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Ein halbes Jahr in einer anthroposophischen Facebook-Gruppe – Ein Selbstversuch

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Rainer Herzog


»Nicht von außen, so sagte Rudolf Steiner schon 1914/1915, drohe seinem Werke Gefahr. Die Feinde kommen von innen, aus der Mitgliederschaft selbst.« (Adelheid Petersen, „Erinnerungen an Rudolf Steiner“, S. 189)

Ich muss gestehen, dass ich noch bis vor kurzem die diversen Berichte, Mahnungen und Warnungen über die Offenheit der anthroposophischen Bewegung für Verschwörungstheorien (VT) als etwas übertrieben erlebte – auf Facebook und auch vor allem hier auf dem Egoistenblog.

Inzwischen weiß ich: Es ist viel schlimmer, irrer und durchgeknallter, als ich angenommen hatte. Ich war ein halbes Jahr Mitglied in einer geschlossenen anthroposophischen Gruppe auf Facebook *), die unter anderem den Bedürfnissen nach geistiger Erbauung, Erkenntnisvertiefung, wissenschaftlichem Arbeiten und einem vertieften Studium Rechnung tragen will – und bin in diesen Tagen dort ausgestiegen.

Das Resümee schon einmal vorwegnehmend: Es hat sich gelohnt, ich wurde mit Erkenntnissen und Eindrücken bezüglich der zunehmenden VT-Begeisterung in Anthrohausen reich beschenkt. Dafür vielen und herzlichen Dank an die Gruppe! Ich kann es daher jedem unbedingt empfehlen, dieser (oder einer ähnlichen) Gruppe beizutreten, um sich ein lebendiges Bild vom, wie ich finde, desolaten, peinlichen und bedenklichen Zustand der gegenwärtigen anthroposophischen Bewegung zu machen.

Die folgenden skizzenhaften Erinnerungen und, ja, natürlich, auch Deutungen aus meiner Zeit in dieser Gruppe sind selbstverständlich subjektiv und als ergänzungsbedürftig anzusehen. Manche der Dialoge und Äußerungen, auf die ich mich im folgenden beziehe, wurden da wohl auch längst gelöscht, manche Mitglieder, mit denen ich debattiert hatte, sind inzwischen wieder ausgetreten.

Mitte April wurde ich auf FB von Jostein Saether in diese Gruppe eingeladen; da ich Jostein kenne und sehr schätze, war ich neugierig, was mich erwarten würde (Jostein selbst hat die Gruppe dann allerdings ziemlich schnell wieder verlassen). Das Geschehen dort fing an mit dem üblichen, eigentlich freundlichen, manchmal interessanten, irgendwie auch vertrauten und sich wiederholenden Posten von Zitaten oder Wahrspruchworten aus Steiners GA; es folgten Kommentare, Meinungen oder Fragen der Mitglieder dazu. Man kennt das ein wenig, manchmal kann das anregend sein, manchmal erbaulich, mir persönlich bringt so etwas nicht mehr viel. Einige Male wurde auf anthroposophische Seminare hingewiesen, ähnlich wie es in anderen Gruppen auf FB üblich ist. Interessant und unterhaltsam.

Irgendwann, ich glaube im Mai, ging „es“ los: Die Beiträge in der Gruppe kreisten zunehmend mehr und mehr um die diversen Erscheinungsformen der VT. Vor allem die resolute Hauptmoderatorin *), zweifellos die alles dominierende „Chefin“ und treibende Kraft, sowohl im 5er Moderatorenteam, als auch in der gesamten Gruppe (die anderen 4 Moderatoren waren äußerst zurückhaltend und eher bescheiden) – hat eine unermüdliche Energie, fast schon leidenschaftliche Hingabe entwickelt in der Bearbeitung von zahllosen und sich wiederholenden VT-Themen. Es entstand der Eindruck: Ein Mensch hat endlich sein Lebensthema, sein Schicksal gefunden.

Es kristallisierte sich im Laufe der kommenden Wochen und Monate heraus, dass VT-Denkhaltungen für einen größeren Teil der Mitglieder (zum Glück nicht für alle; und für manche mehr, für manche weniger) zu einer fest verankerten und ganz unumstrittenen Selbstverständlichkeit geworden sind: Man kann den „Mainstreammedien“ nicht trauen, da grundsätzlich „NATO-konform“ und von „der Staatsmacht“ gelenkt, man muss „hinter die Kulissen gucken“, man darf „die Wahrheit“ nicht mehr aussprechen, da die Mächtigen in Staat/ Wirtschaft/ Logen/Weltlenkung das zu verhindern versuchen, usw. usf.

Von einem Mitglied wurden in einer Diskussion nicht nur pauschal die „Mainstreammedien“ angezweifelt, sondern, wenn man schon einmal dabei war, auch die „Mainstreamgeschichtswissenschaften“(!). Auf meine diesbezügliche Frage, was denn genau bei den Geschichtswissenschaften anzuzweifeln wäre und welchen Autor etwa er mir denn nennen könnte, wurde herumgedruckst. Klar, so gut kennt man die denn nun doch nicht.

Der selbsternannte „Friedensforscher“ Daniele Ganser wird von vielen Mitgliedern der Gruppe nicht nur als symphatisch erlebt oder geschätzt, er wird regelrecht verehrt, er ist eine absolute und nicht weiter zu hinterfragende Autorität. Es ist wohl vor allem Gansers oft demonstrierte Haltung und Methode, aus seiner von ihm behaupteten „Wahrheitsliebe“ heraus anscheinend „nur unbequeme Fragen zu stellen“ (was sich „Mainstreamwissenschaftler“ aus Rücksicht auf ihre Karriere natürlich nie trauen würden), die dazu führt, dass viele Anthroposophen seine Denkhaltung begeistert 1:1 übernehmen.

Der Umstand, dass R. Steiner innerhalb seiner unüberschaubar großen GA diverse Male seine Zuhörer, Leser und Schüler ermuntert, die zu seiner Zeit gängigen wissenschaftlichen, philosophischen und sozialen Gegebenheiten und Autoren zu hinterfragen, um sie anthroposophisch zu durchdringen und entsprechend zu korrigieren, bzw. zu ergänzen, wird von nicht wenigen heutigen Anthroposophen etwas unbedarft übertragen auf die Person und Methodik des D. Ganser. Dass man sich als eifriger anthroposophischer Ganserist mit den zu hinterfragenden politischen und wissenschaftlichen relevanten aktuellen Autoren und Theorien häufig kaum oder nicht beschäftigt hat, kann dabei den Kampf der „Wahrheitsliebenden“ offenbar nicht stören - in den vielen Diskussionen in den darauffolgenden Monaten konnte ich immer wieder staunend erleben, dass der angenommene „Mainstream“ in Politik und Geschichte so gut wie immer grundsätzlich hinterfragt wurde, parallel zu einer meist auffällig dürftigen Kenntnis der Forschungsresultate eben dieses „Mainstreams“: „Ich denk mir die Welt, wie sie mir gefällt!“ (Pippi Langstrumpf).

Sagte nicht bereits Steiner bei politischen Themen häufig kritische Dinge über die USA? Genau wie Ganser! Spricht Steiner nicht vom Blick hinter die Kulissen? Wie Ganser! Und dann Steiners Aussagen über Geheimlogen! Werden wir nicht heute auch irgendwie alle gelenkt und gesteuert? Meine vorsichtigen Einwände in der Gruppe, dass das ja bei Steiner erstens im Verhältnis zur Gesamt-GA nur sehr wenige Äußerungen waren, die er zweitens vor gut 100 Jahren im finstersten wilhelminischen Zeitalter gemacht hatte, wurden zurückgewiesen; eine solche Unterscheidung wäre allzu willkürlich, wie würde ich darauf kommen, wie kann man nur, wir haben hier Aussagen von Steiner... Als dann irgendjemand mal die naheliegende Frage in den Raum stellte, welche Logen, von denen Steiner damals sprach, heute noch möglicherweise tätig sind, konnte natürlich niemand dazu etwas sagen.

Manchmal hatte ich den Eindruck, dass sich die Gruppenmitglieder in den endlosen Debatten zu dem Thema, ganz nebenbei, aber doch mehr oder weniger bewusst, ein neues aufregendes Selbstbild konstruieren wollten; die entsprechenden Denkmuster der VT lassen sich allerdings erst dann bruchlos in ein anthroposophisches Weltbild einfügen, wenn man letzteres einigermaßen begrifflich festgezurrt und auf einen allzu schlichten Gut-Böse/Wir-Die-Dualismus reduziert hat: Wir stellen die unbequemen Fragen. Wir lassen uns den Mund nicht verbieten. Wir kämpfen für die wahre Anthroposophie. Wir klären auf, kämpfen für die Wahrheit und kommen den Komplott auf die Schliche. usw. Ihr anderen werdet manipuliert und wollt die Wahrheit nicht zulassen.

(Es wurde in der Gruppe übrigens durchaus ernsthaft versucht, bei den VT zu differenzieren: Die „Reptilienmenschen“ und „Flat earth“-Vertreter wurden nicht ernst genommen, ok, zu unseriös. Immerhin, das soll hier nicht unerwähnt bleiben).

Das zentrale Thema, um das es hingegen immer wieder ging, das man sich nicht nehmen lassen wollte, da es längst zum zentralen Baustein des eigenen Weltbildes gehörte, war natürlich auch hier die beliebte „Nine-eleven-inside-job“-These. Dabei war es für mich in gewisser Weise rührend zu erleben, dass einige Teilnehmer (ja, vor allem auch die Chefin) möglicherweise noch nie, oder kaum etwas davon gehört hatten, dass es bereits eine seit 17 Jahren bestehende bekannte und umstrittene (und längst widerlegte) „Forschung“ und entsprechende Bewegung („Truther“) zu dem Thema gibt. Es schien ansatzweise so, dass man in der Gruppe tatsächlich die Hoffnung hatte, „ganz unbefangen“ die Ereignisse von damals „kritisch und sachlich“ völlig neu zu bewerten, „erforschen“, zu können. (Spätestens dann kommt, wie auch in ähnlichen Debatten andernorts, der Hobbyarchitekt im Manne zum Vorschein, mit diversen, schnell gegoogelten Beweisen, wann der Schmelzpunkt von dieser und jener Sorte von Stahlträgerkonstruktionen erreicht ist... – einmal ging es in der Gruppe sogar um die Brennbarkeit von Büromöbeln (!) von WTC 7. Ja, man lernt tatsächlich erstaunliche Dinge in solchen Diskussionen.)

Irgendwann kam auch mal jemand auf die glorreiche Idee, dass kein geringerer als Steiner selbst mit seinen Ausführungen zur 5. Nebenübung den Übenden regelrecht ermuntert, die Welt vor allem „unbefangen“ und somit im Grunde eigentlich auch „VT-mäßig“ zu sehen: Wie sagte Steiner – man solle sich unbefangen vorstellen, dass ein Kirchturm über Nacht ganz schief stehe... Man kann sich daher doch auch ebenso unbefangen vorstellen, dass die US-Regierung damals am 11.09 ...
Seufz. Und das war nicht das erste Mal, dass ich in dieser Gruppe erleben konnte, wie das Werk Steiners gezielt verzerrt und lächerlich gemacht wurde.

So ging das tatsächlich unermüdlich viele Wochen lang. Bei aller Unterhaltsamkeit – das Verfolgen dieser Naivität und Durchschaubarkeit des Denkens bei Menschen, die sich mit der „Philosophie der Freiheit“ verbunden fühlen, war letztendlich zum Fremdschämen.

Apropos PhdF: Ich hatte des öfteren den Eindruck, dass u.a. auch der, wenn auch nicht immer offen ausgesprochene, Bezug auf Steiners berühmtes Hauptwerk, mit seinem leider sehr dehnbar und beliebig auslegbaren Schlagwort „Freiheit“, als willkommene Legitimation für die „man-wird-doch-mal-was-sagen-dürfen“-Haltung herhalten musste. Auch Schillers „Die Gedanken sind frei“ wurde natürlich bei einer VT-Debatte triumphierend ausgegraben.

Auf diesem sehr überschaubaren und etwas schlichten Niveau plätscherten zahllose Debatten etwas ermüdend vor sich hin.
Ganz selten gab es mal ein wirkliches Highlight, einen von mir aufgeschnappten Dialog, der mich zutiefst und vom Herzen her erfreute: Bei Ganser war man sich, wie gesagt, in der Einschätzung seiner Person und der damit verbundenen Verehrung einig, nicht so (wahrscheinlich wegen seiner etwas prolligen Art) bei Ken Jebsen:
Mitglied A: „Wie würdet ihr Ken Jebsen einschätzen?“
Mitglied B: „Manches ist sehr gut bei ihm, er ist auf jeden Fall michaelisch, da er am 29.09. Geburtstag hat.“
Darauf muss man erst einmal kommen. Anthroposophische Geistesforschung 2018.

Der Fairness halber sei an dieser Stelle angemerkt, dass nicht wenige Mitglieder vom „Dauerthema VT“ einigermaßen genervt waren, zumal das meistens nicht nur zu Streitereien und schlechter Stimmung, sondern auch dazu führte, dass viele Mitglieder sich überhaupt nicht mehr trauten, irgedetwas zu kommentieren (Meine Idee, politische oder VT-Themen probehalber für 2 Monate auf Eis zu legen, hat niemanden interessiert). Daher gab es von der Chefin, im Stile einer sich kümmernden Übermutter, in regelmäßigen Abständen eine gutgemeinte pädagogisch-moralische Übung, um den eigenen Kommunikationsstil zu verbessern („4 Nachrichten einer Botschaft“, „Erwachen am anderen Menschen“ usw.). Wurde viel geliked, hat natürlich niemand gemacht.
(Die späteren Aufforderungen, den Kommunikationsstil zu vervollkommnen, waren dann lustigerweise ausschließlich für mich gedacht).

Zwischendurch hat man übrigens immer mal wieder versucht, ein „richtiges“ anthroposophisches Thema aufs Tapet zu bringen (sinngemäß): „Inwiefern können wir die Aussage Steiners, dass wir Anthroposophen die Wächter der Zeit sind, verwirklichen ... ?“ Auch das wurde ausgiebig und ausnahmsweise sehr einmütig diskutiert. 
Meine Güte, liebe Leute: „Wir – die Wächter dieser Zeit“! Geht`s denn vielleicht nicht noch unbescheidener...? Kann man nicht erst einmal versuchen, die eigenen Gedanken und Gefühle halbwegs zu sortieren und ansonsten sehen, dass man eine gewisse anfängliche Grundlagenbildung in Politik und Geschichte erwirbt oder wiederherstellt...?

Im Sommer platzte dann endgültig die Bombe: Info3. Der in anthroposophischen Kreisen reichlich viel Groll, Empörung und Staub aufwirbelnde Artikel: „Die offene Anthroposophie und ihre Gegner“. Die Chefin und einige andere drehten jetzt erst richtig auf; was vorher mehr eine Art „interessiertes, wenn auch leidenschaftliches Engagement“ gewesen war, entwickelte sich in den kommenden Wochen und Monaten für Aussenstehende zu einem beeindruckenden Schauspiel eines etwas irren und teilweise aus dem Ruder laufenden Privat-Djihad. Von „Inquisition“ war ansatzweise die Rede (JSH - Jens Savonarola Heisterkamp?). Nach dem Motto: Gibt es denn eigentlich nichts wichtigeres als diese dauernde „Gefährdung der Demokratie“...?

So ging das noch etliche Wochen weiter. Als vor einigen Tagen dann die Chefin die fröhliche Idee hatte, dass sich jetzt Mitglieder bei ihr persönlich anonym über andere Mitglieder beschweren durften, reichte mir der entwürdigende Klamauk, das ging für mich in Richtung „Aufforderung zur Denunziation“.

Fairerweise möchte ich betonen, dass der grösste Teil der Mitglieder sich überhaupt nicht, oder nur sehr sporadisch, an Diskussionen beteiligt hat. Es gab selbstverständlich auch zahlreiche äußerst positive und anregende Begegnungen. Diejenigen, die es betrifft, werden wissen, dass sie gemeint sind. Die hier dargestellte VT-Offenheit wurde in gewisser Weise nur von einer bestimmten Anzahl von Mitgliedern verbreitet, dieses dann allerdings so vehement und teilweise fanatisch, dass das bald den Stil, Duktus und Geist dieser Gruppe vollständig beherrschte.

