramatisch veränderlichen »Gewölk«, das offenbar mit den Gefühlen und dem Willen des jeweiligen Menschen zu tun hatte.
Mit der Zeit findet die kleine Judith heraus, daß es Menschen gibt, mit denen häufig»die Pferde durchgehen« (was sich unmittelbar in diesem »Gewölk« zeigt, das sie für sich schließlich »Seelenkräfteleib« nennt), und andere, die »Herr im Haus« sind. Sie stellt sich die Frage, wer es denn ist, der dann »Herr im Haus« ist, und findet dafür die Bezeichnung »Menschenwesenskern«– dieser wird ihr allerdings, anders als die »Lebenszauberkraft« und das »Gewölk«, nicht unmittelbar sichtbar.

Hier zeigt sich für mich ein Charakteristikum, das das ganze Buch durchzieht: Judith von Halle schildert einerseits unmittelbare Wahrnehmungen und Erlebnisse, andererseits aber berichtet sie von Erkenntnissen, zu denen sie durch gedankliche Schlußfolgerungengekommen ist. Die zwei verschiedenen Bewußtseinsarten sowie ihre wechselseitige Wirkung werden so dem Leser deutlich: ihre Erlebnisse regen neue Gedanken an, und die gedankliche Durchdringung des Erlebten bewirkt ein klareres Sehen beim nächsten Erlebnis in der »Welt der Wirklichkeit«.
Ich gewinne den Eindruck, daß die gedankliche Erkenntnisart mit zunehmendem Alter immer stärker überwiegt. Und Judith von Halle erzählt auch von ihrer schmerzlich empfundenen Regression in Bezug auf ihren Zugang zur »Welt der Wirklichkeit« ab ihrem 14. Lebensjahr: »Ich erreichte das «Tor» nur noch selten, und die Lebeszauberkraft oder den Seelenkräfteleib meiner Mitmenschen sah ich schließlich gar nicht mehr.«

In ihrem Buch schildert Judith von Halle eine reiche Fülle ihrer kindlichen Wahrnehmungen in der »Welt der Wirklichkeit«; sie erzählt auch von nächtlichen Erlebnissen (in »einem Stadium, das ich nur als ein bewusstes Wachbleiben oder sogar intensiveres Erwachen während des Einschlafens bezeichnen kann«) --- es würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, sie alle zu schildern.

Und sie erzählt auch – sowohl im Buch als auch bei der Präsentation – von ihrer Einsamkeit, ihrem Schmerz und ihrer wachsenden Verzweiflung, ihrer schließlichen beinahe-Resignation, weil es niemanden in ihrem Umfeld gab, mit dem sie über diese Erlebnisse hätte sprechen können.

Anregungen empfängt sie fast ausschließlich von längst Verstorbenen: Komponisten (»Ich erlebte die Musik als ein gewissermaßen irdisch wahrnehmbar gemachtes Mitbringsel aus der Welt der Wirklichkeit«), allen voran Mozart (das Buch enthält mehrere Seiten mit lebendigen und humorvollen Charakterisierungen verschiedener Komponisten); in ihrer Schulzeit werden ihr auch Dichter bedeutsam (Ovid; Shakespeare; Yeats; Goethe – wobei sie für eine Hausarbeit einen sehr kritischen Verriß über den Wilhelm Meister schreibt, vom Faustaber zutiefst berührt ist: »Da war er doch! Der wahreWilhelm Meister!«), und – im Rahmen eines Philosophiekurses – Aristoteles'Metaphysik, die sie geradezu verschlingt.
Aber in der Gegenwart fühlt sie sich mehr und mehr »deplatziert«. Immer wieder fragt sie sich: »Wo sind meineMenschen?«
Als die »Welt der Wirklichkeit« sich der Heranwachsenden mehr und mehr verschließt und ihr nur mehr die Erinnerung daran bleibt, ist sie nahe daran zu verzweifeln und gerät in eine tiefe Krise (»mehr als einmal das Messer in der Hand«) - - -
Auch das Architekturstudium wird zu einer »riesigen Enttäuschung«. Die Dozenten erlebt sie zum Teil als »geradezu schamlos in ihre eigene Arbeit und Persönlichkeit verliebt«, und der Lehrstoff erscheint ihr »nach meinem Geschmack […] eher dürftig«.

In ihrer Not gibt sie sich schließlich einen Ruck und wechselt die Lehranstalt --- und nun begegnet sie einem Dozenten, über dessen Vorlesungen sie schreibt: 
»Was hier über die Architektur in ihrer Bedeutung für und Wirkung auf das Innere des Menschen gesagt wurde, war völlig unerwartet herabfallender heller, reinster Regen auf den verdorrten Boden meiner Seele. Unkonventionell, spontan, kreativ und in hohem Maße anregend waren die Ausführungen. Die Freude und Hingabe des Dozenten an die Sache war so wahrhaftig, dass mir spontan sein Seelenkräfteleib-Bild vor das innere Auge trat: ein unvergesslich strahlend sonnenheller, goldener Glanz.«

Durch diesen Dozenten begegnet sie schließlich, im Alter von 24 Jahren, den Schriften Rudolf Steiners – zuallererst, durch ein Versehen, dem Seelenkalender, den sie, einige Tage nachdem sie den Dozenten in ihrem Auto mitgenommen hatte, im Spalt neben dem Beifahrersitz findet:

»Es war ein dünnes Heftchen mit goldenen Lettern auf dem Umschlag, nicht viel größer als eine Zigarettenschachtel. Ich schlug es auf. Auf jeder Seite, geordnet nach den Wochen des Jahres, befand sich je ein poetisch gefasster Spruch von wenigen Zeilen: 

Erste Maiwoche:
«Ich fühle Wesen meines Wesens:
So spricht Empfindung,
 
Die in der sonnerhellten Welt
Mit Lichtesfluten sich vereint; 
Sie will dem Denken 
Zur Klarheit Wärme schenken
und Mensch und Welt 
in Einheit fest verbinden.» 

Meine Knie gaben nach. Ich sackte neben meinem Auto auf den Asphalt. Tränen liefen über meine Wangen. Zitternd drückte ich das Heftchen an meine Brust. – Ich war zu Hause.«

Die Sprüche des Seelenkalenders werden ihr zum »Schlüssel«, der ihr die »Welt der Wirklichkeit« wieder aufschließt. Und sie gewinnt neue Erkenntnisse, auch über die Zeit ihrer Krise...

Durch ihren Dozenten lernt sie bald weitere Schriften Rudolf Steiners kennen – als erstes die Theosophie:
»nun, nach all den jammervollen Jahren der Isolation, hatte ich einen Menschen getroffen, der alle meine geistigen Erfahrungen, welche ich vor der die Welt der Wirklichkeit weitgehend ignorierenden, ja gar verspottenden Umwelt mein ganzes Leben lang streng gehütet hatte, mit der herrlichsten Bestimmtheit aussprach! […] Ich war absolut fassungslos. – Da hatte es einen Menschen gegeben, der schon knapp einhundert Jahre zuvor von den mir im Innern lebenden und pochenden Bedeutsamstkeiten gesprochen hatte, und ich war mein ganzes Leben lang unwissend, mein eigenes kleines grünes Gärtchen auf den Schultern mit mir herumtragend, in der Wüste umhergeirrt!
Darüber hinaus hatte der Verfasser mittels eines ganz besonderen, herausstechenden «Werkzeugs» noch viel weitergehendere Studien anstellen und Weistümer zutage fördern können – ein Werkzeug, das mir seit jeher unverzichtbar erschienen war für die Behandlung der Belange des Über-Sinnlichen, doch hatte ich mir das meinige nicht gar so vollendet gezimmert wie er. Denn das eine hing an dem anderen: je vollendeter das selbst erschaffene Werkzeug, desto präziser und umfangreicher die «Findungen» jenseits des «Tores» […] Dieses Werkzeug hatte zwei gleich bedeutsame Seiten namens: lebendiges Denken und das Finden des zur jeweiligen Erkenntnis passenden Begriffs

Im Anhang des Buches finden sich – für Menschen, die Rudolf Steiner nicht kennen – etliche Zitate aus der GA: »um meinem Leser die Möglichkeit zu geben, meine damaligen Erfahrungen zu teilen und meine Freude über diese nachvollziehen zu können.«

Die erlösende Begegnung mit diesem Dozenten und durch ihn mit Rudolf Steiner findet gegen Ende des Buches statt.
Es schließt damit, daß dieser Dozent sie endlich einmal zu einem »abendlichen Seminar« im Berliner Rudolf Steiner Haus mitnimmt.
Er hatte, trotz ihrer Bitten, lange damit gezögert und es »mit allerlei Ausreden« umgangen, sie dort einzuführen:
»Später gestand er mir den Grund für sein merkwürdiges Verhalten: Er habe gefürchtet, dass ich ihn für verrückt halten und mich von ihm abwenden könnte, wenn ich mit einer Gruppe von Menschen in Berührung käme, die alle von der Existenz einer geistigen Welt ausgingen und sich den Fragen der übersinnlichen Welt mit einem Ernst stellten, der wohl für die meisten Menschen lächerlich wirken musste. Dies war der Zeitpunkt, von dem an ich ihm mehr von meinen inneren Erfahrungen und meiner Wesensart erzählte und er ganz zu meiner Vertrauensperson wurde. 
Über das Jahr hin zogen wir zusammen und heirateten fünf Jahre später.«

* * * 
 
Nach der Lesung gibt es Gelegenheit, Fragen zu stellen – die Atmosphäre bleibt ruhig, interessiert und aufmerksam.
Judith von Halle spricht davon, wie schwierig es für sie war, mit ihren Eltern nicht über ihre Erlebnisse sprechen zu können, sieht es aber auch als einen Vorteil an, nicht anthroposophisch aufgewachsen zu sein: »Viele [anthroposophisch aufwachsende] Kinder distanzieren sich ja später – ich war frei

(Auf eine Frage – die einzige derartige Erwähnung an diesem Abend – nach den Gründen für ihre Schwierigkeiten mit Sergej O. Prokofieff antwortet sie nur kurz:
»Ich möchte dieses Thema hier ausklammern. Nur soviel: ich hoffe, daß sich auch diese verquere Situation noch ins Gute wandelt.«)

Einige der Zuhörer, die als Kinder offenbar ebenfalls Erlebnisse in der geistigen Welt hatten, sind weniger an weiteren detaillierten Schilderungen interessiert als vielmehr an Judith von Halles Umgangdamit. Wieso erinnert sie sich bis heute so genau und detailreich daran?
Judith von Halle erzählt, daß sie mit etwa zehn Jahren damit begann, ihre Erlebnisse aufzuzeichnen. Bis zu ihrem vierzehnten Lebensjahr schrieb sie etwa 30 Hefte voll – allerdings vernichtete sie die meisten eines Tages, »damit sie nicht in falsche Finger geraten«. Vier dieser Hefte blieben, gewissermaßen aus Versehen, erhalten – »Ich habe sie mit 25 Jahren beim Umzug gefunden und wieder gelesen. Und ich hab mich gewundert, wieviel ich doch vergessen hatte.«
Beim Lesen stiegen die Erinnerungen wieder in ihr hoch – aber ohne diese Hefte, meint Judith von Halle, wären diese ihre kindlichen Erlebnisse wohl vergessen geblieben.
Beim Schreiben ihres Buches habe sie also nicht »aus dem vollen Fundus schöpfen« können, sondern eben nur aus dem in diesen vier Heften Festgehaltenen. Der größte Teil ihrer damaligen inneren Erlebnisse und Beobachtungen sei leider weder schriftlich noch in ihrer Erinnerung erhalten geblieben.
Etliche Heftseiten sind im Buch zitiert und im Anhang faksimiliert abgedruckt – Judith von Halle schreibt dazu: 
»... all das, was ich über mein damaliges inneres Leben bislang geschrieben habe, ist hier in den Worten eines Erwachsenen dargelegt […] es wäre mir natürlich damals nicht möglich gewesen, sie so zu formulieren, wie ich es jetzt getan habe. Darum erhält man gewiss einen authentischeren oder vollständigeren Eindruck von jener Zeit und den Erfahrungen, über die ich berichte, wenn ich zusätzlich einige meiner damaligen Notizen beifüge und mit meinem Leser teile.«

Auch danach wird gefragt, ob sie damals in der »Welt der Wirklichkeit«nur als Beobachterin anwesend war, oder ob sie »dort« auch etwas »zu tun« gehabt hätte – Judith von Halle antwortet, es habe regelmäßig »Prüfungen« für sie gegeben, an denen sie vieles lernte. Was sie dazu andeutet, kann ich nicht mehr in ihren Worten wiedergeben – aber es ist mir ganz unmittelbar nachvollziehbar. Es scheint sich um Erlebnisse zu handeln, wie ich sie auch selbst aus meiner Kindheit in Erinnerung habe, in Träumen, oder halb-träumenden Zuständen... manchmal auch als Erwachsene, im Zusammenhang mit dem Genesungsschlaf zu Zeiten von Krankheit...
Auch der Fragesteller und einige andere im Publikum scheinen mit solchen Erfahrungen vertraut zu sein.
(Im Buch schildert Judith von Halle Näheres dazu – aber auch das würde den Rahmen dieses Aufsatzes bei weitem sprengen.)

Zum Abschluß der Buchpräsentation erklingt eine Komposition Johann Sonnleitners für Orgel und Bratsche, in erweiterter Tonalität (Johann Sonnleithner erklärt dazu: »Die Bratsche spielt nicht falsch – sondern Sie werden Intervalle hören, die nicht jeder schon ans Herz genommen hat.«).