Bei aller Ironie und Sarkasmus in der Darstellung meiner Ausführungen: Man kann sich natürlich zu Recht überlegen, ob einem diese Dinge nicht egal sein sollten. Ich hatte allerdings in den letzten Monaten zunehmend den Eindruck (auch durch reichlich ähnliche Beobachtungen in meinem Bekanntenkreis und auf FB), dass die von mir beschriebene Qualität und Vehemenz der VT-Offenheit in dieser Facebook-Gruppe ein durchaus repräsentatives Ergebnis der anthroposophischen Bewegung zeigt.

Wenn man, wie ich, mit der Anthroposophie seit über 30 Jahren so sehr verbunden ist, dass sie zum wesentlichen Bestandteil des eigenen Lebens gehört, kann und will man daher nicht schweigend zusehen, wie sie vollends der Lächerlichkeit und Demagogie preisgegeben wird.

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*) Name der Redaktion bekannt.




Bobby: Durchzugsesoterik als Spiegelbild der Medusa im Zeitalter identitärer Vernetzung

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Michael Eggert: "… Die Hybris, der Furor und das Superioritäts-Gefühl des vergreisten, frustrierten Anthroposophen ist hier mit Händen zu greifen- der „epochale Bruch“ mit allen Konventionen hat freilich etwas von hohlem Pathos, aber auch von einem Griff nach einem gefährlich irrationalen Moment, in dem essentielle Menschenrechte leicht zu bloßen „gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Konventionen“ werden. …"

Sollte das abgedriftete Gebärden der Anthro- Seele in Szenen anthroposophischer Dekadenz derzeit noch ernst genommen werden? Der unfreiwillige Unterhaltungswert ist beachtlich, die gesellschaftliche Relevanz gibt aber auch zu denken. Die soziale Verhaltensmuster der angesprochenen Kreisen sind immer wieder die gleiche und deshalb vorhersehbar: Der anthroposophische Mob begehrt auf, die vereinigten Esoterik-Abwehr-Krieger betreten das Schlachtfeld. Das brachialer Gewalt verbaler Salven- Geschütz scheint kein Ende nehmen zu wollen und orientiert sich heute zunehmend an der Wortgewalt zur Kulturhoheit neurechter Vertrollung der Identitären Bewegung (IB).



"Ondoor"


So auch auf der Webseite "Ondoor" (wer klopft da Am-Thor?):

"…Die "Info3-Schreiberlinge", die selbst nach Skripal-Fake und Assad als Giftgasjunky nichts dazu gelernt haben, polemisieren und verleumden "Menschen mit eigenständigen und klaren Erkenntnissen als Fanatiker oder besser – ganz, ganz rechte Fanatiker. Dr. Ganser oder Ken Jebsen als solcher zu titulieren? … Mehr als absurd! …"

Ist Doktor Ganser ein "ganz, ganz rechte Fanatiker". Nein das ist er nicht. Ist er ein Verschwörungstheoretiker? Nein, das ist er nicht.

Ganser hat mindestens seit 09.11 überhaupt keine ernstzunehmenden wissenschaftliche Thesen und Theorien im Angebot. Davor wahrscheinlich auch nicht. Auch keine ernstzunehmenden Theorien zu Verschwörungen. Stattdessen bietet er aber reichlich ideologisch geprägte Verschwörungslegenden, Lügengebäuden die mangels Wissenschaftlichkeit seiner sogenannten Theorien und die zweifelhaften Quellen seiner Beweisführungen in sich zusammenfallen wie WTC-7. Seine ideologische Ausrichtung in politischer und weltanschaulicher Hinsicht qualifiziert ihn höchstens als Verschwörungsmystiker, disqualifiziert ihn aber als Wissenschaftler. Seine Abhängigkeit von esoterisch-anthroposophische Verschwörungsmythen, sein eklatanter Anti-Amerikanismus, seine Propaganda im Sinne der Politik von Putin, seine Publikationen und Auftritte in Bereich russischer und extremistischer Netzwerke und Podien jeder politischen Richtung, auch, aber nicht nur, am rechten Rand, der suggestive Still seiner Auftritte. Das alles ist bei Ganser unübersehbar ideologisch gefärbt. Die Bezeichnung "Verschwörungstheoretiker" ist keine Diffamierung, das wäre eine Ehrung. Er hat sie nicht verdient. (Hinweis: Im Anhang dieses Beitrages werden die Begriffe zu Verschwörungen erläutert.)

Ganser ist ein Verschwörungsideologe, ein brandgefährlicher Überzeugungstäter und ein Geschäftemacher in einem und er betreibt Politik und Propaganda im Sinne von Putin: Die Amerikaner sind Böse und, als Umkehrschlussfolgerung, Putin ist gut. So erschreckend einfach ist das Weltbild des "Friedensforschers" Doktor Daniele Ganser und mancher seiner Zeitgenossen die sich als Anthroposophen bezeichnen.

Auch für "Ondoor" gilt: Das jahrhundertalte Feindbild, in diesem aktuellen Fall zu Info3, steht mal wieder und es wird entsprechend losgefeuert auf "…die glatt gebügelte und menschenverdummende Alphapresse mit ihren auf uns herniederprasselnden senilen Erklärungen der transatlantischen Medien…".



Die "Gräfin"


Auch "Ondoor" war zu entnehmen, dass hinter der Autorin "Sophie von Freiberg" eine Gestalt mit Südtiroler Identität stecken soll. Eine Internet-Recherche zu dieser Person war leider ergebnislos. Als eine anonyme Dame, vielleicht sogar aus adligem Geschlecht, führt sie wohl ein Dasein im dunklen Kreis der Nicht-Existenten. Die anonymen Gestalten sinistrer Identitäten aus Südtiroler Gefilden sind ohnehin berüchtigt um ihre Fähigkeit zur Metamorphose und Anpassung, ihre zweifelhaften Trollen-Identitäten und Rollenspielen, sind über jeden Zweifel erhaben. In jeder Aufgabenstellung der Trollen-Zentralverwaltung haben sie sich als ausgesprochen wandlungsfähig erwiesen. Das macht inzwischen die Runde im Anthro- Land…

Die Thesen der Gräfin von Freiberg zu anonymen und klandestin- bösartigen Verschwörern der "Acht Ogdoaden" mit ihren "Ogdoadentext" sind abenteuerlich. Die geistigen Fähigkeiten der Gräfin sind mit Sicherheit nicht gering. Das gleiche gilt für ihre theatralisch-sprachliche Gestaltungskünste. Das Muster der ahrimanisch-luziferische Verteufelung hat offenbar ausgedient: Die "Ogdoade" soll jetzt dafür herhalten. Gemeint sind die Positionierungen einiger Vertreterinnen und Vertreter wesentlicher anthroposophischer Arbeitsfelder zu einer "offenen Anthroposophie und ihre Gegner" gemeinsam veröffentlich vom Info3-Verlag. Auch die Zeitschrift der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland "Anthroposophie Weltweit" hat die Statements veröffentlicht, sich in ihren letzten Ausgaben (7-8 und 9) aber inhaltlich davon distanziert. Zu groß war der Druck der Mitglieder. Nur in einer von über 25 Zuschriften, voller vernichtenden Wut, Zorn und Empörung, wurde der Mut gelobt, auf Verschwörungsmachenschaften, Populisten und Verschwörungstheoretiker, denen in der Anthroposophischen Gesellschaft eine Plattform geboten wird, hinzuweisen. Die Schweizer Landesabteilung der Anthroposophischen Gesellschaft hat sich der Beteiligung am Statement ohnehin verweigert.

Ein Verhältnis von 25 zu eins gab es bei den Zuschriften. Nur vier von hundert der Mitglieder der AAG weltweit sehen sich in der Lage die "zunehmende Korruption der anthroposophischen Szene durch wild wuchernde Verschwörungstheorien, billigen Rechten Populismus und Anbiederung an den identitären Ungeist" (Michael Eggert) etwas entgegen zu setzen. Diese erschreckende Zahl dürfte realistisch sein und entsprechen durchaus eigenen Erfahrungen der alltäglichen Wirklichkeit in der sozialen Begegnungsebene mit Zeitgenossen die sich heute als Schüler Rudolf Steiners erkennbar geben. Es gibt mit Sicherheit auch Anthroposophen, die schweigen; Menschen die sich im Gespräch nicht auszusprechen trauen, was sie denken. Die "schweigende Mehrheit" wird es aber nicht sein. Im Kontext eines eher gemäßigten Umfeldes dürfte es eher so sein, dass radikale Positionen zurückgehalten werden.

Für welche im Mob "wuterregender" Positionen stehen denn die Vertreter der anthroposophischen Institutionen? Sie vertreten, zusammenfassend:

- Eine freiheitliche und offene Weltanschauung und Gesellschaft gegen das Sektierertum der Unfreiheit.

- Fortschritt und Aufklärung der Moderne gegen den Ungeist der identitären, rückwärts- gerichteten und völkischen Tendenzen.

- Eine offene Wissenschaft gegen den mystischen Sog der Pseudo-Wissenschaftlichkeit des Verschwörungsdenkens.

- Differenzierung und Entideologisierung in der Meinungsbildung gegen die Vereinfachungen und monokausalen Erklärungsmuster der Verschwörungsideologen.

- Das grundsätzliche Vertrauen in Mensch und Gemeinschaft und die Bereitschaft aktiv beizutragen an Initiativen zur Verbesserung einer rechtstaatlichen und freiheitlich-demokratische Gesellschaft statt identitär vergiftete Verschwörungslegenden der Angstmache: Gezielte Manipulierungs- Ängste zu angeblichen Geheimpläne des Bevölkerungsaustausches, Ängste zu Geheimdienste und Politiker als Marionetten einer noch geheimeren Regierung der Eliten des Weltfinanztums die, wie schon immer, an allem Schlechten der verpönten Globalisierung schuld hat.

Die Würde des Menschen statt Menschenverachtung verbunden mit einem Rückfall im autoritären Populismus und Nationalismus.



"Die Acht Ogdoaden"


"Die Acht von Info3" so werden sie bezeichnet, nach Wortlaut der Gräfin, oder "Die Acht Ogdoaden": "Vertreter oder VertreterInnen teils renommierter, teils "umstrittener" anthroposophischer Institutionen". "Die Acht" und ihre anonymen Verschwörer führen angeblich eine geheim-okkulte, politische Kampagne. Notabene gegen anthroposophische (!) Verschwörungstheoretiker auf  Grundlage der anthroposophischen Geisteswissenschaft Rudolf Steiner, ist da zu lesen. Eine Geheimmission als Verschwörung gegen die Anthroposophie und gegen Rudolf Steiner, im Auftrag der transatlantischen Logen des Welt-Finanz-Elitentums vielleicht? Das hätte sogar der Begründer der Anthroposophie sich nicht ausdenken können.

Die acht Ogdoaden, die "aus den gefrorenen Wellen sprangen", sie wurden in der ägyptischen Mythologie als  die acht Personifikationen der Urkräfte des Chaos bezeichnet. Ihre Darstellung war im alten Ägypten sowohl frosch-gestaltig (männlich) als auch schlangen-gestaltig (weiblich). Die heutige Inkarnationen schlangenhafter Windungen und frosch-ähnlichem Gequake finden wir zurück im gemeinsamen Gesang der "Chor der Ogdoaden", es sind die acht Vertreter vom Bund der Freien Waldorfschulen; vom Goetheanum, Freie Hochschule für Geisteswissenschaft; vom Rudolf Steiner Archiv; von der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft; von der Zeitschrift Info3 und vom Info3-Verlag. So die beachtliche Darstellung zu den Vertretern der Institutionen aus Perspektive der "Gräfin von Freiberg". Es gilt abzuwarten auf weitere, spannende Legenden aus der Schlangengrube der Gräfin. Bis dahin stellt sich die Frage ob die "schlangenhaften Acht" sich im magischen Spiegel der Medusa wiedererkennen können. Oder ist zu vermuten, dass sie für alle Ewigkeiten von der Gräfin "versteinert" und so zum Schweigen gebracht werden?

Die Autoren der "Ogdoade""spalten die Welt in Gut und Böse und verdammen alle, die sich ihnen nicht anschließen, als »autoritätsgläubig« und »antiaufklärerisch", sie bedienen sich dabei sogar antisemitischer Propaganda der »Brunnenvergiftung« so beteuert die Gräfin. Jens Heisterkamp dürfte das Opfer ihrer Tirade sein. Er hat in sein Statement "Vergiftung des sozialen Klimas" das Wort "vergiftet" benutzt in Zusammenhang mit Verschwörungstheorien ("Solche Verschwörungstheorien vergiften das soziale Klima und bieten neo-autoritärem Populismus jeglicher Spielart einen Nährboden."). Die Gräfin hat ausnahmsweise Recht: Die "Schlangen der Ogdoade" sind eben sehr, sehr giftig…



"Kundenanthroposophie"


Ähnliche absurde "Perspektiven" wie die Gräfin gibt auch Martin Barkhoff von sich. Der ehemalige Chefredakteur der Wochenschrift "Das Goetheanum", ist anscheinend nach seinem Asien-Trip im den Niederungen des Online-Blättchen "Ein Nachrichtenblatt" abgestiegen und hat dort der Ort seiner schicksalhaften Bestimmung gefunden. In der Ausgabe Nr. 17-2018 sieht er, unter Bezugnahme auf Rudolf Steiner, "…dass polit-religiös vorgegebenen Glaubensformeln unser öffentliches Leben notwendigerweise gar nicht anders könne als vollständig grundverlogen zu sein…" In Zusammenhang mit dem Info3-Artikel bezeichnet Barkhoff die Vertreter der anthroposophischen Institutionen als Public Relations-Beauftragten der Kundenanthroposophie. Es sind im Einzelnen Henning Kullak-Ublick, Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen, Wolfgang Held vom Goetheanum, Freie Hochschule für Geisteswissenschaft; Dr. David Marc Hoffmann vom Rudolf Steiner Archiv; Prof. Dr. Jost Schieren und Prof. Dr. Volker Frielingsdorf, Historiker an der Alanus Hochschule. So werden die Public Relations-Beauftragten der Kundenanthroposophie die Anthro-Welt vorgestellt. Ihre Helfer in den Redaktionsstuben, Ondoor nennt sie die "glatt gebügelte und menschenverdummende Alphapresse mit ihren senilen Erklärungen der transatlantischen Medien", das sind natürlich Dr. Jens Heisterkamp und Laura Krautkrämer von der  Zeitschrift Info3 und Ramon Brüll, Geschäftsführer vom Info3 Verlag. Im Wortlaut heißt es bei Barkhoff dazu:

"…Public Relations-Beauftragten der Kundenanthroposophie und ihre Helfer in den Redaktionsstuben. Sie glauben nur dann "ihre Marke schützen" zu können, wenn sie, die PR-Leute, die Anthroposophie neu definieren und diesen Steiner bemänteln, ins Lächerliche abschieben oder umlügen und diejenigen, die von diesem Steiner etwas halten, mit großem Theater exkommunizieren. Anstelle eines Vorstandes definieren nun PR-Leute die Anthroposophie. Sie tun damit das, was manche Eltern, Schulfunktionäre und Nationalsozialisten-Chargen schon einmal in einem anderen Gesinnungsstaat versuchten… Die "nette" Kundenanthroposophie steht unter einem seit vielen Jahren anwachsenden, existenzbedrohenden öffentlichen Druck, derartige Haltungen als nichtanthroposophisch, als der Anthroposophie feindlich darzustellen und sich davon klarstens zu distanzieren…Der Wiederaufbau der Zivilisation hängt von denen ab, die den Mut haben, sich da jetzt nicht hineinziehen zu lassen. Sie werden verleumdet und ausgegrenzt werden, ihre Anstellungen und wohl auch ihre Konten verlieren. Es ist ein ganz altes Lied. Und wiederholt sich in vielen Strophen. Schon in der Bergpredigt steht über solche, die diese Art Ausgrenzung auf sich nehmen, und die Er zum "Salz der Erde" zählt, ihnen erginge es nicht anders als den Propheten früher…"

Die "Kundenanthroposophie" versucht angeblich durch Abgrenzung, Ausgrenzung, öffentlichen Bekenntnissen ihre polit-religiöse Korrektheit zu erweisen. So sieht es Barkhoff. Es fahren die geistfeindlichen Mächte sogar in den Doppelgänger der Anthroposophie, sodass sie sich ihn als Feind entgegenstellen. Der Wiederaufbau der Zivilisation hängt von denen ab, die den Mut haben, sich da jetzt nicht "hineinziehen zu lassen". Sie werden aber verleumdet und ausgegrenzt werden, ihre "Anstellungen und wohl auch ihre Konten verlieren". Barkhoff sieht sich, ganz im Sinne biblischer Prophetien, als Opfer der Feinde seiner Anthroposophie und als Retter der Zivilisation. Er meint sogar seine Opponenten vergleichen zu müssen mit den Verbrechern der Nationalsozialisten, und stellt sich ihnen vehement mit heldenhaftem Mut und selbstloser Opferbereitschaft entgegen. Barkhoff ist ein kultischer Verehrer von Alexander Gauland und er bewährt sich in dieser Rolle mit religiösem Eifer: "…Aber ich bin AfD-Wähler. Alexander Gauland macht großen Eindruck auf mich. Allein wie freundlich der bleiben kann … Geduld wie die des alten Rabbi Hillel, und die hebt real das Wut-Denken auf. Wenn alle um ihn herum erregt bis voll wütig sind, bleibt er nicht nur kühl, sondern spürbar freundlich …"

Alexander Gauland provoziert, spaltet und verharmlost die Nazi-Zeit. Er nutzt die Medien, um Aufmerksamkeit für die extremrechten Positionen der AfD zu gewinnen. Beispielsweise beim Bundeskongress der AfD-Jugendorganisation "Junge Alternative" (JA) in Thüringen: "…Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte…"
50 Millionen Kriegsopfer, Holocaust und der totaler Krieg sind für AfD und Gauland nur ein "Vogelschiss". So sehen er und seine Partei aus hinter der bürgerlichen Maske besorgter Bürger.