* * *

Zum Schluß noch zwei Zitate aus dem Nachwort des Buches, die mir interessant erscheinen im Zusammenhang mit der Diskussion um die Notwendigkeit und Bedeutung eines spirituellen Lehrers/Meisters/Gurus:

»Wir erleben nicht bewusst das, was Wirklichkeit ist: die geistige Potenz unseres eigentlichen Wesenskerns und das unzerstörbare Band der Liebe, welches uns alle miteinander verbindet. Doch ich glaube daran, dass es einen Schlüssel gibt, mit dem die verschlossene Tür zur «Welt der Wirklichkeit» in jedem von uns aufgeschlossen werden kann: Wenn man nämlich zum Beispiel die eigene Tür so weit zu öffnen bereit ist, dass man den anderen durch sie in die dahinter liegende, übersinnliche (unser aller) Heimat hineinspähen lässt. Dann kann ihm dies zum Schlüssel werden, der zu seiner eigenen Tür passt, weil etwas von dem lebendigen Geist der Wirklichkeit im Alltagsbewusstsein des Mitmenschen aufleuchtet und ihn an den lebendigen Geist der Wirklichkeit seines eigenen unsterblichen Wesenskerns erinnert. Natürlich kann es sich nur darum handeln, dass sich der andere dadurch an seine eigene Beziehung zur geistigen Welt erinnert fühlt. Er muss ja seinen eigenen schöpferischen Geist, seinen eigenen Menschenwesenskern finden. Daher soll er auch nicht glauben, er müsste irgendetwas mit meinen Erlebnissen absolut Identisches in sich aufspüren oder mein Zeugnis von der geistigen Wirklichkeit aus dem Grunde rundweg ablehnen müssen, weil er selbst solche Erfahrungen nicht gemacht hat. Jedes einzelnen Menschen innere Biographie ist selbstverständlich vollkommen individuell, so wie die spirituellen Erlebnisse und unsichtbaren Begegnungen, die diese ausmachen.«

Und:

»Mut machen mögen die Berichte über meine Erlebnisse mit der geistigen Welt! Mut machen für das Vertrauen in die göttlich-geistige Welt! Mut machen für das gemeinsame Leben mit unseren Mitmenschen und für das scheue und ehrfürchtige Achten des göttlich-geistigen Inneren jedes einzelnen Menschen, der nicht in der Welt wäre, wenn er nicht auch wie wir aus dem lebendigen Geist herausgeboren wäre! 
Unterstützend wirken mögen meine Erzählungen auch für Eltern, deren Kinder ihnen ein Rätsel scheinen, aber auch Mut machen, das eigene Kind in verständnisvoller Weise als freie Individualität zu entdecken – nicht allein den Eltern kleiner Kinder, sondern auch den Eltern erwachsener Kinder, denn selbst rückwirkend oder in späten Tagen kann noch vieles ergriffen, verwandelt, neu gestaltet werden. Zu spät ist es nie, solange wir noch im Erdenleben beieinander sind und die Zeit nutzen, um schließlich mit verwandelten Herzen und Geistern in die geistige Welt eintreten zu können. Es mögen meine Aufzeichnungen aber auch eventuelle Schuldgefühle bei den Erziehenden mindern, indem sie zeigen, dass heute grundsätzlich schwierige Bedingungen dafür herrschen, den anderen Menschen als das göttliche Wesen zu erkennen, das er ist. Und umgekehrt möge durch diese Aufzeichnungen den Kindern Mut gemacht werden, Geduld, Nachsicht, Verzicht und Ausdauer zu entwickeln. – Umso mehr darf dieses Buch verstanden werden als ein Appell für die Wahrnehmung des anderen Ichs, unabhängig von seinem Alter und von dem Alter dessen, der es wahrnimmt; ein Appell für das aufrichtige Interesse an unserem Nächsten. 
[…] 
In jedem Einzelnen von uns wohnt Gott, eine höhere geistige Wesenheit, die sich unablässig um uns bemüht, die uns niemals im Stich lässt und die wir als die eigene seelisch-geistige Moralität finden können, welche uns den rechten Weg im Denken, Empfinden und Handeln weist und uns eint mit unseren Menschenbrüdern! – Wenn wir uns ihr nur zuwenden, wenn wir nur unsere Aufmerksamkeit auf sie lenken. 
Dies durch das Teilen meiner intimen spirituellen Erfahrungen anregen zu können, […] ist der Impuls zur Veröffentlichung dieser Aufzeichnungen gewesen.«

Der Guru ist tot, aber er rührt sich noch. Über Andrew Cohen in DIE ZEIT

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Cohen und Gronbach auf Cohens Website
Guten Morgen, Ihr Erdlinge. Guten Abend, ihr Sehnsüchtigen. Ihr, die Ihr Euch nach Vollendung, nach Reinheit, nach Erfüllung und sinnhaftem Leben sehnt, Ihr müsst jetzt ganz stark sein. Denn die Zeit der Gurus - so jedenfalls stellt DIE ZEIT diese Woche fest- ist endgültig vorbei: „Das ist der Meta-Effekt der gegenwärtigen Medienwelt: Der Meister gerät zur skandalösen Figur, der gerade noch Heilige verwandelt sich in den Alltagsmenschen und Kumpel von nebenan.“ (1)

Die Macht des Überhöhens und Verschweigens, des Idealisierens einer übermenschlichen Projektionsfläche in Gestalt des Gurus zerbricht im multimedialen Zeitalter; der quasi- übermenschliche Allwissende wird vom Podest gefegt, wenn sich seine Adepten zusammen tun und sich in den sozialen Netzwerken über die allzu menschlichen kleinen schmutzigen Geheimnisse der Führergestalt austauschen. Das Über- Ego dessen, der über den kleinen Bedürfnissen und Bedürftigkeiten schwebt, seine Reinheit, nach der die Adepten schmachten, zerspringt angesichts der neuen medialen Realitäten in Stücke- jedenfalls, was die klassischen, abgelebten Varianten des Gurutums betrifft. Ohne Geheimnis, ohne Idealisierung ist der Meister lediglich ein weiterer Ritter von der traurigen Gestalt. Der Anbetungswürdige findet sich im Staub wieder, und der Bann - die Bezauberung- zerbricht.

Bernhard Pörksen bringt drei Beispiele von Gurus, denen genau dieses widerfahren ist: Missbrauch, Gewalt, Ausbeutung der Jünger haben ihnen den Hals gebrochen. Einer von ihnen, die Pörksen vorstellt, ist der von Info3 und einigen anthroposophischen Funktionären promotete Andrew Cohen: „Es gibt das schöne Bild und das hässliche Bild des Andrew Cohen. und man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen: Es wird allein das hässliche Bild überleben. Es zeigt ihn als Sektenführer, als Soziopathen, als jemand, der seine Schüler geschlagen hat. Der Spaß hatte an der Unterwerfung anderer und der seine Anhänger drängte, ihm Geld zu geben, das sie ihm nicht wirklich geben wollten.“ (1) Websites, Facebook- Gruppen, filmische Dokumentationen und Bücher haben Cohen demontiert, der sich mehrere Jahre zurückzog, öffentlich Reue mimte und Besserung gelobte. 2017 aber hat er trotz massiver Anfeindungen ein Comeback versucht - auch mit Hilfe anthroposophischer Anhänger wie dem hinduistisch- emphatischen Info3- Autor Sebastian Gronbach-, dessen Ausgang noch offen ist: „Er wolle künftig, so versprach er, ein spiritueller Lehrer mit Fehlern sein, mit Schwächen, ein lernbereiter Mensch. Seit einigen Monaten gibt er wieder Seminare in den uSA und in Europa, nun vor deutlich geschrumpftem Publikum.“ (1)

Pörksen räumt dem wenig Chancen ein, da der Zauber des spirituellen Führers eben von der Überhöhung und dem Geheimnis lebt. Die aggressive Public Relations- Arbeit, die das Wirken von Typen wie Gronbach oder Cohen begleitet, kann nicht verhindern, dass immer wieder Aussteiger- Berichte oder Leaks auftauchen, die die Integrität der Führer zumindest infrage stellen, ins Lächerliche ziehen oder Widersprüche in Verhalten oder Äußerungen aufzeigen. Bei Gronbach werden Kritiker online daher unverzüglich geblockt, oder- wie ich selbst hier in Blogs oder bei Facebook über die Jahre erlebte- von den ihn stützenden Anhängern und PR- Kampagnen einer Info3- Gruppe durch Gegenattacken geschützt und abgeschirmt. Ganz ähnlich ist man vor Jahren auch zur Unterstützung von Andrew Cohen vorgegangen- allerdings ohne Erfolg. Heute distanziert sich selbst die Integrale Bewegung, der er selbst einst vorstand, selbst aufs Schärfste von ihm.

Pörksen spricht daher auch „vom Tod des Meisters und vom Verglühen der Vorbilder in einer medial ausgeleuchteten Welt. Sie handelt davon, dass das religiöse und spirituelle Heldenzeitalter zu Ende geht..“ (1) Diese Art von Inszenierung einer desolaten Schüler- Meister- Beziehung, die zu Milarepas Zeiten ihre Berechtigung gehabt haben mag, gehört schlicht nicht ins 21. Jahrhundert und wird völlig zu Recht demontiert. Das verhindert freilich nicht, dass heute ähnlich gestrickte Muster auf der politischen Bühne auftauchen und die Massen bestricken- solche, die die geheimen Mächte hinter den Kulissen des Tagesgeschehens zu entlarven vorgeben und Verschwörungstheorien in offene Ohren blasen. Aber das ist ein anderes Kapitel der Idiotie.


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1 DIE ZEIT, 8. Juni 2017, no 24, „Entzauberte Gurus. Die Macht der religiösen Führer schien unumschränkt – bis sich ihre Kritiker und Opfer im Internet zusammenschlossen. Nun stehen die Idole am Pranger. Gut so?“ VON BERNHARD PÖRKSEN

2 Andrew Cohen bei Gronbach: http://www.andrewcohen.com/sebastian-gronbach-anahata-akademie/

Cosimo, Cellini und der Perseus- Verlag. Ein Gastbeitrag von Stefan Schulz

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Quelle: Perseus- Verlag
Cosimo de‘ Medici (1519–1574) und Thomas Meyer (Redakteur des Perseus-Verlags und der Zeitschrift ›Der Europäer‹) haben offenbar etwas gemeinsam: Beide fühlen sich durch ein Kunstwerk von Benvenuto Cellini repräsentiert: die Bronzestatue des Perseus, der die Medusa besiegt. Ein paar Fotos kann man sich bei Wikipedia anschauen. Auch der Text ist meines Erachtens lesenswert:
https://de.wikipedia.org/wiki/Perseus_(Benvenuto_Cellini)

Cellini schuf die Skulptur um 1550 im Auftrag Cosimos. Ganz unten auf der Wikipedia-Seite ist auch die Zeichnung abgebildet, die der Perseus-Förderverein als Logo verwendet und die in stilisierter Form vom Perseus-Verlag übernommen wurde:
http://www.perseus.ch/verlag/perseus-foerderverein

Diese Zeichnung, die Cellinis Perseus wiedergibt, stammt vermutlich aus dem 20. Jahrhundert. Im Text der Wikipedia-Seite (letzter Satz) findet sich außerdem ein Link, aus dem hervorgeht, dass sie von einer polnisch-nationalistischen Gruppierung namens Zadruga als Plakat benutzt wird. Einen Überblick über die Zielsetzungen von Zadruga vermittelt deren Internetseite:
http://zadruga-swinoujscie.cba.pl/wordpress/

Neben Cosimo und Thomas Meyer taucht also noch ein Dritter auf, der sich auf Cellinis Perseus beruft. Wer die Zeichnung angefertigt hat und ob sie gar von Zadruga selbst stammt, konnte ich nicht herausfinden. Interessant wäre auch zu erfahren, woher der Perseus-Förderverein die Zeichnung hat.

Perseus-Michael?


Was ist nun aber der jeweilige Beweggrund für Cosimo, Thomas Meyer und Zadruga, sich ausgerechnet Cellinis Perseus-Statue zu Repräsentationszwecken auszuwählen? Fangen wir mit Thomas Meyer an: In einem Editorial seiner Zeitschrift (siehe http://www.perseus.ch/archive/5599) erklärt er, er habe bereits bei der Gründung des Verlages den griechischen Mythos im Auge gehabt. Medusa verkörpere für ihn »die alten, dekadent gewordenen Kräfte der Hellsichtigkeit. Sie mussten im Spiegel der reflektierenden Vernunft abgetötet werden, wenn Menschheitsfortschritt werden sollte.« Zudem gebe es einen Zusammenhang zwischen dem Sternbild des Perseus und dem Erzengel Michael. Die Astronomin und Anthroposophin Elisabeth Vreede habe deshalb einmal von »Perseus-Michael« gesprochen. »Wir haben es«, folgert Meyer »mit einem Michaelskämpfer zu tun, der alte anti-rational gewordene Kräfte zurückzudrängen hat. Sein Schwert ist das Michaelschwert.« Darüber hinaus verlange der heutige Michael-Impuls eine »Spiritualisierung des Intellekts«.
Das sind Worte, mit denen wohl viele Menschen einverstanden sein werden. Auch ich kann mich dieser Deutung des Perseus-Mythos anschließen. Probleme habe ich nur dann, wenn Meyer versucht, sie auf den Perseus von Cellini zu übertragen, denn ich kann sie dort nicht wiederfinden. Meyer tut ja so, als könne das Perseus-Motiv in jeder Gestalt seine immer gleiche symbolische Gültigkeit bewahren. In einer Fußnote schreibt er: »Es [das Logo des ›Europäer‹] hätte selbstverständlich auch in anderer Art aus dem spirituellen Perseus-Motiv umgesetzt werden können

Oha, da frage ich mich doch: auch nach Art nationalsozialistischer Gestaltungsweise? Das Michael-Motiv wurde ja z.B. auch im Dritten Reich verwendet, aber nicht als Zeichen der geistigen Überwindung von Widersachermächten, sondern als Verherrlichung des Krieges. Das sieht man diesen »Kunst«-Werken auch an und wer würde behaupten, dass es sich da noch um etwas Spirituelles handelt?