Der Führer der Diktatur schlechthin, auch er pflegte sein Selbstbild und nahm für sich in Anspruch aus Gnade der Vorsehung auserwählt zu sein, und, dank seiner "unendlichen Opferbereitschaft", für die Freiheit gegen die monströse Tyrannei der britisch-amerikanische Finanzeliten des Weltjudentums zu kämpfen- zur Rettung der Zivilisation. Ein Scheitern, so erklärte er, hätte zur Folge, dass "die ganze Welt, einschließlich all dessen, was wir gekannt und geliebt haben, im Abgrund eines neuen dunklen Zeitalters versinken wird". Der Begriff "Weltjudentum" wird heute meistens trickreich und kunstvoll umschifft. Die Varianten zu diesem Begriff sind zahlreich und die Rhetorik und die Inhalte der Menschenverachtung sind heute wieder nahezu identisch.



"Clownerie der Peinlichkeiten"


U.a. Roland Tüscher; Kirsten Juel; Thomas Meyer; Sophie, Gräfin von Freiberg aus Südtirol; Martin Barkhoff und Herbert Ludwig sind zuständig für die Inhalte der Ausgabe von "Ein Nachrichtenblatt", ergänzt von den sogenannten "Kernpunkte Zeitgeschehen" Nr.3 des 1. Jahrganges.

Der Inhalt lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen. Es ist eine umfassende Kriegserklärung der Verschwörungsideologen an eine freiheitliche und offene Gesellschaft der Aufklärung. Gegen ihre Marionetten, die "Acht Ogdoaden". Krieg und Verschwörungs- Mythen haben schon immer gut zusammengepasst, sie bedingen sich und sie brauchen sich gegenseitig. Ohne Verschwörungs-Rhetorik gibt es kein Krieg. Friedensforschung a la Doktor Ganser hin oder her. Kurz hinzuweisen ist auch hier auf einem Textbeitrag "Cui bono" von der Gräfin aus Südtirol. Ihrer ungewisse Identität, sogar ihr Schreibstill gibt Anlass zu böse Vermutungen, vielleicht sogar zu Verschwörungstheorien über ihre Person als Doppelgängerin die sich ohne  weiteres als zutreffend herausstellen könnten. Dass sich ausgerechnet auch Herbert Ludwig neben der Gräfin in diesem Kreise zu Wort meldet mit einer "Keule Verschwörungstheorie oder wie man die Verschwörungspraxis verbirgt", darf als vielsagend bezeichnet werden.

Humor und Satire "im Lichte" der Verschwörung, wie wäre es denn damit? Aber ja, auch das findet sich bei Tüscher und Juel. Der Humor, unter der Überschrift "Satire", leidet aber unter erheblicher Substanzlosigkeit und Blutarmut. Sie will deshalb leider nicht so richtig verfangen und sollte deshalb im Archiv unter der Kategorie "Clownerie der Peinlichkeiten" abgelegt werden. Sogar hochgradige verschwörungsideologische Potenzierungen bleiben wirkungslos. Humor lässt sich eben nicht korrumpieren, schon gar nicht von Verschwörungsesoteriker. Die haben es nicht so mit Humor. Es bleibt ein Armutszeugnis der peinlichen Absurditäten. Der Verfasser, er bleibt anonym, wird somit, gleichermaßen unfreiwillig wie bedauernswert, zum "Opfer" der selbsternannten Satire:

Satire

info Try - Wellness durch betreutes Lesen

Hey, was Du bei uns liest, kannst Du getrost
überall nachschwätzen !
Es passt immer !
Bei uns ist alles garantiert 100% Mainstream.
Ist das nicht praktisch ?!

Keiner macht Dir Vorwürfe,
Du machst die Vorwürfe, denen keiner widerspricht.
Du bist so engagiert ! Du kennst Dich aus.
Du bist so rückhaltlos für das Gute !

Das macht Dich so sympathisch !
So sagst Du "Ja" zu Dir selbst.

Du fühlst Dich wohl – alle fühlen sich wohl:

info von Dr. Heiterkampf

Inkorporation mit:

All-Nuts Hochschule, Bonn
L'Archiviste des Terribles Simplificateurs, Dornasch
Bunter-Wald, Dorfschulen Stuttgart
Wolfgang / Held am Goetheanum


Die Orden der Medusa


Zurück zum Spiegel der Medusa. Unser "Ondoor"-Webseitling zitiert auch den Hohepriester der Medusa, Großmeister der berüchtigten Orden der verschwörungsmystischen Extrem-Esoterik. Dieser tritt gleichzeitig auf als Inhaber des Baseler "Medusa-Verlages", pardon, gemeint ist natürlich der Perseus Verlag. Die Bezeichnung "Medusa" passt aber besser, erscheint auch bildhaft im blutrünstigen Firmenlogo und es sollte in diesem Sinne das Schlangenhafte seiner verschlungen-okkulten Pfade bildhaft charakterisiert werden. Er gibt nun voller kriegerischer Empörung zu Protokoll, frei nach Goethes Faust, "die Sonne tönt nach neurechter Weise":

"…Jüngst verbreiteten mehrere Anthro- Medien einen von 8 Autoren zusammengestellten Artikel, der eine kollektive Willens-Erklärung darstellt: «Die offene Anthroposophie und ihre Gegner».
Die Autoren ziehen darin wie Krieger gegen das Gift von «Verschwörungstheorien» zu Feld. Außer Schlagworten und Unterstellungen haben sie nichts Substantielles zu bieten. Der Chefredakteur von Info-3, Jens Heisterkamp, geht sogar so weit, konkret zwei Konkurrenten zu seinem Frankfurter Blatt als Gegner seiner Offenen Anthroposophie zu brandmarken: das von Roland Tüscher und Kirsten Juel herausgegebene Nachrichtenblatt und den Europäer. Dem Letzteren werden auch «neo-nationalistische» Einschläge unterstellt.
Da wir nun – auch von der Redaktion der Dornacher Wochenschrift für «Anthroposophie» – ganz offen als Gegner der «offenen» Anthroposophie angeprangert werden, wollen wir die Gelegenheit nicht versäumen, offen mitzuteilen, dass wir dies für ein – allerdings ungewolltes – Kompliment betrachten. Ich will mich kurz erklären: Die «offene Anthroposophie» erheischt seit ihrer Frankfurter Geburt vor vielen Jahren diktatorisch Offenheit für fast alles, was uns der «Zeitgeist» – ja, welcher? – um die Ohren weht… Wer aber in einer geistigen Bewegung alle Fenster aufreißt, erzeugt ganz einfach spirituellen Durchzug. Mit einer solchen Durchzugs-Anthroposophie wollen wir in der Tat nichts zu tun haben. Sie kann nur zu geistigen Erkältungszuständen mit gleichzeitigen oder anschließenden Fieberzuständen führen. Wir sind stolz darauf, Gegner einer solchen «Anthroposophie» zu sein. Wir lieben zwar Frankfurter Würste. Aber die in der Goethestadt (!) zubereitete und über die Zwischenstation Dornach auf einen weltweiten Export zielende Durchzugs-Anthroposophie erachten wir – auf dem Hintergrund wahrer Anthroposophie – einfach als einen Etikettenschwindel mit schönen, hochtrabenden, zumeist ganz leeren Worthülsen…"

Durchzugs-Anthroposophie begleitet von Erkältungszuständen mit gleichzeitigen Fieberzuständen! Es muss befürchtet werden, die Schwurbel-Analyse des Zitierten lässt nur eine Schlussfolgerung zu: Er, der Inhaber der Perseus-Sekte, ist es der unübersehbar leidet an bedenkliche verschwörungsmystische Symptomen und Bewusstseinstrübungen der Paranoia. Sie deuten sogar auf einen akuten Eigenbefall des von ihm diagnostizierten Krankheitsbildes. Es sollte eigentlich heißen: Durchzugsesoterik findet sich vor allem bei Verschwörungs-Junkys wie Meyer, Barkhoff und Amthor. Und bei der Gräfin natürlich auch. Nicht aber bei den Freunden einer "offenen Anthroposophie". Durchzugsesoterik, sie ist als schöpferisch-intuitiven Einbildung der phantastischen Art zu verstehen und durchzieht in tückischer Weise die Wesensglieder der Gläubigen ohne Spuren zu hinterlassen von der  bösartigen Heimsuchung. Eine Selbstdiagnose ist deshalb auszuschließen. Im Zustand der geistigen Verblendung wird aber das esoterische Grundgruseln grundsätzlich auf den Anderen projektiert. Es zeigt sich das bewährte und vertraute Muster verschwörungsideologischen Verhaltens. Nur unter strikter Vermeidung jeglicher Sauerstoffzufuhr der geistigen Erneuerung, bei luftdicht verschlossenen Fenster der seelischen Aufnahmefähigkeit, kann die Durchzugs-Esoterik gedeihlich kultiviert, gehegt und gepflegt werden. In einer unerträglichen Stickigkeit von verschwörungs-esoterisch besetzten Räumlichkeiten jahrhundertalter überholten Wahrheitstäuschungen. Die seelisch-geistige Vernebelung führt dabei unvermeidlich zu toxischen Verseuchungs-Erscheinungen einer okkult verdunkelten, vergangenheitsbezogenen und identitär geprägte Volksseelenhaftigkeit.

Beide, die Durchzugs-Esoteriker der altrechten Verschwörungs-Luftschlösser und die Kreuzritter der neurechten Ritterschlösser der Identitären Bewegung, sie lieben die Praxis der Begriffsumdeutung und der Begriffsentfremdung im Diskurs der Auseinandersetzung. Nach identitärem Gestus wissen sie dabei immer wieder das Täter-Opfer-Verhältnis zu ihren Opponenten umzudrehen um sie zu denunzieren. Sie kaschieren ihr Verschwörungsglauben damit, sie lenken ab von den eigenen Absichten und projektieren sie auf die Unschuldigen, machen sie zum Opfer. Die Verschwörungsideologie als perfekte Tarnung und als Projektion für den Mechanismus der Täter-Opfer-Umkehrung. Im Verschwörungsglauben der Verblendung als unbewusster Verteidigungsreflex. In bewusster Absicht der gezielten Lüge, mit möglichst großer Wirkung durch suggestive Weiterverbreitung unter den Massen.

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Die Netzwerke der IB


Ethno und Rasse


Verschwörungsphantasien stehen gerade auch im Mittelpunkt der intellektuell gepflegten Scheindiskursen der Identitären (IB) der Neuen Rechte. "Ethnokultureller Identität", "Ethnopluralismus" und "Kulturkampf" um "homogenen Kulturen" gegen den angeblichen "Großen Austausch". Die wohltönenden Begriffe scheinbarer Seriosität sind aber keineswegs so harmlos wie sie zunächst erscheinen. Sie entpuppen sich bei näherer Betrachtung als böswillige Tarnung für eine bis auf den Knochen verdorbene und rassistische Weltanschauung.

Das Symbol und Wahrzeichen der Bewegung ist der gelbe griechische Buchstabe "Lambda" auf schwarzem Grund, es steht für den antiken Namen Spartas und für die Abwehrschlacht der europäisch-spartanischen Krieger gegen die asiatischen Perser in der Schlacht bei den Thermopylen. Die IB hat das Symbol der blutrünstigen und gewalttätigen Comicverfilmung "300" der Schlacht der Antiken von Zack Snyder aus dem Jahr 2006 entnommen,. Laut einer Filmkritik "eine reaktionäre Abscheu gegenüber Multikulturalismus und urbaner Unübersichtlichkeit". Es ist zudem auf die treffende und unübersehbare Ähnlichkeit des IB-Logos mit dem der nationalsozialistischen Sturmabteilung SA hinzuwiesen.


Wahrzeichen der IB: Der Lambda


Befürwortet werden von der IB "Ethnopluralismus statt Volksaustausch". Gemeint ist damit die Errichtung von ethnisch homogenen Kulturen durch Ausgrenzung, Ausschluss und Vertreibung auf der Grundlage von Blut und Boden. Im Fokus der angeblichen Verschwörung ist dabei die von "Muttis" - gemeint ist Bundeskanzlerin Angela Merkel - "gesteuerter Flüchtlingskrise", mit der gezielt vorangetriebenen "Islamisierung" und die angebliche ethnische Eliminierung Deutschlands und Europas als Ziel.

Die Endlösung zur Beseitigung unerwünschter ethnischen Mischkulturen vergangener Zeiten, der Holocaust, wird von den Identitären nicht geleugnet. Aber es wird, und das ist weitaus schlimmer, eine solche Lösung vielmehr im Sinne ethnokultureller Identitätswahn befürwortet, sie
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soll letztendlich aktiv betrieben werden. Durch Errichtung sogenannter homogenen "Kultur-Freiräume" im Sinne neu-ethno-biologischer Lösungen durch Ausgrenzung, Ausschluss und Vertreibung auf Grund von Ethnopluralismus/Rassismus.

Es wäre abwegig, das Benennen von solchen Fakten und Tatsachen als "Verleumdung" aufzufassen. Die Wortführer und Anhänger der Neuen Rechte sind immer sofort dabei wenn es darum geht den Vorwurf der Verleumdung zu erheben und diesbezüglich Propaganda zu erzeugen durch das an den Pranger stellen von ihren Opponenten. Sie lieben es einzuschüchtern, hier auch durch das Schwingen der Keule der Strafbarkeit und durch das Androhen von teuren Gerichtsverfahren. Besonders dann, wenn als Verpflichtung zur Humanität, Fakten zur Rassenfeindlichkeit der Neuen Rechte und der IB nicht verschwiegen werden und die faschistische Grundhaltung dieser Bewegung benannt wird.

Ausgegrenzt werden sollten die verfassungsfeindlichen Umtriebe der Neue Rechte und ihre Vasallen. Ausgeschlossen von der politischen Willensbildung. Darüber entscheiden Verfassungsschutzbehörden, Politiker und Gerichte. Die Beobachtung der IB vom Verfassungsschutz erfolgt seit mehreren Jahren bundesweit. Sie ist in dieser Hinsicht ein wichtiger und auch ein vielsagender Vorgang. Weitere Schritte werden folgen. Einige Landesverbänden und Jugendorganisationen der AfD stehen zurzeit auf der Beobachtungsliste der Behörden. Mehr als überfällig ist aber vor allem die bundesweite Beobachtung der verfassungswidrigen Umtriebe der Gesamt-AfD. Sie wird nachhaltige folgen haben und ein abbröckeln der Unterstützung in der Mitte der Gesellschaft für diese radikal-populistische Partei bewirken, die sich immer mehr faschistische Inhalten und Kandidaten zuwendet. Und es wird folgen haben für ihre Finanzierung mit öffentlichen Steuermitteln die zurzeit leider noch reichlich fließen. Die Partei wehrt sich deshalb mit aller Macht gegen die Beobachtung.



Flammenschwert, Reconquista, Michaelskult, identitäre Anthroposophie und Messermorde


Historisierende und esoterisch angehauchte Mythenbildungen werden von den Vertretern der IB salbungsvoll und wortreich beschworen: Das "Flammenschwert" Flamberg ist der Namen für das neue Haus der "Kontrakultur" in Halle. "Reconquista" steht für Zurückeroberung verlorener Welten unter Reinhaltung des Blutserbes, und der Erzengel Michael wird dabei als Kriegsführer, "furor teutonicus" und "überirdischer Befehlshaber" der Neuen Elite in Anspruch genommen.

Auch die Anthroposophie Rudolf Steiners wird neuerdings von Identitären umarmt. Es werden die "so richtig schön rechte Gedanken" Steiners "die mitten aus dem Zeitzusammenhang der Konservativen Revolution stammen" hingebungsvoll verteidigt gegen die grünversifften sinister-ahrimanische "Bobo-Hipster die heute die Waldorfschulen bevölkern" und "Steiners Grundideen verraten und verkaufen". So Caroline Sommerfeld, Superstar der IB auf der Webseite der Sezession.

Sommerfeld wurde neuerdings von der Schlossherrin des Ritterguts Schnellroda, Heimat der Sezession und des Antaios-Verlages des Instituts für Staatspolitik (IfS) von Götz Kubitschek, von Ellen Kositza zur "Ikone" der IB geadelt und geheiligt. Die Erhebung in den Adelsstand neuzeitlicher Ritterorden verpflichtet und schafft mit Sicherheit hohe Erwartungen besonderer Exklusivität, auch unter den "Durchzugsesoteriker" der Anthro-Sekte eines Thomas Meyers und den Autoren des "Nachrichtenblattes". Sie werden begeistert sein, so ist zu vermuten. Die Liebe beruht auf Gegenseitigkeit.

Die IB pflegt enge, sogar sehr enge Beziehungen zur AfD, zum Geldbeschaffungsverein "Ein-Prozent-Initiative", zum IfS von Götz Kubitschek, zur Pegida-Bewegung von Lutz Bachmann und zum Magazin Compact von Jürgen Elsässer. Sie erstreben gemeinsam einen völkisch-rassistischer "Kampf um die Straße", "um die Köpfe" und "um die Parlamente" unter mehr oder weniger konsequente Dethematisierung des Nationalsozialismus (Chemnitz September 2018 möge als aktuelles Beispiel dafür stehen!). IB-Führer Martin Sellner hat jetzt im rechtsradikalen und eindeutig faschistischen Monatsmagazin Compact eine feste Kolumne: »Sellners Revolution«. In der Oktoberausgabe 2018 darf er sich geistig "entblößen" und schreibt unter dem Titel "Aufstand im Messerland - Der Widerstand der Sachsen zeigt das Potential dass noch in Deutschland steckt":

"…Die Gewalt geht um in Deutschlands Straßen. Die Messermorde und Vergewaltigungen sind Anzeichen für eine epochale Veränderung. Sie künden, wie die gelben Blätter als Vorboten des Herbstes, einen Gezeitenwechsel an, in diesem Fall einen politischen. Der Winter des Rechtsstaats steht bevor…
…Durch die Politik des Bevölkerungsaustauschs wird die homogene Kulturgemeinschaft, deren Resultat der Rechtsstaat ist, rapide und brutal zerschlagen…Bald werden nur noch die urbanen Wohlstandszonen der kosmopolitischen Elite, die internationalen Knotenpunkte des Globalismus, die Wohnviertel der Superreichen ausreichend gesichert sein. Von dort aus schüttelt die Politkaste angewidert den Kopf über die «ausländerfeindlichen Hetzjagden» des «Mobs», der dieses Experiment ablehnt…"

Das Politische ist für die IB nicht die demokratische Gestaltung sozialer Wirklichkeit, sondern das schicksalhaften Wirken höherer Mächte in einem immerwährenden Kampf zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Von ihren geistigen Ahnen, die Alten Rechte, einst mit "Feuer in den Herzen" geschrieben, so hebt die Neue Rechte gern hervor. Es wird geflissentlich übergangen und abgestritten, dass sie damals Brände mit Millionen Toten auslösten.

Diskussion ist für die IB der "Name des Todes, wenn er beschließt, inkognito zu reisen". Das Wort soll nicht überzeugen, sondern bloß ein Schlag ins Gesicht sein. Das bedeutet die radikale Aufkündigung und das Ende der Diskurs zum Konsens, die Zerstörung der demokratischen Kultur, das Ende der freiheitlichen Gesellschaft unter den Aufruf zur Gewalttätigkeit.

Ekel, Hass und Hetze der selbsternannten "radikale Avantgarde" der "Eliten der Neue Rechte" gegen die Werte der Freiheit, Gleichheit und Humanität der Moderne. Der Begriff "Avantgarde" ist hier allerdings nicht fortschrittlich sondern zeitlich rückwärts gerichtet aufzufassen. Er "entstammt der Kriegführung (-Garde) und bezeichnete dort eine Vorhut (Avant-)". So formuliert es ein Wortführer der IB. Er führt fort: "Das und nicht  weniger will unsere aktivistische Bewegung sein! Wir sind keine Initiative "besorgter Bürger" und geprellter Sparer, keine diffuse Massenveranstaltung gegen "die da oben", die um den Kern der Sache herumredet, keine  Partei, die intrigiert und ihre Ideale ausverkauft.  Wir sind ein  Schrittmacher jener Revolution, deren Vorzeichen sich bereits jetzt in ganz Europa abzeichnen."

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Belege zu den vorherigen, erschreckenden Ausführungen zur IB können nachgelesen werden in umfassenden Analysen über die demokratiegefährdenden Kräfte in einem neuen Sammelband, vor wenigen Tagen erschienen. Es werden die "neuen alten Märchen" in ihren verschiedenen Facetten aufgezeigt und klare Grenzen für eine offene, demokratische Gesellschaft markiert, so formuliert es der Verfasser. Die ausführliche Dokumentation, das Literaturverzeichnis sowie ein Register zu Organisation und Personen ergeben zudem die Möglichkeit das Sammelwerk wie ein Handbuch mit Nachschlage- Charakter zu nutzen.


Andreas Speit (HG.)
"Das Netzwerk der Identitären - Ideologie und Aktionen der Neuen Rechten"
264 Seiten
Ch. Links Verlag
Erschienen am 4. Oktober 2018

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Anhang 


Begriffsdefinition


Verschwörungstheorien:

Verschwörungstheoretiker und ihre Verschwörungstheorien haben nichts Anrüchiges. Da wo Menschen zusammenleben leben werden immer auch geheime Vereinbarungen zwischen Menschen getroffen. Nur im Fall der Bösartigkeit sind sie als Verschwörungen zu sehen. Da sie Geheim sind, sonst wären sie keine Verschwörung, können und sollen andere Menschen kein Wissen von den Verschwörungsabsichten haben. Sie können aber zu Gerüchte, zu einem Anfangsverdacht, zu Vermutungen, zu einer Hypothese, zu einer mehr oder weniger fundierten Theorie, letztendlich auch zu Wissen führen. Im letzten Stadium des Wissens verliert die ursprüngliche Verschwörung ihre Bedeutung und Wirkung und löst sich mangels Geheimhaltung auf. Auch wenn der Zyklus der Wahrheitsfindung, unvollendet bleibt, die Verschwörung unaufgeklärt bleibt, das Ziel bleibt auch dann die Suche nach Wahrheit. Die Verschwörungstheorie ist deshalb ein sinnvolles  und notwendiges Instrument der unabhängigen Erkenntnis und Wahrheitsfindung zu menschlichen Verhaltensweisen und ist deshalb ernst zu nehmen. Im Kleinen wie im Großen.
Deshalb: Verschwörungen sind immer bösartig, Verschwörungstheorien sind es grundsätzlich nicht.

Verschwörungsideologien:

In der Verschwörungsideologie ist die Voraussetzung der Unabhängigkeit der Erkenntnis und Wahrheitsfindung nicht gegeben. Sie ist vom Erkenntnisvorgang her von Anfang an mehr oder weniger korrumpiert da sie ihren Antrieb findet in Motiven und Abhängigkeiten beispielsweise ideologischer, religiöser, weltanschaulicher, politischer oder wirtschaftlicher Natur. Wirkliche Verschwörungen sind dabei häufig nicht oder nur unwesentlich vorhanden. In der Darstellung wird die Verschwörungsideologie mangels Legitimation meistens versuchen die absolute Wahrheit für sich in Anspruch zu nehmen. Zweifelhafte, scheinbare und nicht nachprüfbare Beweise sollen in der Vielzahl imponieren, bleiben aber in  der Qualität letztendlich wirkungslos. Die Zielsetzung ist grundsätzlich werbend suggestiv bis hin zur Manipulation und Propaganda. Verschwörungsideologien tragen bei zu Mythen- und Legendenbildungen, unkritischen Glaubensätze, Sektierertum, Guru-Gläubigkeit, bis hin zu Verdächtigungen, Fake-News, Lügen, Fanatismus und Hetze. Die Grenzen zum Pathologisch-Zwanghaften sind fließend und werden unmerkbar überschritten durch Abhängigkeit, Sucht, Paranoia, und Wahn.
Deshalb: Verschwörungsideologien entsprechen per Definition nicht der Wahrheit. Die vorgegeben Verschwörung hat, außer im der Erfindung des Ideologen, nicht stattgefunden. Im Begriff "Verschwörungsideologie" liegt ebenfalls per Definition schon die Umkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses zum Opponenten.

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Zitate (Auszüge), in der Reihenfolge des Sammelbandes 


Aus dem Buch "Das Netzwerk der Identitären - Ideologie und Aktionen der Neuen Rechten"
Herausgegeben von Andreas Speit. Sie stehen größtenteils in Bezug zum Inhalt des Beitrages.

Kapitel: Reaktionärer Klan
Die Entwicklung der Identitären Bewegung in Deutschland 
(Andreas Speit)

Abschnitt 
"Provokationen für das Ende  der Party"
Zur Zerstörung der demokratischen Kultur, das Ende einer libertären Gesellschaft und ein Aufruf zur Gewalttätigkeit:
"…»Meinungskorridore? Sind uns zu eng!«, womit gegen eine vermeintlich staatliche Vorgabe protestiert werden soll, wonach nur bestimmte Meinungen geäußert werden dürften. Zugleich wollen sich die Demonstranten als Verfechter der Meinungsfreiheit gerieren, obwohl sie das erklärte Ziel haben, die anderen Meinungen in der Gesellschaft zu dominieren. Es passt in das Konzept der Neuen Rechten, Begriffe umzudeuten und das Täter-Opfer-Verhältnis umzudrehen.

Kubitschek in "Die Spurbreite des schmalen Grats" 2000–2016: »Wir halten nicht viel von langwierigen Begründungen, von Herleitungen, von der systematischen Stimmigkeit unseres Handlungsantriebs. ›Diskussion ist der Name des Todes, wenn er beschließt, inkognito zu reisen‹, sagt Donoso Cortés. Schaut Euch doch um! Was gibt es da noch zu fragen und zu quatschen? Uns liegt nicht viel daran, dass Ihr unseren Vorsatz versteht. Wozu sich erklären? Wozu sich auf ein Gespräch einlassen, auf eine Beteiligung an einer Debatte?« Und er antwortet selbst: »Nein, diese Mittel sind aufgebraucht, und von der Ernsthaftigkeit unseres Tuns wird Euch kein Wort überzeugen, sondern bloß ein Schlag ins Gesicht.«

Diese Kriegserklärung an eine offene, gesprächsorientierte Gesellschaft, die im Widerstreit der  Ideen  zu  einem  Konsens  findet,  spitzt  Kubitschek  noch  zu:  »Unser  Ziel  ist  nicht  die Beteiligung am Diskurs, sondern sein Ende als Konsensform, nicht ein Mitreden, sondern eine andere Sprache, nicht der Stehplatz im Salon, sondern die Beendigung der Party.« Diesen Satz hebt der IB-Aktivist Mario Müller in seinem Buch "Kontrakultur" in gelben Buchstaben auf schwarzem Grund noch einmal hervor. Das Ziel dieses rechten Milieus ist damit benannt: die Zerstörung der demokratischen Kultur, das Ende einer libertären Gesellschaft…"


Kapitel: Identitärer Aufbruch:
Die Vorbilder und Vordenker aus Frankreich
(Andreas Speit)

Abschnitt 
"Besetzung eines Moscheebaus als Kriegserklärung"
Zum Lambda, das Symbol IB, die Schlacht am Thermopylen, die Comicverfilmung 300:
"…Die  GI (Géneration Identitaire) lieferte mit dem Lambda das Symbol für die IB in Europa. Dieser Bezug ist aber weniger einer geschulten historischen Erkenntnis geschuldet als vielmehr dem Betrachten einer martialischen Hollywood-Produktion. 2006 kam die Comicverfilmung 300 von Zack Snyder in die Kinos. Der Film basiert auf der gleichnamigen Graphic Novel von Frank Miller und Lynn Varley, die 1998 eine Episode aus den Perserkriegen, die Schlacht am Thermopylen, aufgriffen. Forestier weist darauf  hin,  dass  der  Film  durchsetzt  sei  mit  »Symbolen«,  die  die  Identitären  nutzen:  die Spartaner als »Repräsentanten der europäischen Zivilisation« wehren die »Invasion der Perser« ab, die als Protagonisten einer »nichteuropäischen Zivilisation, beheimatet im Mittleren Osten, heute muslimisches Land« erscheinen. »Die Analogie zu den Zielen der Identitären liegt auf der Hand.« Der Film wurde auch kritisiert, da er die Spartaner als Philosophen und Verteidiger der Demokratie gegen die Perser als Horden von Barbaren in Stellung bringt. Das Script missachtet »großzügig die Realität der persischen Gesellschaft der damaligen Epoche«, denn in der Zeit der Herrschaft der Dynastie der Achämeniden sei der Kyros-Zylinder geschrieben worden – die erste Charta der Menschenrechte. Die Comicverfilmung verzerre die Antike, so Forestier: Und die Identitären ignorieren ebenso die historischen Realitäten…"

Abschnitt 
"Rückkehr zu den Wurzeln der Volksgemeinschaft"
Zu rechte Publizisten aus Frankreich Guillaume Faye und Alain de Benoist:
"…Faye betonte stets die Bedeutung des Begriffs der Identität im ideologischen Kampf und hob zugleich die Ethnizität hervor. Der Ethnozentrismus sei der Garant, dass die eigene ethnische Identität bewahrt werden könnte. 2000 macht er in La Colonisation de L’Europe einen neuen Feind aus: den Islam. Eine Kolonisierung durch die »Dritte Welt« würde Europa gerade erleben. Durch die anhaltende Landgewinnung der Einwanderer sei eine Integration oder Assimilation kaum noch gegeben. Allein die »Reconquista«, die Rückeroberung der eigenen Heimat von sogenannten kulturfremden Einwanderern, und deren Remigration, die Rückführung in ihre Heimat, sei die Lösung. 2011 wetterte er in Sexe et Dévoiement gegen Homosexualität und Gendermainstreaming. Er lieferte die Theorie und die Kampfbegriffe der Identitären.
Benoist schrieb schon 1977 in Aus rechter Sicht: »Die Passion der Postmoderne  wird der
Wusch nach Identität sein.« Die Identitären greifen bei ihm vor allem auf seine Strategie der
»Kulturrevolution  von  rechts«  zurück.  In  Bezugnahme  auf  den  marxistischen  Theoretiker Antonio  Gramsci  (1891–1937)  empfahl  Benoist  eine  der  Politik  vorgelagerte  Strategie,  um zunächst das Denken zu beeinflussen und dann die Macht zu erreichen…"