Um Gestaltungs- und Stilfragen kümmert sich Meyer aber nicht. Er zählt die Attribute des Perseus auf – die Merkurflügel an den Schuhen, den spiegelnden Schild der Athene und das Schwert – und meint, dass das ausreiche, um daraus ein spirituelles Motiv herauszulesen. Was er hingegen nicht erwähnt, sind die Blutströme aus Kopf und Hals der Enthaupteten, ihr nackter Frauenkörper, auf den Perseus seinen Fuß setzt und das waagrecht (in Richtung des Volkes) gerichtete Schwert.
Wie dieser Anblick auf das florentinische Volk der Spätrenaissance gewirkt hat, lässt sich leicht vorstellen. Hier ein Auszug aus einem Internet-Beitrag:

»Aber auch der politische Kontext von Cellinis Bronzestatue sei kurz aufgezeigt: Der erst achtzehnjährige Cosimo de’ Medici hatte nach seinem militärischen Sieg 1537 mehr als dreißig führende Republikaner hängen und köpfen lassen. Als der Herzog in den folgenden Jahren versuchte, die Bevölkerung durch immer schärfere Maßnahmen zu entwaffnen, um damit jede Möglichkeit zur Rebellion zu unterbinden, entstand die Idee, eine monumentale Perseusstatue zu errichten. Cellinis Bronzegruppe erinnerte so unverhohlen an Cosimos Abrechnung mit seinen Gegnern, dass der Dichter Andrea Agnolo ihn mit ›Herzog Perseus‹ ansprach. Wie die Republikaner durch Cosimo hingerichtet worden waren, so sollten deren Nachfolger vor dem Haupt der Medusa erstarren, ›und das Schwert des Perseus begleitet die Politik, die Gewalt in der Amtsperson des Herzogs zu monopolisieren, als Drohgebärde‹ (Bredekamp 2003, S. 342).«
(http://syndrome-de-stendhal.blogspot.de/2013/03/cellinis-medusentoter.html)

Cellinis Perseus gilt heute als Beispiel für das zunehmende Ausleben weltlicher Fürstenmacht. Es ist bekannt, dass Cosimo sich mit Perseus identifizierte. Er machte sich die Verehrung, die man dem mythischen Helden entgegenbrachte, zunutze, um seine eigenen Ziele zu verfolgen. Wenn man in Florenz vor der fünf Meter hohen Skulptur steht, bekommt man einen Eindruck davon. Es ging ihm gerade nicht um den Perseus, der alte dekadente Impulse durch ein neues Bewusstsein überwindet, sondern es ging ihm in erster Linie um Gewalt und Einschüchterung. Cosimo sah sich selbst als Perseus, und in Gestalt des Perseus hielt er seinem Volk das Gesicht der Medusa entgegen. Das – zusammen mit den von Cosimo verübten Schauprozessen und Hinrichtungen, die er begangen hatte – reichte aus, um das Volk erstarren zu lassen: Jeder, der das sah, wusste, was ihm blühte, wenn er nicht gehorchte. Dem Wesen nach ist Cellinis Perseus-Figur wohl eher eine Medusa als ein Perseus.
Es gibt durchaus Künstler, die das Perseus-Motiv so umzusetzen wussten, dass sie dem spirituellen Vorgang gerecht wurden, z.B. indem sie die Verwandlung der Medusa in Pegasus, das geflügelte Pferd andeuteten. Doch Cellinis (bzw. Cosimos) Anliegen war ein gänzlich anderes. Cellini, der in seinem Leben mindestens drei Morde beging, konnte sich hervorragend in einen Menschen hineinversetzen, der einen anderen brutal enthauptet (siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Benvenuto_Cellini). Seine Skulptur ist zwar mit Recht berühmt, denn er verstand etwas von Harmonie, Ausgewogenheit und Ästhetik in der Kunst, und er setzte diese Fähigkeiten so ein, dass Cosimo mit seinem »Heldenporträt« vollauf zufrieden sein konnte. Auch macht das Standbild etwas sichtbar, was den Künstler und seinen Herrscher charakterisiert. Allerdings ist es ein Unterschied, ob ich es als Kunstwerk nehme und seine Ausführung bewundere oder ob ich es als Vorbild für ein Logo verwende. Denn mit einem Logo mache ich eine Selbstaussage; es steht sozusagen für den Geist einer Sache. Ein Kunstwerk, in welchem beispielsweise das Wesen der Rache überzeugend herausgearbeitet ist, ist genial. Aber wer würde ein Kunstwerk als Logo wählen, in welchem das Wesen der Rache thematisiert ist? Oder das Wesen der Lüge? Thomas Meyer hat sich ein Logo ausgesucht, das auf Gewalt und Unterdrückung basiert.

»Das Was bedenke, mehr bedenke Wie«


Hat sich schon Cellini mit seiner naturalistischen Darstellungsweise vom »spirituellen Perseus-Motiv« weit entfernt, so gilt das umso mehr für die Zeichnung aus dem 20. Jahrhundert, die dem Perseus-Förderverein als Logo dient. In ihr ist das Physische noch wesentlich stärker betont, und zwar mit den Mitteln, die eigens der Grafik als einem zweidimensionalen Medium zur Verfügung stehen. Möglicherweise wurde sie auf Grundlage eines Fotos realisiert, aber auch ein Foto trifft ja bestimmte Aussagen durch den speziellen Ausschnitt, die Perspektive, Beleuchtung u.v.m. Mich erinnert die Zeichnung spontan an die »Kunst« des Dritten Reichs: die leichte Untersicht, der seltsam steife Zeichenduktus, die Monumentalität, das muskulöse Heldenideal und die ästhetisierende Verbindung von Gewalt und Erotik – lauter Kennzeichen des Nazi-Propaganda-Stils. Für einen entsprechenden Gebrauch bietet sich die Zeichnung daher meines Erachtens regelrecht an.
Schon Goethe sagte: »Das Was bedenke, mehr bedenke Wie.« Und wer das Wie dieser Zeichnung beachtet und sich in die Figur hineinversetzt, der kann darin keine Michaelsgestalt sehen, die einen geistigen Sieg erringt. Er kann darin lediglich die Zurschaustellung eines äußerlichen Tötungsaktes erblicken. Der aggressive Gestus der Figur fällt ja sofort ins Auge. Allein die Art, wie Perseus das Schwert hält, spricht von einer ausgeprägten Gewaltbereitschaft. Dieses Schwert mit der gebogenen Spitze bildet eindeutig den Schwerpunkt, das Kräftezentrum der gesamten Komposition. Diagonale Linien auf Oberkörper und Schenkel sowie die Lichtverteilung begünstigen zudem eine Blickrichtung von links oben – durch die Schwertspitze hindurch – nach rechts unten zu dem weiblichen Körper, auf den Perseus hier zu blicken scheint. Bestimmend scheint dabei sein leibliches Empfinden zu sein, nicht ein geistiges Geschehen auf der Bewusstseinsebene.

Im Verlags-Logo ist das Brutale des Vorgangs ein wenig abgemildert, da man Kopf und Körper der Medusa nicht genau erkennt. Doch auch von den Attributen, die Meyer aufzählt – Schwert, Flügelschuhe und Schild – ist nur noch das Schwert zu identifizieren. Also wer soll darin überhaupt noch einen Perseus erkennen? Was indes bleibt, ist die Geste: Die Geste der Gewalt und des Triumphes. Hinter der extrem durchgedrückten Wirbelsäule erhält der rückwärts ausholende Arm noch größeres Gewicht, und über dem angewinkelten Bein hebt sich die Schwertspitze scharf und deutlich ab (siehe das Cover des ›Europäer‹).

Da man bei einem Zeichen wie dem Logo generell mehr auf die Linienstruktur verwiesen ist, fällt hier besonders auf, wie die Horizontale (das Schwert) die Vertikale der Perseus-Gestalt in Hüfthöhe, das heißt in der Triebsphäre kreuzt. Man vergleiche das einmal mit einem Rosenkreuz, bei dem der Kreuzungspunkt in »Herzhöhe« liegt und die roten Rosen von einer Qualität künden, die man – im Gegensatz zu jenem »blutigen« Schwert – als Ausdruck wahrhaft michaelischer Überwindungskräfte erleben kann (siehe Rudolf Steiner: Makrokosmos und Mikrokosmos, GA 119 Vortrag 28.3.1910). Dagegen drängt sich bei dem Perseus-Logo die Verbindung von Gewalt und Ästhetik bzw. Erotik in ihrer ganzen Fragwürdigkeit umso stärker auf. Das Bemühen des Perseus-Verlags, das Schwert durch die goldene Farbe in ein Michaelschwert zu verwandeln, muss daran zwangsläufig scheitern.

Gewaltverherrlichung


Meines Erachtens ist das Perseus-Logo eine völlige Gegendarstellung zu dem, was Meyer darin sehen möchte. Mit seinen Worten über die kosmische Bedeutung des Perseus lenkt er vom eigentlich Sichtbaren (bzw. nicht Sichtbaren) ab. Er redet sich das Logo schön, ja er versucht es sogar als Michael-Motiv anzupreisen – die Tatsache ignorierend, dass es nicht einen geistigen Sieg veranschaulicht, sondern jenen Triumph feiert, der im Selbstgefühl physischer Kraft und Härte liegt. Es ist mir wirklich ein Rätsel, wie Meyer es fertigbringt, all diese Dinge auszublenden und sich die Wirklichkeit so zurechtzukonstruieren, wie er sie braucht. Anscheinend geht er davon aus, dass Bilder nicht für das Auge geschaffen sind, sondern bloß auf etwas hinweisen, was man eben wissen muss. Seiner Leserschaft erklärt er denn auch, was sie hinzudenken muss, weil man es dem Logo selbst nicht ansieht.

Aber die gewaltverherrlichende Wirkung lässt sich nicht durch Gedanken ausschalten. Und gerade der Perseus von Cellini ist ja ein Beispiel dafür, dass der geschichtliche Kontext in die Gestaltung mit hineinspielt. Ich bin außerdem der Auffassung, dass man bei einem Bild – und mehr noch bei einem Logo – mit dem rechnen muss, was in der heutigen Zeit lebt. Heute wissen die wenigsten Menschen etwas von Perseus, und noch weniger Menschen kennen die geisteswissenschaftliche Deutung des Mythos. Sie können also gedanklich gar nichts hineinprojizieren, was das Sichtbare des Bildes nicht hergibt. Ihnen stehen dafür andere Vorstellungen näher, die sie damit assoziieren, z.B. die Videos, in denen Menschen von IS-Kämpfern enthauptet werden. Wenn das Logo überdies als frauenfeindlich empfunden wird, kann man das niemandem verdenken. Im Perseus-Verlagsprogramm stößt man ja auf beide Logo‘s, so dass man den komischen Waschlappen, den der schwarze Perseus hochhält, als Frauenkopf erfasst. Hinzu kommt, dass das Logo ja nicht nur von Anthroposophen wahrgenommen wird, sondern dass es eine Außenwirkung hat. Und da fragen sich dann die Meisten, ob eigentlich alle Anthroposophen einen Sockenschuss haben.

Als Anthroposoph, der sich auf seine Steiner-Kenntnis viel zu Gute hält, müsste Meyer freilich wissen, wieviel Wert Rudolf Steiner auf das Wie eines Kunstwerkes gelegt hat. Immer und immer wieder hat Steiner bekräftigt, wie wichtig es sei, von der symbolischen Sichtweise wegzukommen und stattdessen zu bemerken, wie ein Bild oder ein Zeichen gestaltet ist und wie es auf den Betrachter wirkt. Er wollte, dass die Kunstbetrachtung nicht im Gedanklichen steckenbleibt, sondern dass sie den empfindenden Menschen erreicht, und zwar über die anschaulichen Qualitäten eines Kunstwerks. Denn erst im Erleben der Gestaltungselemente leuchtet der Ideengehalt eines Bildes ein. Doch Steiners Schriften über Kunst scheinen Meyer vollkommen fremd zu sein. Meyer will die anti-rationalen Kräfte »im Spiegel der reflektierenden Vernunft« abtöten, aber er bleibt dabei – jedenfalls in Bezug auf die Kunst – einem (wirklichkeitsfremden) Verstandesdenken verhaftet. Von einer »Spiritualisierung des Intellekts« kann da keine Rede sein.

Ich schreibe diesen Beitrag im Namen derer, die bereits versucht haben, Leserbriefe zum Perseus-Logo im ›Europäer‹ zu veröffentlichen. Meyer, der sich mit Kritik an Anderen nicht gerade zurückhält, erweist sich offenbar als unfähig, auch nur die leiseste Kritik an seinem Logo zuzulassen.

Stefan Schulz

Fake News des Mittelalters, Sex, Königinnen und Narzissmus

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Vielleicht ist es nicht ganz neu, vielleicht aber immer mal wieder an der Zeit, sich zu vergegenwärtigen:

Fake News sind in der politischen Arena gängiges Kampfmittel- ein Mittel, das sich über die zivilisatorische Geschichte erstreckt, wobei sich, bei entsprechendem Druck, die Geschichtsfakten auch Hunderte von Jahren nach dem Ableben der Protagonisten denunziatorisch verbogen präsentieren können.