Zu den Identitären und Front  National  (FN)  um  Marine  Le  Pen. Sie teilen die Annahme, dass ein »großer Austausch« das ethnoreligiöse Substrat des Volkes zersetze.:
"…Diese biologische Grenze trennt die Identitären 2018 vom Rassemblement National (RN). Im Juni  2018  hat  sich  der  frühere  Front  National  (FN)  um  Marine  Le  Pen  die  Bezeichnung Nationale Sammlungsbewegung gegeben. Die RN hält die Zugehörigkeit von Muslimen zum französischen Staat für möglich, tritt sogar für eine Staatsbürgerschaft ein. Ihr Ideal, so der Rechtsextremismusexperte Camus, sei jedoch die Assimilation und nicht die Integration. Beides halten die Indentitären im »ethnischen Krieg« für fatal. Die RN will die legale Einwanderung streng reglementieren, die Identitären wollen die zwangsweise Remigration einleiten. Sie teilen allerdings die Annahme, dass ein »großer Austausch« das ethnoreligiöse Substrat des französischen Volkes zersetze. Daher machen die Identitären sich im politischen Kampf auch stark für die FN/RN. Seit Dezember 2015 sind die führenden Identitären Benedict Loeillet und Philippe Vardon Regionalräte des FN in der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur, wo Le Pens 25-jährige Nichte Marion Maréchal-Le Pen die FN-Liste anführte. Ältere Kader und jüngere Aktivisten   haben   und   hatten  Funktionen  in   den   Führungsstäben   von   verschiedenen Bürgermeistern der rechtsnationalen Partei…"

Abschnitt 
"Grenze überschritten"
Wichtigster außerparlamentarischen nationalen Opposition und Kaderschmiede. Eine Eroberung des Begriffes  »identitär« im allgemeinen  Sprachgebrauch. Bestärkung im deutschsprachigen Raum der IB und Etablierung des Rechtspopulismus:
"…Im vorpolitischen Raum, hebt der Rechtsextremismusexperte Camus hervor, sei die Ausstrahlung der Identitären nicht zu unterschätzen. Der Bloc sei die »wichtigste außerparlamentarische nationale Opposition«, die Organisation wurde auch »zur Kaderschmiede« für den Front National. Im »Krieg der Worte« hätten die »Gramscis von rechts« einen »Sieg« errungen: Der Begriff   »identitär«   als   Zugehörigkeits-   und   Ausschlusskriterium   ist   über   die   rechte Szenesprache   hinweg   in   den   allgemeinen   Sprachgebrauch   eingegangen.   Nicht   bloß   in Frankreich. Die Synergien des »Aktivismus 2.0« bestärken im deutschsprachigen Raum die Identitären und treiben die Etablierung des Rechtspopulismus mit voran…"


Kapitel: Avantgarde rückwärts:
Die geistigen Grundlagen der Identitären Bewegung
(Andreas Speit)

Abschnitt 
"Die Idee einer ethnokulturellen Identität und von organischen Gemeinschaften"
Zu Ekel, Hass und Hetze statt Freiheit, Gleichheit und Humanität:
"…Der Ekel der Konservativen Revolutionäre vor einer egalitären Gesellschaft, ihr Hass auf liberale Werte und ihre Hetze gegen humanistische Hoffnungen sind der Hintergrundsound der Identitären, sie prägen ihren Habitus als Avantgarde, ihre Positionen gegen die Moderne und ihre Rhetorik für das Eigene und gegen alles Fremde…"

Zu "Ethnopluralismus" als Herkunft und Erbe. Homogenen "Kulturen" gehen zurück auf Blut und Boden:
"…Der Ethnopluralismus der Neuen Rechten, der hier sichtbar wird, setzt deutlich auf Herkunft und Erbe, wobei die immer wieder beschworenen, angeblich homogenen »Kulturen« letztlich auf Blut und Boden zurückgehen. Im Magazin Compact vom November 2015 hält der identitäre Vordenker Kubitschek der »politisch-medialen Klasse« vor, einen Volksaustausch zu bejahen, indem sie betonen würde: »Unser Volk wird alt, unser Volk hat keine Kinder mehr: Wir müssen dringend frisches Blut zuführen.« Und er wirft den politisch Verantwortlichen vor, dass es ihnen »vollkommen  egal« sei, »welches Blut«. Die Vorhaltung fällt auf den neurechten Publizisten und Verleger  zurück,  sie zeigt, das Vorbild  der IB kann auch nicht ohne Blut. Die sichtbar werdende   Idee   eines   rein   deutschen   Blutes   offenbart   die   Grundidee   eines   völkischen Nationalismus, der sich der modernen Wirklichkeit von Verfassungsstaaten, die sich auf Grundwerte für alle in einem Land lebenden Menschen stützen, kompromisslos entgegenstellt. »vollkommen  egal« sei, »welches Blut«.

Abschnitt 
"Schein und Sein"
Zum Politischen als schicksalhaften Wirkens höherer Mächte im Kampf zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Millionen Toten zur Folge hatten die Gedanken der  geistigen Ahnen:
"…Der neue Schein der Identitären durch popkulturelle Adaptionen, subversive Aktionen und modisches  Aussehen  sollte  das  rückwärtsgewandte  Sein  nicht  überblenden.  Die  Identitären haben  sich  für  den  antimodernistischen   Kampf  mit  dem  Hass  und  der  Verachtung  ihrer Urgroßväter gegen eine libertäre Welt des Dialogs und Konsens munitioniert und bekennen sich dazu,   diese   anzugreifen.   In  ihrem   Verständnis   ist  das   Politische   nicht   ein   Raum   der demokratischen Gestaltung sozialer Wirklichkeit, sondern wird als Ort eines schicksalhaften Wirkens höherer Mächte in einem immerwährenden Kampf zwischen dem Eigenen und dem Fremden angesehen. Dass ihre geistigen Ahnen einst mit »Feuer in den Herzen« schrieben, hebt die Neue Rechte gern hervor; dass sie damals Brände mit Millionen Toten auslösten, wird geflissentlich übergangen oder abgestritten…"


Kapitel: Im Kampf gegen den Zeitgeist
Das Identitäre Zentrum  in Halle
(Stephanie Heide)

Abschnitt
"Das Identitäre Zentrum  in Halle"
Zu Avantgarde als Kriegsführung:
"…Einer der führenden Aktivisten von Kontrakultur ist der aus Delmenhorst stammende Mario Müller. 2017 veröffentliche Müller das Buch "Kontrakultur". Im Vorwort schreibt er: »Als wir Ende des Jahres 2014 ein identitäres Projekt namens ›Kontrakultur Halle‹ gründeten, war der Name zugleich unser Programm:  Wir wollten nicht nur politisch aktiv sein, sondern darüber hinaus im Kleinen das leben, was wir uns für unser Volk im Großen wünschen – eine vitale Gemeinschaft,   das   Gegenteil   jener   Kultur   des   Selbsthasses,   der   Entgrenzung   und   des Fatalismus, die den Niedergang Europas als Begleitmusik orchestrieren.« In dem Band, der als lexikalisches   Nachschlagewerk   erschienen   ist,   beschreibt   Müller   den   avantgardistischen Anspruch der Identitären Bewegung folgendermaßen: »Der Begriff der Avantgarde entstammt der  Kriegführung  und  bezeichnete  dort  eine  Vorhut.  Das  und  nicht  weniger  will  unsere aktivistische Bewegung sein! Wir sind keine Initiative ›besorgter Bürger‹ und geprellter Sparer, keine diffuse Massenveranstaltung gegen ›die da oben‹, die um den Kern der Sache herumredet, keine  Partei,  die  intrigiert  und  ihre  Ideale  ausverkauft.  Wir  sind  ein  Schrittmacher  jener Revolution, deren Vorzeichen sich bereits jetzt in ganz Europa abzeichnen.«…"

Abschnitt 
"Das Konzept  der »Mosaik-Rechten«"
Zur Identitären Bewegung und die enge Beziehungen zu AfD, Ein-Prozent-Initiative, Institut für Staatspolitik, Pegida-Bewegung und Compact von Elsässer:
"…In der AfD werben Führungsfiguren schon lange für ein enges Zusammengehen von Identitärer Bewegung, Ein-Prozent-Initiative, Institut für Staatspolitik, Magazin Compact und Pegida-Bewegung. Diese Zusammenarbeit gab es von Beginn an, trotz manch anders lautender Äußerungen und trotz formaler Abgrenzungsbeschlüsse. Das dem Projekt in der Kuckhoff- Straße zugrunde liegende »neurechte« Konzept der »Mosaik-Rechten« ist hier nichts anderes als die praktische Umsetzung des seit den 90ern von der NPD propagierten Drei-Säulen- Modells. Den völkisch-rassistischen »Kampf um die Straße«, »um die Köpfe« und »um die Parlamente« führen IB, IfS und AfD hier offensiv und mit neuen Begriffen, unter mehr oder weniger konsequenter Dethematisierung des Nationalsozialismus…"

Abschnitt 
"Historisierende Mythenbildung"
Zu historisierende Mythenbildungen: Das "Flammenschwert", Reconquista und Erzengel Michael:
"…Historisierende Mythenbildungen:
Im April 2018 gab sich das Identitäre Zentrum in Halle den offiziellen Namen Flamberg… »Als Historisierende Mythenbildung oder Flamberge bezeichnet man ein mittelalterliches Schwert, das beidhändig geführt wurde. Umgangssprachlich ›Gassenhauer‹ genannt, diente es den Soldaten der ersten Reihe (hier liegt der militärische Ursprung des Begriffs ›Avantgarde‹), um Schneisen in die Reihen der Gegner zu  schlagen,  durch  die  die  eigenen  Truppen  dann  nachrücken  konnten.  Metaphorisch gesprochen will das identitäre Zentrum in Halle (Saale) genau das sein: ein Anfang, ein erstes Stück zurückeroberter Raum von und für junge Europäer, die ihre Kultur und Identität nicht vergessen haben – und die ihr Land nicht aufgeben werden… Durch die Bezüge zum Mittelalter und den »zurückeroberten Räumen« stellt sich die IB in die Tradition der Reconquista,  der  Zurückdrängung  des  muslimischen  Machtbereichs  auf  der  Iberischen Halbinsel im 15. Jahrhundert.
Von Beginn an trat die Gruppe Kontrakultur Halle mit einem eigenen Symbol auf, einer mit der Aufforderung »Wehr dich« versehenen Abbildung des Erzengels Michael. Diese Figur ist in den   Augen   der   Gruppe   ein   »Schutzpatron   der   Deutschen«,   ein   »Kriegsführer«   und »überirdischer Befehlshaber«. »In ihr verkörpert sich weniger ein biblischer Engel als der ›furor teutonicus‹, der immer dann mit elementarer Gewalt hervorgebrochen ist, wenn das Vaterland bedroht war.«…"


Kapitel: Unter einer Decke:
Die Liebesaffäre von Identitären und AfD
(Jean-Philipp Baeck)

Abschnitt
"Leugnung als Spektakel"
Zu "Ethnopluralismus" als Tarnung und Option zur Gewalt gegen einen imaginierten Feind:
"…Hier findet sich eine Parallele zur Strategie der Identitären, die allenthalben versuchen, mit Aktionen und Provokationen die Aufmerksamkeit der breiteren Öffentlichkeit zu erhaschen. Auch sie proben die Camouflage: Nicht Rassismus etwa sei es, für den die neuen Rechten stehen, sondern » «. Diese Ideologie, laut der unveränderliche menschliche Eigenschaften die Völker unterschieden und diese ihre kulturelle Identität gegen fremde Einflüsse zu schützen hätten, eint Partei und Bewegung. Mit »Ethnopluralismus« will diese neue Rechte den Begriff der »Rasse« umschiffen und möchte sogleich ein nationales Kollektiv mit der Option auf Gewalt gegen einen imaginierten Feind von außen konstruieren.
Nichts anderes ist es, wenn der sachsen-anhaltinische AfD-Politiker André Poggenburg den NPD-Slogan »Deutschland den Deutschen« bemüht. Diesen Satz hatte er als Nachricht in einer internen Chatgruppe der AfD Sachsen-Anhalt verschickt, die 2017 geleakt wurde. Wie das Recherchenetzwerk Sachsen-Anhalt rechtsaußen analysierte, hatte jener Chat 73 Mitglieder, darunter die Hälfte der AfD-Landtagsabgeordneten. AfD-Politiker beschimpften darin unter anderem Muslime und verherrlichten SA-Führer Ernst Röhm, wie die Zeit berichtete. Anfang Dezember 2017 wiederholte Poggenburg vor AfD-Mitgliedern auf einem Parteitag in Hannover erneut die Aussage, dass Deutschland den Deutschen zu gehören habe – »wem denn sonst?«…"

Abschnitt
"Gute  Nachbarschaft in Sachsen-Anhalt"
Zum AfD-Abgeordnete Hans-Thomas Tillschneider, Sprecher der Patriotischen Plattform und zu  Syrien.
"…Da sitzt seit März  2016  der  AfD-Abgeordnete   Hans-Thomas  Tillschneider  im  Landtag,  der  seit  ihrer Gründung Sprecher der Patriotischen Plattform ist, jener rechtsnationalen Strömung innerhalb der AfD, die ganz offen mit der Identitären Bewegung sympathisiert…
Tillschneider ist Islamwissenschaftler,  hat zudem  Germanistik  und Philosophie  in Freiburg  studiert,  auch ein Jahr in Damaskus – unter Baschar al-Assad, also dem heutigen Diktator, wie er selbst hervorhebt. Tillschneider trat als erster AfD-Abgeordneter bei Pegida-Demonstrationen auf…"


Kapitel: Alte Netzwerke für junge Kader:
Die Verbindungen völkischer Familien zur Identitären Bewegung
(Andrea Röpke)

Abschnitt
"Die IB auf dem Weg ins Völkische"
Zum "Kulturkampf", Reinhaltung des Blutserbes, Verteidigung des geistlich-sittlichen Kerns:.
"…»Die lebenswidrige Utopie der Gleichheit Aller muss von uns in einer Weltanschauung ihre Antwort finden, deren Grundlage die Wirklichkeit der gesetzmäßigen Ordnung des gesamten Lebens ist«, hieß es 2005 in der Ausgabe Nr. 2 des Funkenflugs, der Zeitung der HDJ. Die
»Vielfalt gewachsener Kulturen« könne nur erhalten bleiben, wenn »jedes Volk seine Eigenart in Erscheinung und Substanz bewahren« könne. Es gehe um die Sicherung von »biologischer Existenz« und die »Verteidigung unseres geistlich-sittlichen Kerns«. Aus dem »Blutserbe« und dem Geistlich-Seelischen entwickele ein Volk seine Kultur. Diese sei jetzt durch fremde Einflüsse gefährdet und müsse mit allen Mitteln rein gehalten werden…"


Kapitel: Tanz(t) die Reconquista?
Kultur und Musik in der Identitären Bewegung
(David Begrich und Jan Raabe)

Abschnitt
"Politische Aufladung"
Zu Kultur und "ethnokultureller Identität". Ethnopluralismus statt Volksaustausch, homogenen »Kulturen« auf Grundlage von Blut und Boden. Zukunft als Entwurf von Bildern der Vergangenheit:
"…Sucht man … Verständnis von Kultur bei Martin Sellner, Mario Müller und anderen Köpfen der IB, so fällt auf, dass »Kultur« in deren Schriften vor allem mit der Verkoppelung mit »ethnokultureller Identität« auftritt. Kultur wird hier nicht als ein dynamischer gesellschaftlicher Ausdruck verstanden, sondern als starre Eigenschaft einer angeblich »ethnischen« Gemeinschaft. Von der Struktur her gleichen die Eigenschaften der »Kultur« hier denen, die den Phantasma der »Rassen« zugeschrieben werden. Indem sie den diskreditierten Begriff der »Rasse« vermeiden und durch »Kultur« ersetzen, betreiben sie die Kulturalisierung von Rassismus. (Bem. bobby: Kulturalisierung oder Kulturarisierung?)
Die Kultur der IB ist, bei aller Propaganda ihrer Aktivistinnen und Aktivisten, die Zukunft zu sein, der Vergangenheit zugewandt. Ereignisse, Personen und kulturelle Traditionen lösen sie aus dem historischen Kontext, um sie als Teil einer »identitären Kultur« zu interpretieren. Ob die antinapoleonischen Befreiungskriege, der fränkische Heerführer Karl Martell aus dem 8. Jahrhundert oder der mittelalterliche Volkstanz: all dies wird durch die IB heroisch aufgeladen und so interpretiert, dass die »Identitären« nicht nur als legitime Erben großer Traditionen der europäischen  Geistesgeschichte  erscheinen,  sondern  als  die  eigentlichen  Verteidiger  dieses Erbes gegen den angeblich  bevorstehenden  »großen  Austausch«  der Bevölkerung  in Europa durch muslimische Einwanderer. Wo die IB von Zukunft spricht, entwirft sie Bilder der Vergangenheit  –  von  Kreuzrittern  bis  hin  zu  romantischen  Gemälden  von  Caspar  David Friedrich…"

***





Weblinks zu Info3:


Die beiden Fassungen "Die offene Anthroposophie und ihre Gegner" bei Info3 haben eine geänderte Adresse:

Die offene Anthroposophie und ihre Gegner - Kurzfassung (Info3 Verlag)
http://wordpress.p454091.webspaceconfig.de/blog/die-offene-anthroposophie-und-ihre-gegner-eine-stellungnahme/

Die offene Anthroposophie und ihre Gegner - Ausführliche Stellungnahmen (Info3 Verlag)
http://wordpress.p454091.webspaceconfig.de/zeitschrift-info3/die-offene-anthroposophie-und-ihre-gegner-stellungnahmen/

Weitere Weblinks zum Beitrag:


Die offene Anthroposophie und ihre Gegner (Anthroposophie weltweit Nr. 7–8.2018 vom 08.07.2018)
https://anthroblog.anthroweb.info/wp-content/uploads/2018/10/AWD2018_07_08_Offene_Anthroposophie.pdf

Die anthroposophische anti-liberale Hybris, wieder einmal entflammt (Egoistenblog)
https://egoistenblog.blogspot.com/2018/10/die-anthroposophische-anti-liberale.html

Nach Kritik - Jetzt wenden sich Anthroposophen erstmals gegen Verschwörungstheorien (BZ Basel)
https://www.bzbasel.ch/basel/baselbiet/nach-kritik-jetzt-wenden-sich-anthroposophen-erstmals-gegen-verschwoerungstheorien-132794436

Die dümmlich-heile Welt der Info3 Redaktion ('ondoor', Michael Amthor)
https://ondoor.de/verschwoerungstheoretiker-finden-erstaunliche-verbreitung-und-die-heile-welt-der-info3-redaktion/

Ein Nachrichtenblatt Nr.17-2018 und Kernpunkte Zeitgeschehen Nr. 3-2018 vom 02.09.2018)
https://ondoor.de/wp-content/uploads/2018/09/2018-Nr.17-Ein.Nachrichtenblatt_Kernpunkte-Nr.3.pdf

Sophie von Freiberg: Das Fiasko der »offenen Anthroposophie« (Anthroblog)
https://anthroblog.anthroweb.info/2018/das-fiasko-der-offenen-anthroposophie/

Zu Martin Barkhoff und Alexander Gauland (Waldorfblog)
https://waldorfblog.wordpress.com/category/martin-barkhoff/

Comic-Verfilmung "300"
https://www.youtube.com/watch?v=t7dfAYIVxeI


Bilder:


*Medusa im Spiegel des Lambda-Symbols, das Wahrzeichen der IB
Eine Montagebearbeitung aus folgenden 2 Bildern:

Explosion - Distorted Lambda.
https://openclipart.org/detail/232610/distorted-lambda
und
Medusa
https://pixabay.com/de/gorgon-medusa-kopf-gesicht-3456840/

Wahrzeichen der IB: Der Lambda
https://openclipart.org/detail/232609/cartoony-lambda

**Emblem der nationalsozialistischen Sturmabteilung SA
https://de.wikipedia.org/wiki/Sturmabteilung

Grunzende Schweine???

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Ingrid Haselberger

Luzifer mit „grunzenden Schweinen“ (Quelle)
Für die Sommerspiele in der Donauarena Melk (Wachau, Niederösterreich) inszenierte der künstlerische Leiter Alexander Hauer heuer das Auftragswerk „Luzifer“ 1). (Nein, es ging nicht um den anthroposophischen Begriff des Luzifer, die eine Widersachermacht --- es ging um das Wesen, das der nicht anthroposophisch geschulte „Normalsterbliche“ unter „Luzifer“ versteht: den Teufel).

Schon die Randumstände machten die Aufführung, die mein Mann und ich miterlebten, zu etwas Besonderem:
Zum einen war es die Nacht der Mondfinsternis. In der Pause und auch noch auf der Heimfahrt sahen wir den roten Mond tief am Himmel stehen, darunter leuchtete die sehr viel kleinere, ebenfalls rötliche Kugel des Mars. Ich dachte an eine Stelle aus der Apokalypse des Johannes – ich „höre“ sie innerlich immer in der Vertonung Franz Schmidts, mit gegenüber dem Bibeltext leichter Veränderung 2):
»Die Erde wankt! Es schwankt der Boden! Entsetzen! Wehe! O seht, der Mond ist rot wie Blut! Ein fürchterlicher Sturm! Schreckliches Brausen! Es fallen die Bäume! Es brennet der Wald! Ach, wie glühet die Luft!«

 Zum anderen fand die Aufführung in einem an der Bühnenseite offenen Zelt statt – hinter den Kulissen leuchtete das Stift Melk und wurde so zu einem Teil der Inszenierung:


© Daniela Matejschek (Quelle)
Ich habe jetzt keine Besprechung dieses Theaterabends im Sinn 3), sondern will nur eine spezielle Eigenheit des Melker Luzifer herausgreifen:
Jedesmal, wenn jemand ihm in den Weg trat, ihn bei irgendetwas störte, ihm unbequem war oder ihn auch einfach nur ärgerte – dann hielt Luzifer inne, grinste, zeigte mit seinem Stab auf den betreffenden Menschen und verwandelte ihn in ein grunzendes Schwein: der jeweilige Schauspieler setzte eine Schweinemaske auf und blieb so lange in der Rolle eines Tieres, bis es (selten) Luzifer gefiel, ihn wieder zurückzuverwandeln... oder eben: bis die „grunzenden Schweine“ einfach zusammengetrieben und gänzlich zum Verschwinden gebracht wurden...

Einige Wochen davor hatte ich ein Konzert in Polen gesungen.
Auf der Rückreise machte ich Halt in Auschwitz und nahm teil an einer mehrstündigen Führung durch die beiden Konzentrations- und Vernichtungslager.
Ich sah die Fotos der damals dort Zusammengetriebenen, die Berge von Brillen, Schuhen und sonstigen Hinterlassenschaften – und ich sah die Brettergestelle, die den Internierten als Schlafplätze dienten, etwa 8-12 Menschen zusammengepfercht in einem solchen „Regalabschnitt“; wer ganz unten lag, schlief direkt auf dem nackten Boden, hier hatte man die Bretter eingespart. Diese Baracken waren keine menschlichen Behausungen – das waren Ställe:
Als ich aus der Baracke hinaustrat und im Gegensatz dazu die ordentlichen Abwasserkanäle rund um das Lager sah, mit hübschen, bis heute erhaltenen Backstein-Brücklein darüber – da wurde mir sehr schmerzhaft deutlich: es ist offenbar möglich, anderen Menschen – aus welchen Gründen auch immer! – das Menschsein so sehr abzusprechen, daß das Gefühl sich nicht mehr dagegen wehrt, sie wie Tiere zu behandeln... bis zur schließlichen „Endlösung“...

Daran dachte ich während der Aufführung in der Donauarena Melk.

Seither verbinden sich eine Reihe von Namen in mir mit der Gewohnheit des Melker Luzifer, ihm unliebsame Personen zunächst in grunzende Schweine zu verwandeln und dann ganz aus dem Weg zu räumen:
Alexander Litwinenko. 
Anna Politkowskaja. 
Sergej Skripal. 
Und zuletzt Jamal Kashoggi...

Freilich, die in der Öffentlichkeit mit diesen Morden in Zusammenhang Gebrachten weisen jede direkte Verantwortung dafür von sich. 4)
Aber ich denke an das, was Robert Reich, Politikprofessor in Berkeley und früherer Arbeitsminister unter Präsident Clinton, im Zusammenhang mit dem antisemitischen Attentat in Pittsburgh (27. Oktober 2018) sagte:
»Demagogen begehen nur höchst selten Gewalttaten. Sie schüren den Hass, machen andere lächerlich, erklären andere für schuldig, doch die Gewalt überlassen sie Dritten.«

Und – so schwer es mir auch fällt, auch diesen Namen in die Reihe der als „grunzende Schweine“ aus dem Weg Geräumten aufzunehmen: auch Osama bin Laden gehört für mich hierher. Ich erinnere mich noch gut, mit wie sehr gemischten Gefühlen ich damals, im Mai 2011, auf die Nachricht von seinem Tod reagierte... 5)

Im letzten zu ihren Lebzeiten veröffentlichten Kriminalroman „Curtain“(„Vorhang“) läßt Agatha Christie ihren inzwischen in die Jahre gekommenen Meisterdetektiv Poirot gegen einen besonders erfolgreichen Mörder antreten. „X“ soll in fünf Mordfälle verwickelt gewesen sein – aber niemals fiel der Verdacht auf ihn, jedesmal wurde ganz klar ein anderer als Täter ermittelt und auch verurteilt.
»Es ist nicht anzunehmen, daß, abgesehen von jemand, der mit der Polizei oder der Strafjustiz zu tun hat, irgendein Mann oder irgendeine Frau in fünf Mordfälle verwickelt ist.«, schreibt Poirot an seinen Freund. »Verstehen Sie, das gibt es nicht! Es passiert einfach nicht, daß einem jemand vertraulich zuflüstert: „Übrigens, ich habe fünf Mörder gekannt!“ Nein, nein, mon ami, das ist unmöglich. Wir haben es hier also mit dem bemerkenswerten Fall einer Katalyse zu tun – einer Reaktion zwischen zwei Substanzen, die nur in Gegenwart einer dritten stattfindet, wobei diese dritte Substanz an der Reaktion anscheinend keinen Anteil hat und unverändert daraus hervorgeht. Das ist die Situation. Es bedeutet, daß dort, wo X anwesend war, Verbrechen geschahen – doch X beteiligte sich an diesen Verbrechen nicht aktiv.« 
Als Poirot miterleben muß, wie es X beinahe gelingt, selbst seinen langjährigen Freund und Assistenten, den friedlichen Hastings, zu einem Mord zu bewegen, sieht er keine andere Möglichkeit mehr, als diesen „Mord-Katalysator“ selbst zu ermorden. Er tut es mit einem Schuß durch die Stirn – dem Kainszeichen...
Es ist Poirots letzter Fall. In seinem die ganze Sache aufklärenden Abschiedsbrief an Hastings schreibt er:
»Eh bien, ich habe nichts mehr zu sagen. Ich weiß nicht, Hastings, ob das, was ich getan habe, zu rechtfertigen ist oder nicht. Nein – ich weiß es nicht. Ich glaube nicht, daß ein Mensch das Gesetz in die eigene Hand nehmen sollte... […]
Indem ich Norton tötete, habe ich anderen das Leben gerettet – Unschuldigen. Dennoch, ich weiß nicht ... Vielleicht ist es richtig, daß ich es nicht weiß. Ich bin immer so sicher gewesen – zu sicher...
Aber jetzt bin ich sehr demütig und sage wie ein Kind: „Ich weiß es nicht...“
Leben Sie wohl, cher ami! Das Amylnitrit ist nicht in Reichweite meines Bettes. Ich habe es weggetan. Ich ziehe es vor, mich ganz in die Hände des bon Dieu zu geben. Möge seine Strafe oder seine Gnade mir rasch zuteil werden!«

Agatha Christie schrieb diesen Roman bereits in den frühen 1940er Jahren – vielleicht ungefähr zur selben Zeit, als jemand Mahatma Gandhi fragte:

»Stell Dir vor, Du sitzt auf einer Wiese. Am anderen Ende dieser Wiese liegt ganz friedlich ein kleines Baby. Da siehst Du, wie eine Kobra sich diesem Baby nähert - gleich wird sie es erreicht haben!
Es ist viel zu weit weg, als daß Du noch rechtzeitig hinlaufen, das Baby auf Deine Arme nehmen und es so aus dieser Gefahr retten könntest, und außer Dir ist niemand in der Nähe.
Neben Dir liegt ein Gewehr. Würdest Du schießen?«
Und Mahatma Gandhi antwortete:
»Ja. Wahrscheinlich würde ich schießen.
Aber niemals würde ich sagen, daß das gut ist!
Sondern es wäre eine Folge meiner eigenen Unvollkommenheit: denn wenn ich vollkommener wäre, dann wäre es mir möglich, diese Situation mit Liebe zu lösen statt mit Gewalt.« 

Ebenfalls 1940 veröffentlichte Erika Mitterer (bekanntgeworden ist vor allem ihr Briefwechsel in Gedichten mit Rainer Maria Rilke) ihren Roman „Der Fürst der Welt“, in dem sie verdeckt Kritik am NS-Regime übte.
Besonders eine Stelle darin bedeutet mir sehr viel. Es ist der Dialog zwischen einem alten, amtsmüden Bischof und einem jungen Knaben (Hervorhebung von mir):

»Höre, Beatus: Wessen Macht ist größer, die Macht Gottes oder die des Satans? […] Rede nicht gleich. Überlege es gut und warte dort im Erker. Ich rufe dich dann.«
[…]
»Hast du deine Antwort bereit, Beatus?«
»Ich glaube schon« sagte Beatus und trat leichtfüßig heran.
»Ich höre, mein Sohn.«
»Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker.«
»In unseren Herzen, Kind. Aber in der Welt, in der großen Schöpfung des Lebens?«
»Verzeiht mir, mein gnädiger Vater!«, sagte Beatus schüchtern, »aber davon weiß ich ja nichts.«

Erika Mitterer verlebte die Kriegsjahre in Wien.
Für die 1964 veröffentlichte Neuauflage des Romans hat sie die letzten Worte in der Antwort des Beatus geändert.
Der Knabe sagt nun nicht mehr »aber davon weiß ich ja nichts.«, sondern er sagt: »aber muß es nicht dort genauso sein?« 

Es berührt mich sehr, daß Erika Mitterer offenbar trotz – oder sogar wegen? – ihrer Erfahrungen in den Kriegsjahren zu der Überzeugung gelangt war, daß es nicht nur in unseren Herzen, sondern auch in der großen Welt dort draußen darauf ankommt, ob wir uns von der Liebe leiten lassen – oder von der Angst.

Während ich diese Zeilen schreibe, höre ich im Radio eine Aufzeichnung des Galakonzertes zum Jubiläum 100 Jahre Republik Estland.
Arvo Pärts „Credo“ 6) erklingt, ein Werk für Klavier, gemischten Chor und Orchester, in dem nach dem anfänglichen Ruf des Chores „Credo in Jesum Christum“ („Ich glaube an Jesus Christus“) das alttestamentarische „Oculum pro oculo, dente pro dente“ („Auge um Auge, Zahn um Zahn“) – Atonalität, eine Zwölftonreihe „zerstört“ zunächst Bachs Präludium in C-Dur – ringt mit dem Gebot Christi „Autem ego vobis dico:non esse resistendum injuriae“ („Ich aber sage Euch: kämpft nicht gegen das Böse/den Bösen“) – Bachs Präludium kehrt zurück, die Tonalität und der Ruf „Credo“  tragen schließlich den Sieg davon.
Der Komponist selbst sagt über sein „Credo“:
»Der Kerngedanke des Christentums „Liebet Eure Feinde“ hat mich in den 60er Jahren derart fasziniert, dass aus ihm meine Komposition „Credo“ geboren wurde. Das Werk besteht aus zwei musikalisch gegensätzlichen, aufeinander prallenden Welten, einer seriell-aleatorischen und der Bearbeitung eines Präludiums von Bach. Ich wollte mit der einer Kettenreaktion gleichenden unaufhaltsamen Entfaltung des Werkes zeigen, wie das Postulat „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, so harmlos es in seinem Anfangsstadium auch erscheinen mag, erst nach und nach sein wahres Gesicht in voller destruktiver Dimension zeigt; eine Entwicklung von Gewalt, die – wie eine Lawine – an ihre eigenen Grenzen stößt. Was wir zunächst als menschliche Gerechtigkeit empfinden, kehrt sich letztendlich in ihr Gegenteil. „Widersteht nicht dem, der böse ist“ ... „Liebet Eure Feinde“ - etwas Radikaleres und Rätselhafteres als diese Worte Christi, die beinahe die Grenze unserer Vernunft sprengen, gibt es nicht. Und doch…«

Arvo Pärt komponierte das Stück 1968, als Estland noch Teil der Sowjetunion und offiziell atheistisch war. Die Uraufführung am 16. November 1968 war eine Sensation, das aufgewühlte Publikum verlangte spontan eine Wiederholung – aber kurz darauf wurde das Stück verboten, und Pärt mußte sich wegen politischer Provokation verantworten: sein Bekenntnis zum Christentum war als Angriff auf das kommunistische Regime verstanden worden.