Gewiss, die mediale Gegenwart ist wie gebannt von einem amerikanischen Präsidenten, der den Begriff „Fake News“ ebenso häufig als Kampfmittel via Twitter benutzt wie er dadurch selbst charakterisiert wird- ein Präsident, der die weitaus meisten psychiatrischen Items für eine Persönlichkeitsstörung aus dem narzisstischen Kontext erfüllt, die da wären: Charme und Charisma gepaart mit „Grandiose sense of self-worth“*, „Need for stimulation/proneness to boredom“*, krankhaftes Lügen, manipulativ, Mangel an jeglichem Bedauern oder Reue, flache emotionale Regungen, Mangel an Empathie, parasitärer Lebensstil, mangelnde Impulskontrolle, usw. Ronson* schätzt, dass etwa ein Prozent der Bevölkerung von solchen psycho- pathologischen Regungen beherrscht werden, dass aber in Positionen von Macht und Manipulation dieses krankhafte Element geradezu bestimmend wird. Den skrupellosen, emotional hohlen, aber getriebenen Aufsteiger spült es geradezu in die Positionen des Herrschens- seien es politische, wirtschaftliche oder auch spirituelle.

Auch wenn man in Donald Trump ein geradezu reinrassiges Exemplar dieses Typs vor sich zu haben glaubt, ist das ja in der Herrscher- Liga nicht Neues. Und es geht noch um einiges schlimmer. Denken wir möglichst weit zurück- zum Beispiel an die legendäre, viel geschmähte und schon Lebzeiten mit Gerüchten verfolgte Eleonore von Aquitanien, Mutter von Richard Löwenherz, Kreuzfahrerin, Königin von England, Frau des französischen Königs, von dem sie sich scheiden ließ, um später gegen ihren zweiten Mann in den Krieg zu ziehen. Freundin der Troubadoure, Vorbild für die großen mittelalterlichen Romane: „Wie Chrétien schrieb, war Marie von der Champagne die Gönnerin, die ihn für seinen Lancelot oder Le Chevalier de la Charette – die erste Beschreibung der Liebe zwischen Lancelot und Ginevra – mit Material über die Artus-Legende versorgte. Chrétien war es, der Motive der Troubadourdichtung in die nordfranzösische Literatur einführte (..) Vielleicht dachte Marie von der Champagne, als sie ihm das Thema für seinen Roman Lancelot vorschlug, an das Leben ihrer Mutter, um das sich zu dieser Zeit bereits Legenden zu ranken begannen. Sicherlich wusste Chrétien um Eleonores zwei königliche Ehen und kannte auch die Gerüchte über ihr angebliches Fehlverhalten, die zur Auflösung ihrer ersten Ehe beigetragen hatten; und es ist auch nicht unplausibel, dass ein Roman, der scheinbar eine ehebrecherische Liebe guthieß, Anleihen bei der Biografie der englischen Königin genommen hatte.“ **

Das angebliche „Fehlverhalten“ Eleonores, dem ein langes, politisch brisantes Leben voller Wendungen folgte, das auch in ihren Biografien bis in die jüngste Vergangenheit dominierte und das Ralph V. Turner - auch aufgrund neu zugänglicher historischer Dokumente- nun als historische Fake News enttarnt, entsprang Eleonores Verhalten in der christlichen Enklave Antiochien im nördlichen Syrien während des 2. Kreuzzugs. Das politisch - gesellschaftliche Umfeld war zu dieser Zeit geprägt von starken Fürstinnen im südlichen Frankreich - eine Kultur eines gewissen Liberalismus: „In mancherlei Hinsicht hatten Bordeaux und andere Städte der Gascogne, in denen römische Traditionen lebendig geblieben waren, größere Ähnlichkeit mit mittelalterlichen Städten in Norditalien als mit solchen in Nordfrankreich.“ **

Typisch war das Aufkommen der Troubadour- Kultur, die später zum schärfsten Gegensatz zur katholischen Kirche führte: „Weil die Troubadoure den Lehren der Kirche über Liebe, Ehe und Sexualität widersprachen, unterstellte man ihnen, sie seien von Ketzern wie den Katharern verseucht oder gar von islamischen Einflüssen aus Spanien geprägt worden.“ ** Zudem erschien die junge Eleonore - gebildet, willensstark, konsumfreudig und politisch ambitioniert, im Machtgefüge der Zeit als umkalkulierbares Risiko: „Die junge Königin hatte die Fähigkeit, «einen entschlossenen politischen Standpunkt einzunehmen», wie der gefürchtete Bernard von Clairvaux feststellte, als er sie am französischen Königshof kennenlernte.“

Das alles stand im schärfsten Gegensatz zu ihrem frömmelnden Ehemann, dem französischen König Ludwig VII., der sich als impulsiv, kurzsichtig und als überaus schlechter Stratege erwies. Das von ihm geführte Kreuzfahrer- Heer wurde schon auf dem Weg aufgrund von Ludwigs Fehlentscheidungen aufgerieben- in Antiochien angekommen, agierte er weiterhin undiplomatisch und unklug und brachte auch verbündete islamische Herrscher und Städte gegen sich auf. Ludwigs Fehlverhalten sollte auf mittlere Sicht dazu führen, dass Antiochien und das Königreich Jerusalem durch eine geeinte Gegenfront überrannt werden sollten. Das politische Ungeschick ihres Ehemanns befremdete Eleonore, die stets präsent war, so sehr, dass sie nach der Rückkehr die endgültige Trennung durchsetzte. Um die demütigende Niederlage des französischen Königs vor Feind, Freund und Ehefrau zu kaschieren, wurde eine „schwarze Legende“ in die Welt gesetzt, in der Eleonore mit den islamischen Herrschern, mit dem Teufel und vor allem mit ihrem Onkel, dem Herrscher von Antiochien, konspiriert habe, vor allem auf sexueller Ebene: „Es war ein angeblicher Fehltritt Eleonores bei einem Besuch in Antiochia nach der strapaziösen Durchquerung Anatoliens, der eine «schwarze Legende» entstehen ließ, die zum festen Bestandteil ihres bis heute fortdauernden Rufs als sexuelle Abenteurerin wurde. Der Aufenthalt der französischen Königin bei ihrem Onkel, Fürst Raymond von Antiochia, ließ Unverträglichkeiten zwischen den zwei nicht zueinanderpassenden Eheleuten offen zum Ausbruch kommen, womit die Auflösung ihrer Ehe begann, die nicht einmal der Papst rückgängig machen konnte.“ **

Als „Medium“ für das stete Anrühren immer wilderer Gerüchte wurden nun kirchliche Biografen, aber auch die umher ziehenden Troubadoure benutzt, denen sehr wohl schon damals bewusst war, dass „Sex sells“: „Ursprünglich angerührt in den Feldlagern der französischen Kreuzfahrer, denen das unrühmliche Ende ihres Unternehmens schwer im Magen lag, wurde der Gerüchteteig jetzt von Höflingen in Paris mit frischer Hefe zum Treiben gebracht – von Leuten, die Eleonore ihre Wiederheirat übel nahmen. Es sind Troubadour-Verse überliefert, die «auf Gerüchte und sensationsheischenden Klatsch über aktuelle Geschehnisse» anspielen oder diese widerspiegeln; aus ihnen lässt sich ablesen, welche Kreise Eleonores angebliche Affäre in Antiochia zog.“ Die Sexualisierung und Dämonisierung von politisch ambitionierten Frauen lag ganz im Interesse der katholischen Kirche, die eine rein männlich dominierte Machtpolitik betrieb und forcierte. Daher legte selbst der berüchtigte Inquisitor Bernhard Gui Wert auf die Herabwürdigung Eleonores, die sich dann tatsächlich in immer neuen Verleumdungen bis in die Neuzeit verfolgen lässt: „Im frühen 14. Jahrhundert übernahm Bernard Gui, ein Inquisitor und Autor, der den Dominikanern angehörte, aus der Chronik Hélinands den Passus über Eleonore und fügte ihn in sein Geschichtsbuch ein.“ Die Legenden von Sex, Magie und schönen Königinnen sind einfach zu schön, um nicht tradiert zu werden. Im Falle Eleonores haben sie - auch was das Verhältnis zu ihrem Sohn Richard Löwenherz betrifft- 800 Jahre überlagert: „Die moralische Herabwürdigung Eleonores durch Vorwürfe persönlichen Fehlverhaltens war die Antwort der mittelalterlichen Meinungsmacher auf ihre schockierende Weigerung, sich den restriktiven Normen der mittelalterlichen Gesellschaft zu unterwerfen.“**

Die Verbannung der Frau aus möglichst allen selbständigen, selbstbewussten, mit Macht assoziierten Positionen war, wie Ralph V. Turner aufzeigt, ein ständiges Anliegen der katholischen Geschichtsschreiber. Die schwarze Legende von der Königin Eleonore war das passende propagandistische Narrativ. Kaum verwunderlich, dass dieses Thema bei Rudolf Steiner nicht erscheint. Bei ihm steht nicht das Verschwinden- Lassen der Frau, sondern das eines ganzen Kontinents im Mittelpunkt der Betrachtung: „Noch im 12. Jahrhundert gab es einen lebhaften Verkehr von Irland über Island nach Amerika hinüber. Insbesondere Heilkräuter und anderes wurde durch den lebhaften Verkehr nach Europa eingeführt. Und aus gewissen Gründen, die mit dem inneren Karma von Europa, mit der Rolle zusammenhängen, die in früheren Zeiten Irland gespielt hat, geschah es, daß von Rom aus alles getan worden ist, um Europa von Amerika abzuschließen und Amerika geradezu vergessen zu machen. Es war damals gut gemeint mit Europa.“*** Gut gemeint bedeutet bei Steiner, „daß man in Rom die Notwendigkeit einsah, Europa vor der westlichen Halbkugel abzuschließen“****, um angeblich den sich entwickelnden Verstand vor den verderblichen magnetischen Kräften Amerikas zu schützen. Da erscheint es nur folgerichtig, dass sich „Rom“ in einem Rutsch auch der Kultur der Frauen, der Troubadoure und der spezifischen Esoterik der Katharer entledigt hat- zugunsten einer männlich dominierten, kriegerischen, abgeschotteten Rationalität, in der sich Nationalismus, päpstliche Dominanz - auch mit Hilfe von „Fake News“ entfalten konnte.

In der egomanisch- narzisstischen Figur Donald Trump hat man wohl einen Tiefpunkt der männlich dominierten Machtkonfiguration zu sehen, die, bar jeder Imagination, Inspiration und Empathie in Ausgrenzung, Demütigung und Mauernerrichten ihr Betätigungsfeld findet. Der Typus ist schließlich 800 Jahre lang heran gezüchtet worden und entpuppt sich nun als propagandistischer Popanz. Es wird Zeit für mehr Eleonore.

__________________
*“The Psychopath Test“ by Jon Ronson
**Eleonore von Aquitanien: Königin des Mittelalters (German Edition) by Ralph V. Turner
***Rudolf Steiner, GA 174a, S. 206
****Rudolf Steiner, GA 178, S. 67f
Ein Überblick zur Person Eleonore bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Eleonore_von_Aquitanien

Was war, was ist

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Was war: Hier ist nichts auszurichten, nicht durch Begabung, nicht durch Mitgift, nicht durch erworbenes Wissen. Die schneidige Biografie hat kein Gewicht, die durch intellektuelle Kämpfe erlittenen Narben sind unsichtbar, und niemand fragt nach medialer Kompetenz. Das Netzwerk, das man knüpfte, das einen definiert wie man es definierte, die verstrickten Geschicke, die Freundschaften, der Hass, die Gleichgültigkeit: verglommen. Die pompösen wie wehleidigen Aspekte des prallen, ja wie ein Popanz kultivierten seelischen Lebens, die sich Schicht um Schicht um das innere Kind gelegt haben wie Speckgürtel; sie sind längst abgefallen. Auf sieben magere Jahre folgen sieben magere Jahre. Wer hat, dem wird gegeben, aber was ist, wenn es nie etwas war? Die Erwartungen an sich selbst, das vorgestellte Potential, die noch zu gehenden Wege: Hier sind sie nichts. Der Besitz, die kleinen und die großen Dinge, an denen man hängt, für die man Berge verrückt hat: Zu Staub zerfallen. Dieser Charakter, der sich konturierte, den man schliff, damit das pralle Verlangen nicht obszön hervor lugte, von dem man wünschte, dass er gemocht werden könnte, ohne zu verbergen, dass er standhaft war: Hier hat er kein Gewicht. Die Selbstbilder von Ehrlichkeit, Ritterlichkeit, Idealismus: Was man für gut befand; hier zählt nicht, was man dachte, fühlte, wollte.

Hier besteht nur, was gegenwärtig ist, und es ist nur, was ist. Alle Schalen, alle Kleider, alles Ausgedachte, Vorgestellte, Erträumte, Identifizierte ist hier Schatten und daher nichts.

Was ist: Die goldene, wogende Fülle des reifen Weizenfelds, in dem der Wind spielt. Das kühle, widerstehende Grün des sich aufragenden Roggens. Ein stetes Rauschen in den Platanen. Das nervöse Schütteln eines Pferdeschweifs. Ein noch nie so wahrgenommener, wohlig- reifer Geruch im feuchten Schatten dicht stehender Bäume. Ein Empfinden, am Herzschlag des Seins, mit ihm und in ihm zu sein: Ein unaussprechlich großzügiges Geschenk, das sich in Fülle ausspricht. Hiermit bin ich für immer verbunden, wenn auch nicht in dieser Art und Form. Ich werde mich immer erinnern an den Geruch dieser Erde an diesem Tag. Und wenn ich es nicht mehr erinnern kann, werde ich mich danach sehnen- so sehr, dass es mich wieder in die Formen zieht. So wie der Weizen, wie die Bewegung des Schweifs, das singende Rauschen dieses Windes. Dass es sein kann, wie es ist: Darin spricht sich ein Augenblick aus. Er verwirklicht sich in diesem Geruch und in dieser Geste. Dass ich die Fülle, die Schönheit und Vollendung entgegen nehmen darf, dass ich nichts dazu beitrage, nur partizipiere; dass die Formen sich ausgesprochen haben wie der Traum des weiten bestirnten Himmels: Hier bin ich wach. Schau und sieh.

"Erstreben nichts - nur friedsam ruhig sein,
Der Seele Innenwesen ganz Erwartung."

(R. Steiner, Die Geheimnisse der Schwelle, GA 147, S. 78)

Rudolf Steiner und die Stella Matutina. Theosophie und magisch- okkulte Logen

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Dr. Robert Wiliam Felkin, Stella Matutina

Der „zukünftige Mensch“ Judith von Halles


In ihrem Buch „Anna Katharina Emmerick. Eine Rehabilitation" (1) versuchte Judith von Halle im zweiten, wesentlich kürzeren Teil einen innigen Zusammenhang von Rudolf Steiner mit via Channelling agierenden Logen der vorletzten Jahrhundertwende zu konstruieren, indem sie behauptet, Steiner sei "geheimer“ (2) Großmeister aller Londoner Rosenkreuzer- Logen gewesen, ohne zwischen dieser Art seit Mitte des 19. Jahrhunderts neu aufgelegten magischen Vereinigungen und der spezifisch anthroposophischen Intention zu unterscheiden. Den Zusammenhang sieht sie gegeben durch den „in anthroposophischen Kreisen weitgehend unbekannten Neville Meakin“ und in seinem Arzt (..), dem ebenfalls mit Rudolf Steiner bekannten „Dr. Robert William Felkin, dem Begründer der Unterabteilung des Hermetik Order of the Golden Dawn, der Rosenkreuzer- Loge Stella Matutina.“ (1)

Rudolf Steiner sei seit „den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts geheimer Großmeister aller in London bestehenden Rosenkreuzer- Logen“ gewesen, über deren leitende Mitglieder er überhaupt erst „in nennenswerten Kontakt zu den führenden Mitgliedern der Theosophischen Gesellschaft getreten war." (3) Meakin, der, ebenso wie von Halle, angeblich stigmatisiert war, sei rechte Hand und Stellvertreter Felkins gewesen, und im übrigen Steiners „Schüler, Freund und Impulsträger der Theosophie (Anthroposophie ) für die Zukunft" (4). Als Meakins Nachfolgerin wiederum sieht von Halle Edith Maryon (s.u.), die von Felkin, wie Maryon selbst in ihren Briefen (5) bestätigt, nicht nur an Steiner vermittelt worden war, sondern im weiteren Verlauf tatsächlich Steiners Schülerin und tatkräftige Mitarbeiterin wurde. Ihr erster Brief (6) an Steiner belegt dies: "Dear Dr. Steiner, Dr. R.W. Felkin (F.R.) hat mir gesagt, daß ich Ihnen schreiben soll und Sie bitten, mir eine Unterredung zu gewähren." Nach Ausbleiben einer Antwort suchte sie weiter im Namen von Felkin den Kontakt und fand ihn schließlich auch.

Von Halle behauptet, die durch Meakin, der selbst übrigens bald verstarb, vorgeführte Stigmatisation sei zwischen Steiner und Maryon ein zentrales Thema geblieben, in Hinblick auf "der neuen, höher entwickelten Leiblichkeit des zukünftigen Menschen" (7) Damit nutzt sie die Gelegenheit, wieder - in aller Bescheidenheit, selbstverständlich- sich selbst mit ihrer Stigmatisierung in einen angeblich bedeutenden Zusammenhang zu bringen- als „zukünftiger Mensch“. (7)

Felkins Motive zur Kontaktaufnahme mit Steiner 

Was waren nun für den Logenleiter Felkin die Motive, sich selbst und vor allem Edith Maryon in Kontakt zu Steiner zu bringen?

Felkin war - trotz diverser Streitigkeiten und Abspaltungen- im Namen des Meisters des Golden Dawn, Samuel Mathers, tätig, der die Rituale  von seinem Vorgänger Westcott übernommen und bedeutend ausgeweitet hatte, obwohl ihr Ursprung mehr als dubios war. Westcott hat sie vermutlich selbst geschrieben oder per Channeling „empfangen“- die von ihm benannte Quelle jedenfalls blieb trotz Nachforschungen dubios bzw. verstarb dann pünktlich, als die Nachfragen und Quellenanalysen dringlicher wurden. Westcott war sicherlich eine im Sinne magischer Zeremonien bedeutende Persönlichkeit, vor allem in der Ausarbeitung systematischer Rituale für Gruppierungen, die rituelle Zeremonien im Sinne des Golden Dawn suchten. Vor allem Aleister Crowley hat diese rituelle Neubelebung magisch- satanistischer Rituale später vertreten und ausgebaut, die dann wieder im Rahmen der Hippie- Kultur in den USA aufgegriffen worden ist.

Mathers und seine Frau Mina agierten zunächst als reine Medien im Sinne von „Empfangsstationen“: "Mathers and Mina had been using what could be described as channeling sessions at that time" (8). Während Mina ein devotes, menschenscheues und sexuell verstörtes Wesen war, trat Mathers herrschsüchtig, anmaßend und so dominant auf, dass eben dies zu den späteren Spaltungen innerhalb der Gruppierung führte. Aber er entwickelte ein magisches Ritual und regelrechte Exerzitien über gewisse Grade hinweg, in denen bald mit "Egregores" gearbeitet wurde, d.h. magische Experimente "with Group Minds" (9). Solche bei den rituellen Handlungen auftretenden, inspirierenden „Gruppengeister“ im Sinne eines Channeling, die durch magische Akte herbei gerufen werden - darunter auch der angebliche Geist von Christian Rosenkreutz- haben Auswirkungen in die in dieser Art orientierte okkulte Szene bis hin zu Aleister Crowley und L. Ron Hubbard gehabt. Sie sind heute Standard- Verfahren vieler sich selbst als Hellseher verstehender Internet- Propheten. Der Logen- ähnliche Ursprung des ursprünglichen Golden Dawn verwandelte sich stetig über Westcott, Mathers bis hin zu Felkin zu einem rein magischen Orden, der in seinen Ausläufern bis heute besteht.

Mathers begründete seinen Führungsanspruch immer wieder durch seinen angeblichen exklusiven Kontakt mit den "Meistern" hinter der Loge. Mathers traf auf viele Zeitgenossen wie William Butler Yeats, der ihn in seinen "Autobiografien" (10) so beschrieb:
Er hieß Liddell Mathers, nannte sich aber (..) bald MacGregor Mathers und dann einfach MacGregor. Er war Verfasser der "Enthüllten Kabbala" und trieb nur zweierlei Studien: Magie und Kriegstheorie, denn er hielt sich für einen geborenen Feldherrn und dem alten Juden an Weisheit und Macht ebenbürtig". Der geborene Feldherr versank allerdings nach und nach in Alkoholismus und Armut.

Aber in den Anfangsjahren nach 1892 entwickelte er ein erfolgreiches Konzept an magischer Schulung: "Membership was growing and in modern terms people were being trained in magic" (11). Ein Problem dieser Art magischer Orden ist, dass das Ego durch die Kulte aus dem Ruder läuft ("empower the personality", Farrell), und dass sich dabei auch die dunkelsten Aspekte der Persönlichkeit entfalten; they "start to glow" (12). Daher wurde Mathers eine herrschsüchtige, dominante Persönlichkeit, die sich selbst als "Supreme Magus" betrachtete. Dieses „ego boost" (13) bekam vielen nicht gut, Mathers aber am wenigsten.

Inzwischen hatte Dr. Felkin, geschult in fortgeschrittenen Graden, in denen man in okkulter Séance am Kruzifix aufgehängt wurde, einen eigenen Geist gechannelt, den er Shemesh nannte- vermutlich sein "arabischer Meister". Felkin war der Meinung, er könne die ominösen Meister (14) selbst, in realer Person, treffen. Es kam zu Streitigkeiten mit Mathers, der den Schwarzmagier Aleister Crowley mit ins Boot holte- als intrigante Geheimwaffe, sozusagen. Ab 1898 trieb Crowley sein egomanisches Spiel in den Logen, getreu der Crowley- Devise, dass Lügen und Verwirrung stiften erste Regel des wahren Magiers sind (Chaos - Magick).

Mathers wurde trotz seiner Drohungen, magische Attacken zu senden, immer weiter ausgegrenzt. Obwohl er sicher war, als realer Magier niemals zu leiden ("their contacts will make sure that they don´t starve", Farrell, S. 113), versiegten im Streit seine Geldquellen. Außerdem litt der Ruf der Londoner Magie- Logen unter einem Betrüger- Paar namens Horos, das wegen Diebstahls und systematische Vergewaltigung im Namen des Golden Dawn verurteilt wurde. Es war ein richtiger Yellow Press- Skandal, der viele Mitglieder um ihren Ruf fürchten ließ. Auch Yeats schwieg sich über seine wirklichen Verstrickungen in seiner Autobiografie lieber aus.

Felkin wechselte 1900 in den "Solar Order" und war sich sicher, "with the Inner Masters" dort in Kontakt zu stehen. Er lernte "the value of using mediums" (15) weiter zu schätzen und konnte dadurch "the Hidden Masters of the Sun" befragen. Er erhielt von ihnen (wem oder was auch immer) „“impressional" and "astral" teaching" (16). Damit gelang es Felkin, zum Meister aufzusteigen und Mathers auch in Bezug auf die Geldgeberin zu beerben. Nach einer weiteren Spaltung durch den eher seriösen, am okkulten höheren Logenwesen interessierten Arthur E. Waite (17) begründete Felkin seine rein magisch agierende "Stella Matutina". Es bestand reges Interesse, nun da Felkin "Imperator" war, die bestehenden Rituale zu erweitern. Trotz seiner Macht und gechannelten Instruktionen seiner Sonnenmeister war er weiterhin außerstande, solche Rituale selbst zu entwickeln. Er suchte ein "full curriculum" (18).

Daher reiste er durch ganz Europa- und fand ausgerechnet Rudolf Steiner: "All he endet up with were a few Meetings with the mystic Rudolf Steiner, who was going through a Rosicrucian Phase" (19). Es kann also keine Rede davon sein, dass Steiner bislang mit diesen Londoner Logen bekannt gewesen oder gar, wie von Halle behauptet, deren Großmeister gewesen sei. Diese ersten Treffen mit ihm dienten nur dazu, Steiner okkult auszuplündern und aus dessen Kenntnissen "ritual equivalents" (20) für die illegitimen magischen Zirkel zu stehlen- ein übrigens in der Vergangenheit dieser Kreise häufig betriebenes Spiel. Es ist zu vermuten, dass Felkin auch Edith Maryon nicht aus edlen Motiven an Steiner vermittelte. Im Gegenteil: Mit den angeblich gewonnenen höheren Erkenntnissen konnte Felkin nun als "ritualistically senior" auftreten, und seine Stellung als Imperator festigen: "Inspired what he witnessed during Steiner´s ceremonies, he wrote new neuer higher grade Rituals for his own Stella Matutina“ (21).

R.A. Gilbert, der als besonders fachkundig gilt und sehr sorgfältig arbeitet, geht auch davon aus, dass Felkin seinen Patienten Meakin zu Steiner geschickt hatte: "Felkin lag mehr daran, die Geheimen Führer zu finden, deren Wirken er irgendwo in Deutschland vermutete; zu diesem Zweck schickte er 1911 Neville Meakin (Ex Orients Lux) aus seiner Gruppe zu Rudolf Steiner. Er sollte ihn aufsuchen und an seinen rosenkreuzerischen Zeremonien teilnehmen." (22). Meakin hatte auch einen sehr hohen Rang innerhalb des konkurrierenden Ordens von Waite und besaß daher für solche Missionen "größtmögliche rituelle Gunst" (23). Auch Waite war "zutiefst neugierig, was Steiners Rolle in der Rosenkreuzer- Bewegung auf dem Kontinent anbetraf" und fragte Meakin eingehend aus. Die Treffen waren aber diesbezüglich enttäuschend verlaufen- offenbar waren Steiners Unterweisungen "hauptsächlich zur Verbreitung von Steiners philosophischen Lehren" gedacht- nichts, womit man höhere okkulte Grade der "linken Hand" begründen konnte. Daher war Waite überzeugt, dass Felkin, als er ein Jahr später mit seinen phantastischen Behauptungen von seiner eigenen Initiation bei Steiner und der Aufnahme "in vier Grade" etwas erfand, um seine Machtposition zu sichern. Später traf Waite selbst auch Rudolf Steiner, als dieser in London war und erhielt von diesem Bestätigung darüber, dass Felkins angebliche "Initiation" ganz "prosaisch verlaufen" war. Zu Felkins vielen Fehlern gehörte eben "eine gewisse Hinterhältigkeit" (24).