Die „rätselhafte“ Forderung Jesu Christi, die Agatha Christie ihren Poirot nur ahnen ließ, sodaß er nach seiner Tat nur demütig sagen konnte »Ich weiß es nicht...«; die Mahatma Gandhi als selbst für ihn in bestimmten Situationen einstweilen unerfüllbar ansehen mußte; deren Erfüllung Erika Mitterer einen Knaben als Ideal aussprechen ließ - - - mir ist, als habe Arvo Pärt, indem er dem „Bösen“ nicht mit noch mehr „Bösem“ antwortete, sondern mit etwas „Gutem“, eben mit diesem seinem „Credo“ – als habe Arvo Pärt auf diese Weise das auch für ihn zunächst „Rätselhafte“ an der Forderung Jesu Christi für sich gelöst und in die Tat umgesetzt.

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1) Hier eine kurze Video-Zusammenfassung:
https://www.youtube.com/watch?v=ViSW_0qVpkg

2) Hier der ganze Text von Franz Schmidts »Buch mit Sieben Siegeln«:
http://7-siegel.blogspot.com/p/text.html

3) wer sich dafür näher interessiert, kann zum Beispiel hier nachlesen:
https://lesefreude.at/luzifer-am-fusse-des-stift-melks/

4) In diesem Video (Minute 0,40) allerdings bezeichnet Wladimir Putin Sergej Skripal nicht nur als Landesverräter, sondern auch als подонок, was sich in etwa mit „Dreckskerl“ oder „Abschaum“ übersetzen läßt – für mich klingt das fast wie der Versuch einer „Rechtfertigung“ für den versuchten Giftmord:
https://www.youtube.com/watch?v=dkRfYVqfk9k

5) Auch der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt bezeichnete – bei allem Verständnis für die US-amerikanische Operation Neptune's Spear – die Tötung Osama bin Ladens damals als „zweischneidige Sache“:
https://www.youtube.com/watch?v=KRWOTrEDZCQ

6) Hier eine Aufnahme mit englischen Untertiteln:
https://www.youtube.com/watch?v=lHD--QI3l6M

Siegfried im Osten, michaelischer Geisteskampf und die Apokalypse gegen die Neger

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Zuckrige Volksseelen und Ödigkeit über der Erde


Dr Steiner denkt über Russland nach
Das Russlandbild Rudolf Steiners in seiner romantischen Verklärung, aber auch der schlichten, indirekten Ausformung eines Weltbilds, das in den Briten und Amerikanern den intellektuell „instinktiven“, machtbesessenen, materialistischen Antagonisten gegen den Russen sieht, feiert heute ja aus vielen Gründen seine fröhliche Auferstehung - in gewissen politischen Konstellationen, bei Putin- Verstehern jeglicher Couleur, aber selbstverständlich auch in einer gewissen einflussreichen Gruppe von Anthroposophen selbst. In der anthroposophischen Bewegung gilt immer wieder die Song- Zeile von Randy Newman: He didn´t grow up, he grew out: Manche werden einfach nicht erwachsen, d.h. selbständig gegenüber ihrem Meister, sondern stricken einfach die wie auch immer gearteten Aussagen ihres Meisters fort- in einem antiliberalen, autoritären, verschwörungs- theoretischen Geist. Aufs Schönste kommt diese Gesinnung aktuell in den gesammelten Zuschriften in „Anthroposophie weltweit“ (1) zum Ausdruck, in deren Hintergrundrauschen der bedingungslose Glaube an die politischen Konstruktionen Rudolf Steiners von vor 100 Jahren durchschimmert. Schauen wir uns daher das ursprüngliche manichäische Weltbild Rudolf Steiners doch einmal genauer und in der ganzen Breite an. 

Vorab ein Beispiel für die „hellsichtigen“ Behauptungen Rudolf Steiners. Die stärkere „Selbständigkeit der Denkfunktion“ (was bei Steiner ein Synonym für Intellektualismus und Materialismus ist), zeige sich schon darin, dass „in England fünfmal so viel Zucker konsumiert wird als in Russland“. Die Korrelation zwischen Zuckerkonsum und „Selbständigkeit der Denkfunktion“ ist eine, wie wir sehen werden, fragwürdige Angelegenheit - die von Steiner verwendeten Statistiken liegen zumindest für die Neuzeit überprüfbar vor (3), und zeigen, dass russische Bürger in Wirklichkeit statistisch zu den Konsumenten mit dem höchsten Zuckerverzehr gehören- mit erheblichem Vorsprung vor Ländern der EU und den USA. Die „intellektuellsten“ Länder der Welt sind demnach, wenn man Rudolf Steiners Maßstäbe anlegt, Brasilien, Australien, Russland und Saudi- Arabien. Tatsächlich geht der Zuckerkonsum in den industrialisierten Staaten zurück, deren Bevölkerung, in der Logik Rudolf Steiners, damit offensichtlich „das Ich so wenig wie möglich betonen“ (2) möchte. Man sieht schon an dieser Stelle, wie problematisch die Zuschreibungen und Generalisierungen Steiners schon bei kleinen Beispielen sind. 

Natürlich bedeutet die gering ausgeprägt „Selbständigkeit der Denkfunktion“ (2) visionär für Rudolf Steiner auch, dass der Russe an sich besonders geeignet sei für die Aufnahme von Theosophie bzw Anthroposophie. Für Russland wäre diese Weltanschauung sogar „das einzige Heil“- die einzige Möglichkeit, dass „das russische Volkstum den Anschluss findet an seine Volksseele“ (4) und die (Rudolf Steiner offenbar bekannte) Aufgabe erfüllen kann, „welche ihr vorbestimmt“ (4) ist. Dabei handelt es sich in Steiners Augen um eine überaus apokalyptische Aufgabe, denn es gilt, die „materialistische Weltanschauung“ (5), die sich in einer Form ausbreiten will, dass der Geist mechanisiert, die Seele verpflanzlicht, und der Leib vertiert wird, durch das zuckerfreie russische Bollwerk aufzuhalten. Wenn nicht, würde „Ödigkeit über die Erde hinfluten, und der Krieg aller gegen alle würde beschleunigt werden“ (5).


Anti- Amerikanismus und manichäische Legenden


Nun, das sind keine schönen Aussichten. Kein Wunder, dass gutgläubige Anthroposophen ihren Anti- Amerikanismus pflegen und in Vladimir Putin ihren Gralsritter gegen den Materialismus zu sehen wünschen, selbst wenn dieser über getreue Mittelsmänner Milliarde nach Milliarde nach Zypern und auf die Cayman- Inseln schmuggeln läßt. So etwas hätte vielleicht Rudolf Steiner nicht weiter gestört, der stattdessen in der heute stramm staatstreuen (d.h. Putin- getreuen) griechisch- orthodoxen Kirche den „luziferischen Geist“(6)  gesehen hat, der Russland geistig in seinen Klauen halten soll.  

Aber die Steinzeit- Anthroposophen, Anti- Materialisten und Putinisten haben noch viele Trümpfe im Ärmel, mit denen Rudolf Steiner die Überlegenheit der russischen Seite begründet. Im Kampf gegen die erstarrenden Ätherleiber im Westen bietet Steiner sogar den größten anthroposophischen Kämpfer in der geistigen Welt auf, den Erzengel Michael, der für ihn den Zeitgeist schlechthin, aber aber auch den Repräsentanten des spiritualisierten Denkens darstellt. Der „Kampf gegen den Drachen“ stellt so gesehen einen Kampf des russischen Ostens gegen den westlichen Materialismus dar: „Daher muß Michael einen Kampf kämpfen in Europa. Er muß etwas beitragen, daß diese westeuropäischen starren Ätherleiber aufgelöst werden in der ätherischen Welt. Dazu muß er diejenigen Ätherleiber nehmen, die sich gerne auflösen, die Ätherleiber im Osten, und muß mit ihnen kämpfen gegen Westen. Das bewirkt, daß sich seit 1879 ein mächtiger Kampf in der astralen Welt vorbereitet hat zwischen russischen und westeuropäischen Ätherleibern, und dieser Kampf durchtobt die ganze astralische Welt.“ An anderer Stelle wird Rudolf Steiner noch deutlicher und spricht vom „Kampf zwischen Osten und Westen“ - ein Kampf „für die Reinheit des spirituellen Horizontes“ (8). Genau das - diese „Reinheit“ im reinen, michaelischen Denken, die Rudolf Steiner repräsentiert sieht auf russischer Seite, hat er ja stets als Credo für den Anthroposophen schlechthin ausgegeben. Die Suche des wahren Anthroposophen mündet in diesem spiritualisierten Russland, das für ihn ja auch die nächste Stufe der Kulturentwicklung darstellt. Nur im reinen russischen Geist kann daher für Rudolf Steiner auch der Christus hellsichtig gesehen werden, da der Blick durch die korrumpierten westlichen „Ätherleiber“ dies nur „in unrichtiger Weise“ (9) vermag.

Natürlich ist nicht alles schlecht. Und selbstverständlich hat Rudolf Steiner nicht nur manichäische Weltbilder entworfen, so wie es Lorenzo Ravagli als den Sturz der Geister der Finsternis beschreibt: „Der Herbst 1879 stellt in der geistigen Entwicklung der »europäischen und amerikanischen Menschheit« einen bedeutungsvollen Einschnitt dar, denn damals fand ein Kampf seinen Abschluß, der in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts im Himmel begonnen hatte, ein Geisteskampf zwischen jenem Erzengel, der im Jahr 1879 seine Zeitalterregentschaft antreten sollte und den »Geistern der Finsternis«, die ihm diese Regentschaft streitig machten. Es war »geradezu eine Art Krieg in der geistigen Welt«, den der Erzengel Michael mit seinen Scharen gegen »gewisse ahrimanische Mächte« führte und der mit dem Sieg Michaels im Herbst 1879 endete. Dieser durch vier Jahrzehnte hindurch tobende Krieg fand seinen Abschluss darin, daß die von Michael bezwungenen Geister der Finsternis, bei denen es sich um »ahrimanische Engel« handelte, vom siegreichen Erzengel aus der geistigen Welt auf die Erde herabgestoßen wurden. Die Vertreibung ahrimanischer Engel auf die Erde hatte zur Folge, daß die Vertriebenen sich in den Seelen der Menschen niederließen, daß sie seither »ihre Festungen« im »Denken«, im »Empfinden« und in den »Willensimpulsen« der Menschen aufgerichtet haben. (10) 

Die manichäische Legende, an der Steiner arbeitete, ergibt sich daraus, dass die gesammelten Teufel des neuen Zeitalters ihre „Festungen“ in den Hirnen, Empfindungen und Willensimpulsen des Westens errichtetet hätten- während der Mensch des Ostens eher mit mangelnder Selbstbezogenheit und Individualität zu kämpfen habe: „Der Osten hatte einstmals ein grandioses Geistesleben. Und heute ist gerade der östliche Mensch bis herein nach Russland in einem merkwürdigen Zwiespalt, weil er auf der einen Seite noch aus seinem Erbe heraus in dem alten spirituellen Elemente lebt, und weil auf der anderen Seite auch auf ihn wirkt dasjenige, was aus der gegenwärtigen Epoche der Menschheitsentwickelung kommt, das Trainieren zur Individualität hin.“ (11) Auch beim Querlesen durch das Gesamtwerk Rudolf Steiners mit Hilfe von Stichwörtern und Suchmaschinen wird dieses zutiefst manichäische Prinzip- die Dämonisierung des Intellekts, des Individualismus und des Westens schlechthin- auch in der Gegenprobe deutlich, in den Zuschreibungen dessen, was er im „Menschen des Ostens“, im Russen an sich zu sehen geneigt war. Denn dieser wunderbare Russe wird durch die ihm widerfahrene Unterdrückung in seiner intellektuellen Entfaltung behindert (12) und ist zugleich auch nicht geneigt, die für den Westen typische dämonische Doppelgänger- Natur in seinem Inneren zu entfalten. Dadurch wird er aber zum Opfer für die dämonisierten Kräfte und Kulte des Westens, die in geheimen Weltlenker- Clubs selbst die sozialistischen Experimente dem Osten übergestülpt hätten, ja sogar vorhätten, die gesamte östliche Menschheit zu unterjochen und zu ihrer „Sklavenkaste“ zu machen: „Wenn vom Osten aus – und mit diesem Osten meine ich alles dasjenige, was vom Rhein nach Osten liegt bis nach Asien hinüber – kein Widerstand erhoben wird, so wird eben die englisch sprechende Weltherrschaft sich mit dem Untergange des romanisch-lateinischen Franzosenelementes so entwickeln, wie es in diesen Intentionen liegt, eine Herrenkaste des Westens zu begründen und eine wirtschaftliche Sklavenkaste des Ostens, eine Sklavenkaste, welche sozialistisch organisiert werden soll.“ (14) Also bitte. Vom Rhein aus bis nach Shenzhen, alles Sklaven der westlichen Logen. Kann man es, wenn man diesem Weltbild anhängt, Orban, Putin und den Reichsbürgern im Erzgebirge übel nehmen, dass sie sich ein bisschen wehren? 


Der wahre Siegfried war ein Russe


Die eher sachlichen Auslassungen Rudolf Steiners, was die Entwicklung von Assoziationen und Kolchosen in Russland oder die Gefahren des Bolschewismus betrifft, bleiben marginal, wenn man durch sein Gesamtwerk blättert. Im Gegenteil, der manichäische Charakter seiner Charakterisierungen zündet - zumindest bei diesem Thema - an dem hier dargestellten Punkt erst richtig und nimmt Fahrt auf, und nimmt damit auch endgültig zeitübergreifenden, apokalyptischen Charakter an- einen Charakter, der insoweit toxisch wird, dass er von radikalen politischen und sozialen Gruppen aufgegriffen, missbraucht, weiter gesponnen und in anti- humanistischem Sinne verstanden werden kann. 

Denn der östliche -vom Rhein bis nach Asien beheimatete- Mensch im allgemeinen und der Russe im besonderen ist - so Rudolf Steiner-  nicht durch Zufall prädestiniert, dem westlichen intellektuellen und individualistischen Impuls zu widerstehen, sich aber dennoch sich in seine ihm zugedachte Opfer- und Sklavenrolle zu ergeben. Es gibt nicht nur die räumliche Achse der Verdammnis - den Rhein-, sondern auch eine zeitliche. Der Russe geht, seit Urzeiten durch exklusive, uralte Mysterien seelisch- geistig eingestimmt, der sechsten nachatlantischen Kulturepoche entgegen, in der allgemeine Hellsichtigkeit und universelle Brüderlichkeit über die Menschheit herein gebrochen sein werden. Dann wird der Russe nach Steiner ganz in seinem Element sein. Es ist dies die mythische Melodie von alter Größe, dem Fallen in die Erdenschwere und von verheißener Auferstehung, die Rudolf Steiner in Bezug auf das Russentum anstimmt- aber auch von einer geistigen Passivität, die durch den alles beherrschenden Westen erst befruchtet werden muss. Übrigens zelebriert Steiner bei diesem Thema - im schärfsten Gegensatz zu dem Autor der „Philosophie der Freiheit“- auch den klassischen Kontrast zwischen Intellektualität und Spiritualität, also puren Dualismus. Die intellektuelle Herrenkaste kann die von Steiner gemeinte spirituelle Vervollkommnung offenbar nur in abstrakten Ansätzen verwirklichen- zur kulturellen Blüte wird sie erst im erwachten Slawentum kommen.