Der stigmatisierte Meisterschüler Meakin und der arabische Meister

Ähnliche Fehler könnte man nun auch bei Judith von Halle vermuten, die ihre eigenen Machtansprüche in Bezug auf die angeblichen Wundmale in Bezug bringt zu Meakin, und Felkin und seine magische Tätigkeit verklärt, seine Lügen vertuscht und so etwas Obskures wie Stella Matutina, in der Sonnendämonen gechannelt wurden, rein zu waschen versucht. Die Täuschungsmanöver eines Felkin verbrämt sie zu der Behauptung, "Felkin konnte trotz aller Anerkennung für Rudolf Steiner seine Aktivitäten nicht in dessen Dienst stellen" (25). Diese "Anerkennung" bestand vor allem in einer erlogenen Initiation, aus der er Material für Stella Matutina saugen wollte. Dass Meakin bei Judith von Halle als Säulenheiliger der anthroposophischen Zukunft herhalten soll, obwohl er innerster Vertrauter zweier magischer Logen war, vervollständigt das verdrehte Bild, das von Halle in die Welt setzt. Sie selbst muss sich fragen lassen, wie weit ihre Anerkennung von Felkin und Meakin nicht ein Bild auf sie selbst wirft. Ihre „Impulsträger der Theosophie (Anthroposophie ) für die Zukunft" (von Halle) jedenfalls sind mediale Großmeister obskurster Magie- Zirkel. Hier von Halle im Zusammenhang:

Damit aber die hier gemachte Andeutung nicht schon von vornherein als Erfindung abgetan wird, soll zumindest ein kurzer exoterischer Hinweis gegeben werden: Bei dem stigmatisierten Schüler Rudolf Steiners handelte es sich um den in anthroposophischen Kreisen weitgehend unbekannten Neville Meakin und bei seinem Arzt um den ebenfalls mit Rudolf Steiner bekannten Dr. Robert Felkin, dem Begründer der Unterabteilung des Hermetic Order of the Golden Dawn, der Rosenkreuzer- Loge Stella Matutina. Rudolf Steiner war seit den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts geheimer Großmeister aller in London bestehenden Rosenkreuzer- Logen, über deren leitende Mitglieder er überhaupt erst in nennenswerten Kontakt zu den führenden Mitgliedern der Theosophischen Gesellschaft getreten war. Neville Meakin war die rechte Hand und der Stellvertreter Robert Felkins in der Stella Matutina. Rudolf Steiner sah in ihm nicht nur einen Schüler. Er erkannte in ihm eine außergewöhnliche Persönlichkeit, von deren Wirksamkeit er sich vor allem in England in Bezug auf seine große Mission als Meister der Weißen Loge viel versprach.“ (26)

Nach dieser bemerkenswerten Darstellung verdankt Rudolf Steiner den Repräsentanten dieser Channel- Logen also seine Kontakte und Wirkung in Bezug auf die Theosophische Gesellschaft, aber auch die Entfaltungsmöglichkeit als „Meister der Weißen Loge“- abgesehen von der blühenden Fantasie eine von jeder Quelle widerlegte Art des Kontaktes und der Beziehung. Natürlich passen auch die Jahreszahlen nicht im geringsten. Selbst ein Logen- Anhänger wie Gyllene Gryningen (27), der Rudolf Steiner als Pseudo-Rosenkreuzer („Rosicrucian wannabe“) ansieht, setzt die oben beschriebenen Kontakte Felkins über Meakin zu Steiner ab 1910 an:

I have often though about the fact that Rudolf Steiner for a time was regarded to be a “Secret Chief” and his branch of the German O.T.O. (Ordo Templi Orientis), and its Freemasonic Memphis & Misraïm Rite, to be regarded as the “Third Order” of the Golden Dawn offshoot Stella Matutina, headed by Dr. Robert William Felkin.
I remember reading about this fact for the first time in Ellic Howe’s seminal, but highly biased, account of the history of the Golden Dawn, i.e. The Magicians of the Golden Dawn, and later in Francis X. King’s highly sympathetic reading Ritual Magic in England. I remember that I was appalled by this information; how could Dr. Felkin allow himself to be so duped by a Theosophist and Rosicrucian wannabe as Rudolf Steiner?

Over the years my respect for Steiner and his works, especially his western form of Theosophy called “Anthroposophy”, has grown considerably, (..), listed Steiner as one of their former Grand Masters, right after MacGregor Mathers and William Wynn Westcott!
So today I do regard Rudolf Steiner as a real Rosicrucian, albeit of a totally different current as compared to the Golden Dawn. In my opinion blending Memphis & Misraïm, and especially Rudolf Steiner’s take on that Rite, with the Golden Dawn is like blending water with oil; they don’t mix particularly well. Let me explain why in this following essay, presenting both the history of Dr. Felkin’s dealings with Rudolf Steiner and the following consequences that have come out from all that and effected the particular branch of the Golden Dawn which are known to us as the Stella Matutina. (..)

Later, in june 1910, Dr. Felkin received the address to Rudolf Steiner from Dr. Wilhelm Hübbe-Schleiden. Obviously, Steiner had already gained an impressive reputation amongst German contemporary occultists. He was the Secretary General of the German branch of the Theosophical Society under Annie Besant, but more significantly he was heading a western style lodge of the aforementioned Memphis & Misraïm (which I henceforth will abbreviate as M&M). In 1906 he was granted a charter from Theodor Reuss, the Grand Master of the O.T.O. and M&M in Germany and Austria, to run a Chapter and Grand Council called “Mystica Aeterna”. They also admitted both male and female members. In time, Mystica Aeterna became the “Cognitive Cultic Section” (also called the “Misraim Service”) of the Esoteric School of the German Section of the Theosophical Society.
Dr. Felkin met Steiner in 1910 and obviously was greatly impressed by him, being seen as the hitherto missing link to the historical German Rosicrucian fraternity and therefore corroborating with Felkin’s conceptions of what the Secret Chiefs of the Third Order was supposed to be. Supposedly Dr. Felkin was persuaded also by his discarnate and astral teacher Ara Ben Shemesh (abbreviated as A.B.S.), the “Arab Teacher”. (27)

Felkin war also durch seinen „arabischen Meister“, der ihn „astral leitete“, 1910 erstmals auf Rudolf Steiner aufmerksam gemacht worden, wobei ihm die Adresse Steiners 1910 durch den Theosophen Hübbe- Schleiden vermittelt worden war. Das zur Korrektur der Behauptungen von Halles. Die innere Verbindung der Lehren zu der rituellen Magie, die Felkin vertrat, war demnach wie „Öl und Wasser“. Felgen wurde von Steiner auch nicht, wie beabsichtigt, als Schüler zugelassen, und hinterließ daher Meakin als Stellvertreter: „Be there as it may, in late 1910 Felkin, not being able to personally attend the instruction of Steiner, consulted A.B.S. about his choice of representative, Nevill Meakin. Meakin, who supposedly was the author of the revised Portal Grade Ritual as published in Israel Regardie's books, was approved by A.B.S. and soon was sent to Berlin as Felkin’s emissary.“ (27)


Zum Abschluss noch ein paar Bemerkungen zur Rolle Edith Maryons


Edith Maryon war eine englische Bildhauerin, die zeitgleich mit der Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft „mit entschiedener innerer Sicherheit“ (Rudolf Steiner, GA 263/1, S. 238) „sich mit dieser Bewegung“ verband. Sie war auf besonders enge Weise Steiners persönliche Vertraute, da sie nach seinen Angaben in seiner Werkstatt arbeitete, und vor allem an der Realisation der Skulptur des „Menschheitsrepräsentanten“ mitwirkte. Judith von Halle nimmt immer wieder Bezug auf Maryon, durchaus nicht nur in Form von Zitaten, sondern auch so, dass sie mit Entschiedenheit Stellung zu Fragen des inneren Lebens Maryons beantwortet, die eine enge Beziehung (ohne Quellenangaben zu geben) suggerieren. Es liegen am Verlag am Goetheanum die Biografien von Rex Raab und die von Peter Selg (28) vor, wobei sich die zweite als aktualisierte Neufassung der ersten versteht.

Rudolf Steiner legte eine ungewöhnliche Strenge Edith Maryon gegenüber an den Tag. Während er sonst auf die innere Freiheit und Eigeninitiative seiner Mitarbeiter primären Wert legte, lobte er selbst bei der Beisetzung der früh verstorbenen Maryon (29) deren Bruch mit ihrem vorherigen Leben, ihre eiserne Disziplin und „Folgsamkeit“ in der Arbeit Rudolf Steiner gegenüber: „Man kann in einer gewissen Beziehung in die anthroposophische Bewegung nichts hineintragen, sondern man muß eigentlich zunächst das liegen lassen, was man vorher hat, wenn man aktiv mitarbeiten will. (…) Es konnte sich nicht darum handeln, etwa so zusammenzuwirken, daß irgend eine Resultante des Zusammenwirkens entstanden wäre, sondern es konnte sich nur darum handeln, daß die Arbeit so geleistet wurde, wie ich es haben mußte, wie sie geleistet werden mußte nach den Intentionen des Goetheanums, die ich zu vertreten hatte. (…) Ob man einverstanden ist miteinander oder nicht, die Arbeit muß zustandekommen, die Arbeit muß möglich sein.

Das ist tatsächlich, zumal bei einer Beisetzung, eine merkwürdige Charakterisierung eines Verhältnisses. Es wird ganz deutlich, dass es ein Problem in diesem „Einverstanden- Sein“ bei Edith Maryon gegeben haben muss, dass Rudolf Steiner ihr eine derartige Disziplin abverlangte. Und das, obwohl Maryon sehr früh nach ihrem Eintritt auch in die Esoterischen Klasse der Anthroposophischen Gesellschaft aufgenommen worden war und offensichtlich und explizit erhebliche esoterische Kompetenz mitgebracht hatte. Der Zusammenhang wird vielleicht deutlich, wenn ein weiterer Ausschnitt dieser Rede zur Gedenken an Maryon betrachtet wird: „Edith Maryon hat das, was in der anthroposophischen Bewegung zu finden ist, dadurch gesucht, daß sie zunächst innerhalb einer anderen esoterischen Gruppe Mitglied war und an den verschiedensten Arbeiten dieser Gruppe als ein sehr tätiges Mitglied teilgenommen hatte.“ (29)

Was ist unter „sehr tätig“ in diesem Zusammenhang zu verstehen? Peter Selg schreibt in der genannten Biografie, dass Maryon ab 1910 publizierte Aufsätze Steiners zur geistigen Schulung gelesen und 1912 zweimal vergeblich versucht hatte, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Erst der Bittbrief eines Freundes, in der dieser schrieb „As she is in urgent need of advice and help, she can wait no longer..“, reagierte Steiner. Vielleicht schon in Berlin, spätestens am 31. Dezember in Köln fand eine Unterhaltung statt, die auch einen merkwürdigen Charakter gehabt haben muss, denn Maryon schrieb ihm schon am 1. Januar: „Sie sagten gestern dass ich viel mehr okkult entwickelt bin als ich in dieser Inkarnation zur Geltung bringen kann- ist das die Folge eines Fehlers, den ich begangen habe, oder weil ich eine andere Art von Arbeit zu vollbringen habe?“ (30)

Maryon selbst, die „geschulte Okkultistin“ (31) schrieb, sie sei bislang dem Meister Abdul Baha, dem Leiter der Bahai- Gemeinde gefolgt, aber das erklärt Rudolf Steiners strenge Betreuung und Auflagen ihr gegenüber nicht. Vielmehr war Maryon seit 1909, mit 37 Jahren, Mitglied des „esoterischen Ordens - der „Hermetic Students of the Golden Dawn“ (32), genauer gesagt deren Nachfolge- Orden „Stella Matutina“. Selg nennt diese Mysterienrichtung höflich „eleusinisch“. Genauer ausgedrückt handelte es sich um den bedeutenden magischen Zirkel Dr. Felkins:

Der Hermetic Order of the Golden Dawn (hermetischer Orden der goldenen Morgendämmerung, kurz: Golden Dawn) war eine magische diskrete Gesellschaft. Er wurde um 1887/1888 in London von William Robert Woodman, Samuel Liddell MacGregor Mathers und William Wynn Westcott gegründet. Der Orden bestand bis 1903 und zerfiel dann wegen innerer Streitigkeiten in diverse Nachfolgeorganisationen.“ (33)

Berühmtestes Mitglied war der Schwarzmagier Aleister Crowley. Maryon wurde offensichtlich nicht direkt Mitglied dieses Kreises, aber des Ablegers Stella Matutina, dem die meisten Gründungsmitglieder des Golden Dawn gefolgt waren. Maryons Interesse an Rudolf Steiner entsprang wohl einer Gruppe innerhalb dieses Ordens, der sich speziell als „Rosenkreuzer- Gruppe“ betrachtete. Allerdings arbeitete diese Splittergruppe auf eine magische Art, nämlich durch Channeling, Beschwörung, Mediumismus und Besessenheit: „Die "Rosenkreuzer"-Gruppe, die von sich behauptete, sie könne durch Geisterbeschwörungen ein Medium in einen Zustand der Besessenheit versetzen, der es ermögliche, als Kontrollgeist niemand geringeren als die fiktive, legendäre Romanfigur des Christian Rosencreutz zu channeln.“ (34) Nach dem Weggang Maryon gab es Skandale, Veröffentlichungen und Schließungen dieser Zirkel, weil behauptet wurde, „dass es sich bei dem Orden um eine satanistische Organisation handele und verurteilte als konservativ gewordene Christin öffentlich die Machenschaften, später auch in zwei Büchern, in denen sie ihrem Eindruck Raum gab, dass die Stella Matutina eine satanistisch- kommunistisch-zionistische Konspiration sei, welche mittels sexueller Energien die Weltherrschaft erlangen wolle.“ (35) In jedem Fall war der höchst dubiose Orden ein exklusiver Zirkel, der zur Zeit von Maryons Eintritt seinen Höhepunkt hatte: „In seiner Blütezeit zwischen 1904 und 1910 wurden hier allein 72 Männer und Frauen initiiert.“

So wird es verständlich, dass Rudolf Steiner Maryon mit äußerster Konkretheit eine streng überwachte Arbeit zuwies und ihr eine stetige Distanz und Strenge auferlegte, trotz der langjährigen intensiven Zusammenarbeit. Er selbst charakterisierte ihr Mitwirken in diesen schwarzmagischen Kreisen als „sehr tätiges Mitglied“. Gerade das giftige Arbeiten in mediumistischen Beschwören des gechannelten Christian Rosenkreutz muss ihre esoterische Arbeit auf das Schwerste korrumpiert haben- so sehr, dass Rudolf Steiner aussagte, sie werde ihre (konstruktive) Aufgabe in einer Inkarnation nicht bewältigen können.

Es ist nun merkwürdig, dass sich Frau von Halle so nachhaltig darauf versteift, dass derlei obskure Vereinigungen und okkulte Bewegungen wesentlichen Einfluss auf Rudolf Steiner, sein Wirken und seine Entfaltung gehabt haben sollen, ja, dass er deren Meister gewesen sein soll. Schließlich hat die Entwicklung des Golden Dawn über Aleister Crowley zur Renaissance der rituellen Sexual- Magie geführt, zum modernen Satanismus und einer Neuauflage mediumistischer Channel- Aktivitäten. Rudolf Steiner selbst ist Problemen, die mit der Verwicklung in solche Aktivitäten verbunden waren, (wie man am Fall Edith Maryons sieht) als lebenslanger Therapeut entgegen getreten und hat die Schülerschaft eines dubiosen Meisters wie R.W. Felkin abgelehnt.



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1 Von Halle, „Anna Katharina Emmerick. Eine Rehabilitation“, Verlag für Anthroposophie 2013
2 typisch von Halle: Steiner als „geheimen“ Großmeister auszugeben erspart ihr jegliche Notwenigkeit der Quellenangaben- die ohnehin nicht möglich wäre, weil die Behauptung erfunden ist
3 von Halle, S. 303
4 von Halle, S. 303
5 Rudolf Steiner / Edith Maryon: Briefwechsel. Briefe – Sprüche – Skizzen, 1912–1924
6 GA 263/1, Chiswick London 16.10.1912
7 von Halle, S. 306
8 Nick Farrell, King over the Water. Samuel Mathers and the Golden Dawn, S. 61
9 Farrell, S. 73
10 William Butler Yeats, Autobiografien, Leipzig 1984, S. 168f
11 Farrell, S. 76
12 Farrell, S. 76
13 Farrell, S. 81
14 the "Secret Chiefs" nach Farrell, S. 83
15 Farrell, S. 135
16 Farrell, S. 135
17 R.A. Gilbert, Arthur E Waite. Ein Magier besonderer Art, Königsförde 1998
18 Farrell, S. 138
19 Farrell, S. 138
20 Farrell, dito
21 Farrell, dito
22 Gilbert, S. 168
23 Waite nach Gilbert, dito
24 Gilbert, dito
25 von Halle, S. 304
26 Von Halle, S. 303
27 http://gyllenegryningen.blogspot.de/2009/05/rudolf-steiner-and-golden-dawn.html?m=1
28 Peter Selg, Edith Maryon Rudolf Steiner und die Dornacher Christus-Plastik
29 „Gedenkworte für Charlotte Ferreri und Edith Maryon“, 3. Mai 1924, (GA 261)
30 Selg, S. 32
31 Selg, S. 35
32 Selg, S. 17
33 http://de.wikipedia.org/wiki/Hermetic_Order_of_the_Golden_Dawn
34 Wikipedia, dito
35 Wikipedia, dito
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Vorliegender Beitrag ist eine überarbeitete Zusammenfassung früherer Artikel aus einem nicht mehr bestehenden Blog

Transsubstantiation und Alchemie. Über den Rosenkreuzer Michael Maier

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Michael Maier Wikipedia
In seinem Priesterkurs setzt Rudolf Steiner (1) in Bezug auf die „Wirksamkeit“ der Wandlung in sehr alten, vorgeschichtlichen Kulten an, indem er über das „Durchdrungenwerden mit der Substanz des Apokalyptischen“ spricht, das später, im christlichen Kontext, als reale oder symbolische Wandlung in der Transsubstantiation verstanden wurde. In einer Übergangszeit, die er nicht näher beschreibt denn als „halbalte Mysterien“, gab es eine „Probe“ des Priesters, die darin bestand, zu konstatieren, ob er in der Lage war, die Realität der apokalyptischen Wandlung wahrzunehmen: „Der Priester wurde erprobt in dem Augenblick, wo er vor die heilige Stätte hintrat und die alten Fermente anfingen, die Substanzen in den heiligen Kristallgefäßen so zu verwandeln, daß er in dem Kristallgefäß sehen konnte, wie die Substanzen Sonnenglanz verbreiteten. Das Gefäß, in dem eine kleine Sonne war, war eine Monstranz. Es war ein Sanktissimum, das heute nur nachgebildet werden kann. In dem Moment, in dem er das Sonnenglänzen des Sanktissimums sah, war er innerlich Priester geworden.“ (2)

Nachklänge eines solchen Wandlungs- Prozesses darf man wohl in dem Wirken der Alchemisten des Renaissance- Zeitalters sehen, die mit der spirituellen Wandlung - dem Entstehen des „Goldes“ als Synonym für den „Sonnenglanz“- Wandlungen der Substanzen, systematisches Experimentieren, Verstehen des Wirkens von Substanzen und Sternen, aber auch politische und religiöse Veränderungen verbanden- im Sinne einer Vereinigung und Befriedung der divergierenden religiösen und politischen Kräfte des Westens auch vor dem Hintergrund einer existentiellen Bedrohung durch heranrückende islamische Reitervölker im Osten.

Die innere Wandlung wurde in völliger Einheit mit dem experimentellen Arrangement betrieben. Nirgends wurde diese Suche intensiver betrieben als am liberalen Prager Hof Rudolf II, dem spirituellen Habsburger Herrscher der Renaissance, der, schwächlich geboren, am nach den Maurenkriegen bigotten spanischen Hof erzogen, als depressiver, manischer Kunst- Sammler und -Förderer auch die Glaubensfreiheit gegen den Katholizismus in seinen inquisitorischen Zügen verteidigte und daher die Nonkonformisten der Welt an seinen Prager Hof zog: „The period in which Rudolf grew up in Spain was, therefore, one of neoscholasticism and mysticism, of persecuted illuminists and burnt heretics, of extreme religious bigotry and political absolutism.“ (3)

Abgesehen von seinen persönlichen Schwächen, seiner Passivität in Bezug auf notwendige politische Entscheidung, der Depressivität und Neigung, absolutistisch in dem Sinne zu reagieren, dass er in entscheidenden Phasen die treuen Berater entließ und stattdessen auf Betrüger, Karrieristen und zwielichtige Okkultisten setzte, war Rudolf auch eingezwängt zwischen spanisch- päpstlichen Gegenaufklärern mitsamt ihres jesuitischen Anhangs an seinem Hof und der disparaten, radikalisierten evangelischen Mehrheit in seinem Land und in der Stadt Prag selbst. Rudolf regierte in den kaum zu ertragenden Spannungen am Vorabend des 30jährigen Krieges, und setzte dabei weniger auf politische Raffinesse und diplomatische Schachzüge als auf Kunst, Astrologen, Magier, aber auf auf Mathematiker, Astronomen und eben Alchemisten. Vielleicht illustriert sein Hofmaler Giuseppe Arcimboldo den Nonkonformismus Rudolf II schon eindrücklich genug, vor allem dessen Porträt seines Königs im typischen Stil des Früchte- und Obstkorbs- ein surrealistisches Porträt.

Trotz aller persönlichen Probleme Rudolfs hat er aber doch ein in seiner zerrissenen Zeit einmaliges Zeitalter der Toleranz konstituiert („Catholics worked and lived side by side with Protestants and Jews in tolerant acceptance.“ (3)) und die genialsten Köpfe seiner Zeit an seinem Hof zur Kooperation eingeladen. In seiner Gegenwart und durch seine Finanzierung wurde der Übergang von der antiken (Tycho Brahe) zur wissenschaftlichen (Johannes Kepler) Weltsicht vollzogen. Der Kampf um eine Befriedung einer zerrissenen Welt wurde bei Rudolf durch Hunderte von Alchemisten und viele Labore vollzogen, die einen höheren, für alle Menschen geltenden Geist suchten und damit die unmittelbaren Vorbereiter der politisch- spirituellen Rosenkreuzer waren.

Entgegen unserer heutigen Perspektive waren die Alchemisten und Rosenkreuzer eben nicht weltabgewandte Okkultisten, sondern die Vorreiter von Vernunft, Aufklärung und Humanismus: „Although they were considered – with magic – part of the ‘occult’ sciences, their higher purpose was to banish the darkness of ignorance and to attain enlightenment through knowledge.“ (3) Das lag an dem alchemistischen Axiom, dass das Experiment unteilbar mit der inneren Klarheit des Experimentatoren zusammen hing, und dieser Prozess führte zu vernünftigem Unterscheidungsvermögen, sofern der Alchemist kein Scharlatan war: „The alchemists believed in the alchemy of matter as well as the alchemy of spirit: if an alchemist was not spiritually pure, he would never achieve success in his experiments. To discover the Philosopher’s Stone was therefore an outward sign of inner enlightenment: the two aspects were inextricable.“ (3)

Eine der bedeutenden Figuren in Rudolfs Umfeld war der Alchemist Michael Maier (4), Alchemist, Doktor der Medizin und Philosophie, Leibarzt von Rudolf, aber auch Berater und Kenner des okkulten Altertums. Viele der Alchemisten bezogen sich auf ägyptische und chaldäische Weisheit. Seine Heilungserfolge am Hof waren legendär. „Maier was born in Rendsberg, Holstein, in 1566, and practised medicine at Rostock and then Nuremberg and Padua. By 1592, he had already excited the interest of Rudolf. After receiving his doctorate in medicine from Basle, he moved to Prague and joined the Emperor’s close entourage.“ Maier blieb dem Kaiser trotz dessen seelischen, psychischen und politischen Niedergangs bis zum Tod verbunden. Maiers Bücher aber wurden erst nach dem Tod Rudolfs - dann in dichter Folge- publiziert. Maier war Lutheraner, fasste aber die medizinische und alchemistische Betätigung als spirituelles Handeln auf. Umgekehrt sah er - hier der Zusammenhang mit Rudolf Steiners Aussage über die Wandlung der Fermente - die Wandlung am Altar als unmittelbaren alchemistischen Prozess- ein direktes Einwirken des Geistigen ins Physische.

Das erste unter dem Pseudonym Hermes Malavici von Michael Maier erschienene Buch (Arcana arcaninissa, 1614 - das Geheimnis der Geheimnisse) ist dann auch ein gleichnishafter Einweihungsroman, in dem der Protagonist auf der Suche nach dem Vogel Phönix nach Ägypten zieht, um durch Merkur in den Aufstieg des Phönix - als Symbol des Bewusstseins jenseits von Leben und Tod- geführt zu werden. Diese Alchemie des Geistes als ein Eingeweihtwerden in den Logos ist fern von schwammiger Mystik, sondern ein präziser, in der experimentellen Alchemie verwirklichter Akt höherer Vernunft. Es ist nur konsequent, dass Maier sich in seinen Publikationen selbst als Rosenkreuzer kennzeichnete- vor allem im 1619 erschienenen Buch Verum inventum: „Maier became an important figure in the Rosicrucian Movement, which tried to bring about moral and social reform through Hermetic enlightenment. He defended their ideals in his Verum inventum (1619).“ (3) In seinen weiteren, noch bekannteren Werken bemüht sich Maier in den alchemistisch- rosenkreuzerischen Symbolen um eine Einheit von Musik und Natur, wobei die Chymische Hochzeit den Sucher zum Stein der Weisen führt - Gleichnisse des Einweihungsprozesses - eine innere, schrittweise Verwirklichung. Einmalig bei Michael Maier ist die Einfügung von musikalischen Fugen in die allegorischen Texte, die den geneigten Leser zum Singen anregen sollten, um ihn in die angesprochenen kosmischen Harmonien einzustimmen. Maier hat sich also um eine höchst modern anmutende Aktivierung des Lesers über Genre- Grenzen hinweg bemüht.

Nach Rudolfs Tod reiste Michael Maier über Holland nach England, wo er mit dem bedeutenden Rosenkreuzer Robert Fludd zusammen traf, aber auch mit dem gemeinsamen Verleger Boy of Oppenheimer. Mit auf dem Programm standen aber auch wichtige politische Gespräche auf der Ebene des Königshofs - auch für die Zeit nach Rudolfs Tod in Böhmen. Am Vorabend des verheerenden 30jährigen Krieges starb Michael Maier.

Er war das beste Beispiel für die tatkräftige, vernünftige, politisch engagierte Kooperation von Alchemisten und Rosenkreuzern, die die kosmische Vernunft im physischen Handeln und Denken verankern wollten- auch um zu verhindern, dass die schon lange aufgestauten, katastrophalen religiösen Differenzen zwischen Juden, zerrissenen Christen und Muslimen zur Explosion führen würden. Mit Rudolfs Entmachtung und Tod geschah aber genau das; die intriganten, reaktionären katholischen Kräfte und protestantische Extremisten prallten aufeinander, verfolgten die große jüdische Gemeinschaft in Prag und schwächten sich in der Auseinandersetzung mit der seit 1604 wieder stärker heran drängenden osmanischen Weltmacht.

Das von Rudolf Steiner für alte Kulte typische „Sonnenglänzen des Sanktissimums“ war für die Hunderten von Alchemisten, die im Habsburger- Reich Rudolf II verteilt - nicht nur an seinem Hof- zu einem spirituellen Ringen um eine höhere Vernunft und Erkenntnis geworden, die vor allem - vergeblich- bemüht war um eine innere Befriedung der fanatisierten christlichen Kräfte. Für die päpstlich- spanische Fraktion mit den sie mit allen Mitteln unterstützenden Orden war der ketzerische Feind am Hof Rudolfs II ebenso gefährlich wie die von außen herein drängenden osmanischen Heere, denn die Alchemisten und Rosenkreuzer suchten ein überkonfessionelles Christentum und sahen sich in der Tradition hermetischer Einweihungsmethoden. Mit dem herein brechenden 30jährigen Krieg und der grassierenden Pest wurden diese Bemühungen dem Erdboden gleich gemacht.

Rudolf Steiner stellt - wobei er namentlich Rudolfs Hof- Astronomen Tycho Brahe hervor hebt- sogar eine Verbindung her zwischen dem alchemistischen Impuls und den Christus-Suchern Anfang des 20. Jahrhunderts, in denen er vermutlich den anthroposophischen Kern sieht - beide in der Tradition des Michael- Impulses: „Und Tycho Brahe hatte bedeutenden Einfluß darauf, daß diese Seelen nun am Ende des 19. Jahrhunderts vorbereitet auf die Erde herunterkamen, um den Christus nicht nur so zu schauen oder zu fühlen, wie ihn die verschiedenen Bekenntnisse fühlen, sondern wiederum in seiner grandiosen Weltherrlichkeit als den kosmischen Christus.“ (5)

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1 Rudolf Steiner, Apokalypse und Priesterwirken
2 dito, S. 25
3 The Mercurial Emperor: The Magic Circle of Rudolf II in Renaissance Prague by Peter Marshall. Leider verzichtet die vorliegende Kindle- Ausgabe auf Seiten- Angaben
4 https://de.wikipedia.org/wiki/Michael_Maier_(Alchemist)
5 Rudolf Steiner, GA 238, Seite 93

Toleranz und Dämonologie im Werk Rudolf Steiners

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Man braucht kein besonderer Kenner zu sein, um die denkbar größten Widersprüche im Werk des Anthroposophie- Begründers Rudolf Steiner zu entdecken- etwa in Bezug auf religiöse Toleranz, oder in Bezug auf rassistische Zuschreibungen. Eigene Einstellungen, Weltbilder, Lifestyle oder politische Positionierungen mit Zitaten aus dem Werk belegen zu wollen, stellt immer dann einen Missbrauch dar, wenn man nicht den Kontext mitbedenkt, aber auch gegensätzliche Aussagen und Haltungen Steiners. Das Werk kann niemanden aus der Verantwortung entlassen, die er selbst mit seinen Positionierungen und mit seinem Handeln einnimmt. Das über Jahrzehnte betriebene beliebte Verfahren, Rudolf Steiner über die Analyse zu erheben, und damit die tiefe Widersprüchlichkeit des Werks zu ignorieren, führt in eine Selbstbetäubung und Ignoranz mit kultischen Zügen. Solche Haltungen verderben die Essenz des Werks, führen zur Abgrenzung, Leugnung und Fanatisierung.

Ein verantwortlicher Umgang mit dem Werk wird die Augen vor dem offensichtlich Abgründigen nicht verschließen - aber auch das erschließen können, was zur reifen und emanzipierten Reflexion beiträgt, die die spirituellen Aspekte individuell zugänglich und fruchtbar machen kann. Anthroposophie kann in diesem Sinn nie fertig sein, sondern bedarf immer der persönlichen Interpretation, Aufarbeitung und Durchdringung, wenn man nicht einem naiven Realismus verfallen will.

Nehmen wir ein Beispiel. In Vorträgen in Stockholm 1912 ging Rudolf Steiner im Rahmen der christlichen Initiation auf das echte Rosenkreuzertum ein, in dem „alles Persönliche (..) ausgeschlossen sein“ sollte, denn das nur „Persönliche hat nur Streit und Hader in die Menschheit gebracht und wird es in der Zukunft immer mehr bringen“. (1) Die dabei gemeinte „unpersönliche“ Ebene hat sich aus dem nur ich- bezogenen Denken befreit, aus der Perspektive des Sich- Fühlens und Sich- Spiegelns. Das - so Steiner - sei der Grund dafür, dass die Geheimhaltung bei den seit der Renaissance tätigen führenden Rosenkreuzern mindestens hundert Jahre nach ihrem Tod beibehalten wurde- das „Okkulte“ selbst in Bezug auf den Namen solcher Individualitäten sollte jeden persönlichen Kult verhindern.

Worauf es ankam, war die Inspiration aus einer Ebene des Logos, des nicht von dem Persönlichen berührten Bewusstseins - einer Ebene, die nicht von religiösen Bekenntnissen berührt wird, sondern in der Sachlichkeit eines Faktischen wurzelt, die Steiner auch „Christus- Bewusstsein“ nennt. Es ist zugleich eine Ebene, die sich „nicht aus menschlicher Willkür“ heraus begründet, sondern in der existentiellen Sachlichkeit „Liebe, Friede und Verständnis“ (2) verbreitet. Das führe in seiner Konsequenz zu einer Toleranz, in der man z.B. niemals, „wenn wir als Abendländer einem Buddhisten entgegentreten, ihn überredend oder zwangsweise zu einem Christen machen wollen, weil wir glauben, dass das, was ihm selbst gegeben ist und was als das das Tiefste in seiner Religion enthalten ist, ihn schon zum Christus hinführen wird. Wir glauben vor allen Dingen seiner eigenen Wahrheit.“ (3) Die unpersönliche Ebene begründet ein tiefes gegenseitiges Verstehen der jeweiligen Impulse, „wo der Mensch zusehen und aufnehmen darf, was ihn mit dem Göttlichen verbinden kann“ (4) ohne jedes „Unfrieden stiftende Bekenntnis mit einem religiösen Führer persönlicher Art.“ (4) Die Selbstgewahrwerdung - d.h. Initiation-  sei vielmehr Harmonie und Verständnis stiftend, ohne sich gegenseitig Paradigmen aufdrängen zu wollen. Erst auf dieser Ebene sei man tatsächlich Anthroposoph- unabhängig davon, ob man christlichem oder buddhistischem Bekenntnis folge.

Es ist dann schon erstaunlich, wie weit Rudolf Steiner sich zwölf Jahre später, am 11. September 1924, im Rahmen des Priesterkurses zur Apokalypse des Johannes, selbst widerspricht- denn die Toleranz, die er gegenüber dem Buddhismus bezieht, findet sich in Bezug auf den Islam - den er in seiner arabistischen Hochkultur, aber auch - vage- in Bezug auf den Mohammedismus ohne nähere Ausführungen verdammt- nicht. Er sieht im Islam in den von ihm dargestellten kulturellen Spielarten die Rolle des globalen Gegenspielers „gegen das christliche Prinzip im Menschen“ (5) und spricht ihm gleichzeitig jede eigenständige innere Entwicklung ab. Die „Vertreter des Arabismus in Europa“ hätten durch den Darwinismus die Vorstellung des dem Tierreichs entsteigenden Menschen geprägt- aber auch eine rein deterministische Sicht auf den Menschen: „Da kann der Mensch sich nicht selber finden.“ (6) Denn der Islam „kennt nur die starre Lehre.“ (6)

In diesen Zusammenhang fügt Rudolf Steiner eine bekannte historisch- okkulte Deutung des Bösen hinzu, das sich „der damaligen Gesinnung der römischen Kirche bediente“ (7) und in einer weiteren Eskalation den Templer- Orden vernichtete. Die angesprochene „Gesinnung“ freilich war - was Steiner verschweigt- in ihren Spielarten von Inquisition und Gegenreformation gerade der Bekämpfung der liberalen maurischen Hochkultur in Spanien entsprungen, in der die religiösen und gesellschaftlichen Kräfte in einer für die Zeit bemerkenswert toleranten und freizügigen Art miteinander agiert hatten. Dieser weltoffenen „arabistischen“ Blüte mit ihren gesellschaftlichen, medizinischen, kulturellen und wirtschaftlichen Höhepunkten Entwicklungsmöglichkeiten abzusprechen, erscheint aus heutiger Sicht mehr als widersprüchlich. Diese Blüte wurde aus reaktionären Motiven genau so zerstampft wie der global aufgestellte Templer- Impuls.

Der Furor, mit dem Rudolf Steiner seine drastische und undifferenzierte, pauschale und apokalyptische Attacke gegen den Islam ausrichtet, hat aber einen aus den Vorträgen ersichtlichen Subkontext, der immer wieder aufschimmert: Es geht ihm im Kern um die Bedeutung der Transsubstantiation, die auch innerhalb der Priesterschaft der Christengemeinschaft seit Jahren diskutiert worden war (8). Es geht darum, ob diese symbolisch oder als tatsächlich geistiges Geschehen aufzufassen sei. Die oben angesprochene „unpersönliche Ebene“ - die Realität des Geistes- ist für Rudolf Steiner die Kernfrage in Bezug auf den christlichen und damit auch anthroposophischen Impuls. Der Furor Steiners richtet sich mithin gegen Priester und Anthroposophen, die materialistischen Vorstellungen verhaftet bleiben würden, die er vom Islam, Teilen des Katholizismus, Dämonen und Darwinisten determiniert zu sein behauptet. Die „Vertreter des Arabismus in Europa“, die er als dämonische Gegenspieler wittert, sitzen eben auch in den eigenen Reihen. Der in geradezu mittelalterlicher Manier verdammte Islam steht in dieser internen Auseinandersetzung ganz offensichtlich nur als Projektionsfläche und als Sündenbock- als Chiffre für diejenigen, die Steiners spirituellen Ansprüchen nicht genügen wollten oder konnten.

Lorenzo Ravagli geht in einer Besprechung von Christian Clements sechstem Band der kritischen Ausgabe „Notwendig ein Torso. Zu Band 6 der kritischen Steiner-Ausgabe – #1“ auch diesen scheinbar unauflöslichen Widersprüchen in Steiners Werk und Wirken nach, die ja auch eine scheinbar ebenso unvermeidlich unversöhnliche Diskussion über die Frage ausgelöst haben, ob und wie weit anthroposophische Literatur nach wissenschaftlichen Maßstäben beurteilt, kategorisiert und kontextualisiert werden kann und darf. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich nach Clements Darstellung auf, sobald die geistige Ebene nicht mehr im Sinne eines naiven Realismus als „vorhanden“ vorausgesetzt, sondern verstanden wird als sprachlich- bildliche Hinweise auf eine Ebene, die vom Leser oder Hörer in seinem eigenen Erleben erst geistig erschlossen und realisiert werden kann und muss. Initiations- Texte sind nicht naiv als „Information“ hinzunehmen (etwas, worauf auch Georg Kühlewind eine Generation zuvor immer wieder hingewiesen hat), sondern als Katalysatoren einer aktiven Realisation des Rezipienten; sie verfolgen „initiationsdidaktische Absichten“:

Daher ist es nur konsequent, wenn er als Theosoph das Ziel verfolgte, die »uralte Weisheit« (die philosophia perennis) aus einer »Transzendenzlehre« mit quasi-religiösem Charakter in eine »Darstellung der menschlichen Wirklichkeitserfahrung bzw. -hervorbringung« umzuwandeln. Seine Schriften verlangen den Lesern ab, die Welten, die er vor ihren Augen heraufzaubert, »nicht als transzendente, an sich bestehende Orte« vorzustellen, »die unabhängig« vom Bewusstsein bestehen, das sie erlebt, sondern »als transzendentale Modi von Wirklichkeitserfahrung«. Was ist damit gemeint? Diese Welten entfalten sich um den Menschen herum, je nachdem, welche Denk- oder Anschauungsformen er realisiert. Eine »Seelen«- oder »Geisterwelt« existiert nach Clement nicht an sich, sondern nur für den Menschen, der sie durch sein Denken und Anschauen hervorbringt. Der Mensch als seelisches oder geistiges (oder leibliches) Wesen existiert also ebensowenig an sich, sondern nur insofern, als er sich als solches durch sein Denken und Anschauen hervorbringt. Nur: wer bringt das Denken und Anschauen des Menschen hervor? Noch einmal betont der Herausgeber: Steiners theosophische Texte »bilden nicht« eine seelische oder geistige Wirklichkeit »ab«, sondern schildern »seelische und geistige Erlebnisse« – die freilich »in Bilder und Begriffe rückübersetzt« sind, die vom gewöhnlichen Bewusstsein verstanden werden können. Außerdem verfolgen Steiners Texte eine initiationsdidaktische Absicht: sie beabsichtigen nicht die Information des Lesers über eine objektiv vorhandene Wirklichkeit, sondern dessen Transformation, sie verstehen sich als »Katalysatoren« für die Entwicklung im Rezipienten zunächst verborgener »Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeiten für Seelisches und Geistiges«.“ (8)

Allerdings ist das an eine Autorität wie Steiner anlehnende Aufsaugen von okkulten Informationen im Sinne eines naiven Realismus der deutlich bequemere Weg. Zudem hat Steiner selbst zwar auf den hinweisenden Bildcharakter seiner Arbeiten und Äußerungen immer wieder explizit hingewiesen- schließlich wäre sein Werk in dieser Auffassung genau das, was er am Islam so vehement kritisiert: er „kennt nur die starre Lehre.“ (6) Andererseits hat er selbst bestürzend ungehalten reagiert, wenn Mitglieder oder Priester die intendierte Ebene - siehe die Äußerungen im Zusammenhang mit der Transsubstantiation - aus seiner Sicht verfehlten. Das Aus- und Fortspinnen der naiv aufgefassten bildhaften Geisterwelten mit den unterschiedlichsten Gewürzen und Geschmacksrichtungen - vor allem aber mit suggestiven, sensationellen Anteilen - ist bis heute eine gängige Marketing- Strategie. Leicht verdauliche Esoterik- Kost boomt. Ebenso aber die Nutzung der aus damaligen Diskussionen entsprungenen radikalen, pauschalisierenden Äußerungen Rudolf Steiners - etwa in anthroposophisch- rechtspopulistischen Nischen. Die kritische Sichtung des Werks, wie sie Christian Clement vornimmt, die die Ebenen der Deutung und Bedeutung ebenso wie die Entstehungsgeschichte des Werks reflektiert, steht dagegen noch am Anfang- aber, immerhin: Der Anfang ist gemacht.


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1 Rudolf Steiner, Die drei Wege der Seele zu Christus, Dornach 1994/4, S. 149
2 dito, S. 150
3 dito, S. 150f
4 dito, S. 151
5 Rudolf Steiner, Apokalypse und Priesterwirken, Dornach 2001, S. 117
6 dito, S. 107
7 dito. S. 120
8 https://anthroblog.anthroweb.info/2017/notwendig-ein-torso-zu-band-6-der-kritischen-steiner-ausgabe-1/?fb_action_ids=10209820384442080&fb_action_types=news.publishes

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