Aber schauen wir uns dieses Slawentum weiter aus Rudolf Steiners Perspektive an. Am Anfang standen neben den ganz auf die Natur bezogenen „unproduktiven“ (15) Schamanen die ganz alten nördlichen Mysterien: „Eine berühmte Einweihungsschule war im Norden des heutigen Russland. Die Eingeweihten dort nannte man die Trotten.“ (16) An anderer Stelle charakterisiert er diese Mysterien näher, und zwar ausgerechnet als die des „Siegfried“- Mythos. Die Drottenmysterien seien „gegründet von dem ursprünglichen Eingeweihten Sieg, Siegfried oder Sigge. Alle Sagen über Siegfried gehen auf ihn zurück“ (16) Nach Steiner funktionierten diese Mysterien nach dem üblichen bei ihm so dargestellten 12 plus 1 -Stereotyp, analog zu Rosenkreuzern, Templern oder Urchristen: „Wenn die Menschen sich so versammeln und jeder das Seine tut, dann bilden sie etwas wie einen höheren Organismus, einen höheren Leib, und dadurch machen sie es für ein höheres geistiges Wesen möglich, unter ihnen zu wohnen. Sieg bildete so einen Kreis von 12 Menschen, von denen jeder auf eine ganz besondere Weise seine Seele entwickelte. Wenn dann diese alle zusammenwirkten, alles zusammenfloß bei ihren heiligen Versammlungen, dann waren sie sich klar, daß unter ihnen eine höhere geistige Wesenheit wohnte als die Seele im menschlichen Leibe, daß die Seelen die Glieder sind eines höheren Leibes. Der Dreizehnte wohnte so unter den Zwölf.“ So sollen die „germanischen Götter“ beschworen worden sein, was kulturbildend in Bezug auf Ost- und Mitteleuropa gewirkt haben soll, denn - so Steiner- die Mysterienkultur, die hier ihren Anfang nahm, setzte sich dorthin fort. 


Die apokalyptische Endschlacht gegen die Farbigen


Bemerkenswert erscheinen allerdings nicht nur die Stereotypien in den Erzählungen Rudolf Steiners, sondern auch der angeblich germanische Ursprung jeglicher religiös- kultischer Kultur; der Siegfried- Kult, dem sowohl das Russentum wie Mitteleuropa entsprungen sein sollen. Leider ist das Slawentum ja, so Steiner, selbst nicht produktiv genug, um ein eigenes Geistesleben hervor zu bringen. Aber die Verheißung für eine zukünftige 6. Kulturepoche besteht. Daher hat die heutige Menschheit - speziell die Anthroposophenschaft, doch etwas zu tun, um den  Russen geistig einen Schubs zu geben: „So muß sich die Geschichte abspielen, daß von der gegenwärtigen, die eigentlichen Kulturimpulse in sich tragenden Menschheit eine spirituelle Kultur geschaffen wird, welche die eigentliche geschichtliche Nachfolge der 5. Kultur ist, und daß diese Kultur verarbeitet wird von dem, was nachfolgt.“ (18) Wenn aber die anthroposophische Weisheit aufgenommen und das Luziferische der lästigen orthodoxen Religion überwunden sein wird (6), dann werden die Russen und Slawen östlich des Rheins bis nach China in alte kulturelle Mysterienhöhen gelangen. Fast, zumindest. 

Leider muss vorher noch der apokalyptische Endkampf gegen die „Farbigen“ gewonnen werden, bis die Nachkommen Siegfrieds wirklich frei sind: „Aber ohne heftige Kämpfe gehen diese Dinge in der Welt nicht ab. Die weiße Menschheit ist noch auf dem Wege, immer tiefer und tiefer den Geist in das eigene Wesen aufzunehmen. Die gelbe Menschheit ist auf dem Wege, zu konservieren jene Zeitalter, in denen der Geist ferne gehalten wird vom Leibe, in denen der Geist gesucht wird außerhalb der menschlich-physischen Organisation, bloß dort. Das aber muß dazu führen, daß der Übergang von der 5. Kulturepoche in die 6. Kulturepoche sich nicht anders abspielen kann denn als ein heftiger Kampf der weißen Menschheit mit der farbigen Menschheit auf den mannigfaltigsten Gebieten. Und was diesen Kämpfen vorangeht, die sich abspielen werden zwischen der weißen und der farbigen Menschheit (beispielsweise der Neger in USA und der mongolischen Völker in Russland), das wird die Weltgeschichte beschäftigen bis zu der Austragung der großen Kämpfe zwischen der weißen und der farbigen Menschheit. Die zukünftigen Ereignisse spiegeln sich vielfach in vorhergehenden Ereignissen.“  (19)

Das Beispiel in Klammern ist eine Erläuterung, eine Ergänzung im Rudolf- Steiner Lexikon (20) und bestätigt lediglich den rassistischen Aspekt, den Rudolf Steiner in dieser von ihm behaupteten, Weltkriegs- ähnlichen Kulmination sah. Man sieht das schlichte Strickmuster bei ihm, das ein auserkorenes Siegfried- Volk durch eine Phase der Bedrängung durch westliche materialistische Machenschaften hindurch am Ende nach der Endschlacht gegen die „Farbigen“ das spirituelle Zeitalter einläuten lässt- wobei „der Russe“ oder „der Slawe“ für ihn Synonyme sind für den eigentlichen Anthroposophen, denn „Es wäre möglich gewesen, wenn nicht so vieles verschüttet worden wäre, in der Tat mit diesem dreigliedrigen Organismus gerade in Russland am ehesten Anhänger zu gewinnen.“ (21) Der auserkorene Slawe erscheint als Chiffre für den Anthroposophen selbst. Denn auch dieser sieht sich in seinem Auserkorensein als Vertreter der Geistes, der, durch die Machenschaften der westlichen Geheimgesellschaften und ahrimanische Konspirationen momentan an der Vollendung verhindert ist, aber einer weißen Urkultur von Mysterien entstammt, die, vom Erzengel geführt, als tragendes Element die Kultur der Zukunft determinieren wird. Anthroposophie versteht sich als gegenwärtige Erscheinungsform einer solchen Mysterienkultur. Dieser Mythos, den Rudolf Steiner zelebriert, schmeichelt seinen Zuhörern und Lesern und entbehrt nicht einer verschwörungstheoretischen, aber auch rassistischen Konnotation. Vor allem ist die Legende dem Neuen Testament entlehnt- der Geschichte vom verlorenen Sohn. Die biblische Sinngebung von der verheißenen „Heimkehr“ wird von Rudolf Steiner quasi räumlich und zeitlich ausgewalzt und exklusiv auf seine eigene Lehre bezogen. Gerade die Lokalisation und Festschreibung auf bestimmte rassische und völkische Elemente, die Ausdeutung der konspirativen Versucher und Verführer auf den materialistischen Westen, bringt den toxischen Charakter dieser Legende mit sich. Solche heiligen Missionen können politisch auf vielen Ebenen und zu diversen Zwecken instrumentalisiert, aber auch zu quasi- religiösen Weltbildern und übersteigerten Selbstbildern ausgedeutet werden. 

Dass immer wieder - und gehäuft seit der letzten Jahrhundertwende- Mythen Rudolf Steiners politisch zu deuten unternommen wird, verwundert da ebenso wenig wie die Neigung gerade von Rechtspopulisten und anti- amerikanischen Ideologen, sich das Weltgeschehen aus dieser Perspektive zurecht zu legen. Selbst eindeutig rassistische, identitäre Interessengruppen suchen für ihre kruden, menschenverachtenden Weltbilder einen quasi- religiösen Background. Die globalisierte Moderne hat ohnehin die Neigung, sich wieder einmal an sehr schlichten Feindbildern zu versuchen, um die Komplexität der Lebenswirklichkeit zu übertünchen. Da kommt das toxische Element in den Ost- West- Konstruktionen Rudolf Steiners mit seinen apokalyptischen Versprechungen und Erlösungs- Vorstellungen gerade recht. Das Strickmuster der rechten Anthroposophen betont die intrigante, verschwörerische Dominanz der Amerikaner (ohne dabei eine antisemitische Konnotation auszuschließen) und die Opferrolle des Ostens. Man kann das jederzeit aus dem Fundus mit verqueren Steiner- Aussagen garnieren wie „Denn es werden nicht bloß Menschen hassen. Mittel- und Osteuropa wird gehaßt werden, nicht von Menschen, sondern von gewissen Dämonen, die in Menschen wohnen werden. Die Zeit, wo Osteuropa vielleicht noch mehr gehaßt wird als Mitteleuropa, die wird schon kommen.“ (22)

Der Weg zu einem rationalen Umgang mit den toxischen Ingredienzen in Steiners Werk ist damit nicht verbaut. Er ist aber nicht möglich, wenn man das Selbstbild einer privilegierten Anhängerschaft pflegt und verbreitet. Die sektiererische Selbstvergottung ohne notwendige kritische Verarbeitung verfällt genau dem Strickmuster, das hier geschildert wurde: Der Adept, der sich in einer Marschrichtung von Siegfried zur 6. Nachatlantischen Kulturepoche sieht, gerät zwischen den Mythen und Legenden hoffnungslos unter die geistigen Räder. 


Anmerkungen und Verweise


2 „Der russische Bauer wird das Ich so wenig wie möglich betonen. Bei dem Engländer ist das Gegenteil der Fall. Das findet schon einen rein äußerlichen Aus- druck in der Schreibweise: der Engländer schreibt das Ich groß. Geht man diesem Sachverhalt nach, so findet man, daß in England fünfmal so viel Zucker konsumiert wird als in Russland. Der Vorgang, welcher in der Verdauung durch Zuführung einer größeren Menge von Zucker bewirkt wird, hat im oberen Menschen sein Korrelat in einer stärkeren Selbständigkeit der Denkfunktion.“ 96.173
4 „Für andere Gegenden der Erde wird Theosophie ein Vortreffliches, ein die Menschen Weiterbringendes sein. Für Russland wird Theosophie das einzige Heil sein, dasjenige, was da sein muß, damit das russische Volkstum den Anschluß findet an seine Volksseele, damit diese Volksseele nicht zu andern Aufgaben in der Welt berufen wird als die, welche ihr vorbestimmt ist.“ 158.219
5 „Würde die materialistische Weltanschauung siegen, so würde sich von Rußland ausgehend die ganze Menschheit dem Geiste nach mechanisieren, der Seele nach vegetabilisieren, dem Leibe nach animalisieren, weil die Erdentwickelung selber dazu drängt, dann würde Ödigkeit über die Erde hinfluten, und der Krieg aller gegen alle würde beschleunigt werden.“ 192.246
6 „Im Osten, in Asien und im europäischen Russland, waltet Luzifer durch die Kultur hindurch. Das luziferische Prinzip besteht darinnen, daß gute Geister zurückbleiben. In der griechisch-orthodoxen Kirche war bis in das 6., 7. Jahrhundert ein guter Geist, aber das, was zu einer Zeit ein guter Geist ist, verwandelt sich in einen luziferischen Geist, wenn es über diese Zeit fort behalten wird. Das Festhalten an der orthodoxen Religion ist ein «in den Klauen des Luzifer sein». Und viel intensiver noch ist das der Fall bei den geistigen Formen, welche sich im Orient entwickeln, die für Urzeiten ihre Berechtigung hatten.“ 159.236
7 159.263
8 „Und so sehen wir den Geist Michael und in seinem Gefolge eine Anzahl russischer Seelen für die Reinheit des geistigen Horizontes kämpfend und in hartem Kampfe mit den Seelen, die aus dem Westen gekommen sind, die scharf ausgeprägte Phantasiebilder hinaufbringen. Die müssen zerstreut, aufgelöst werden. Wir sehen diesen Kampf zwischen Osten und Westen vorbereitet schon seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, einen scharfen Kampf, der dem Fortschritt der Menschheit dienen soll, und der darin besteht, daß geistig der europäische Osten kämpft gegen den europäischen Westen, daß das geistige Russland einen scharfen geistigen Kampf führt gegen das geistige Frankreich.“ 174a.40f
9 „Wenn im Laufe dieses 20. Jahrhunderts gewissen Seelen die geistigen Augen hellsichtig geöffnet würden – und das wird geschehen – für das, was in der ätherischen Welt lebt, würden sie gestört werden durch jene Ätherleiber, die von Westeuropa her sich ausbreiten. Auf die würde der geistige Blick zuerst fallen, und man würde in unrichtiger Weise die Gestalt des Christus sehen. Daher muß Michael einen Kampf kämpfen in Europa. Er muß etwas beitragen, daß diese westeuropäischen starren Ätherleiber aufgelöst werden in der ätherischen Welt. Dazu muß er diejenigen Ätherleiber nehmen, die sich gerne auflösen, die Ätherleiber im Osten, und muß mit ihnen kämpfen gegen Westen. Das bewirkt, daß sich seit 1879 ein mächtiger Kampf in der astralen Welt vorbereitet hat zwischen russischen und westeuropäischen Ätherleibern, und dieser Kampf durchtobt die ganze astralische Welt.“ 159.263 
11 200.44f
12 „In Russland, gleichgültig, ob das der Zar oder der Lenin tut, wird die Intelligenz polizeilich unterdrückt und wird noch lange polizeilich unterdrückt werden. Vielleicht liegt gerade darin der Nerv ihrer Stärke, daß sie polizeilich unterdrückt wird. Man kann überhaupt mit Bezug auf dieses eine ziemlich schematische, aber doch gültige Zusammenstellung machen. Man kann sagen: In Russland wird die Intelligenz verfolgt, in Mitteleuropa gezähmt, und im Westen ist die Intelligenz schon zahm geboren.“ 186.245
13 „Innerhalb jener Gesellschaften, die solche okkulte Wahrheiten, die auf die Wirklichkeit gehen, pflegten, wurde zum Beispiel der Satz ausgesprochen: Man muß eine solche Politik befolgen, daß, nachdem das russische Zarenreich zum Heile des russischen Volkes gestürzt sein wird, in Russland die Möglichkeit geboten wird, sozialistische Experimente zu unternehmen, die man in westlichen Ländern nicht unternehmen will, weil sie sich da nicht als vorteilhaft, nicht als wünschenswert herausstellen. Es handelt sich darum, daß man diese Länder zunächst so weit bringt, daß sozialistische Experimente notwendig sind. – Erhält man sie dann bei dem Nichtwissen über eine soziale Ordnung, dann macht man die soziale Ordnung bei ihnen, dann macht man sich zum Regierer der sozialistischen Experimente. Sie sehen, in dem Vorenthalten einer gewissen Art von okkultem Wissen, das sehr sorgfältig gerade in diesen Zentren gepflegt wird, liegt eine ungeheure Macht. Und keine Rettung gibt es gegen diese Macht, als indem das Wissen von der anderen Seite erworben wird und entgegengehalten werden kann. Auf diesem Gebiete redet man nicht von Schuld oder Unschuld, auf diesem Gebiete redet man eben einfach von Notwendigkeiten, von den Dingen, die da kommen müssen, weil sie jetzt schon in den Untergründen, in der Region der Kräfte, die noch nicht Phänomene sind, aber die schon Kräfte sind und zu Phänomenen werden, wirksam sind.“ 186.67f 
14 186.69
15 „Vollständig verstehen, auch äußerlich, kann man das, was ostwärts und südwärts vom Kaspisee sich abspielte, nur dann, wenn man es vergleicht mit dem, was mehr nördlich davon vorging, also in Gegenden, die an das heutige Sibirien, an das heutige Russland angrenzen, sogar bis nach Europa hinein sich erstrecken. Da waren Menschen, welche sich im hohen Grade das alte Hellsehen bewahrt hatten. Bei ihnen war in weitesten Kreisen noch ein Hineinschauen in die geistige Welt vorhanden, war es ein niederes astralisches Hellsehen. Wer mit dieser Art niederen astralischen Hellsehens begabt ist, wird ein ganz bestimmter Mensch. Er hat im wesentlichen den Drang, von der Naturumgebung zu fordern, was er zu seinem Lebensunterhalt braucht, und möglichst wenig zu tun, um es der Natur zu entreißen. Schließlich weiß er ja, daß es göttlich-geistige Wesenheiten gibt, die in alle dem darinnen stecken; denn er sieht sie. Er weiß auch, daß sie die mächtigen Wesen sind, die hinter den physischen Wesenheiten stehen. Aber er kennt sie auch so genau, daß er von ihnen fordert, sie sollen ihm ohne viel Arbeit das Dasein fristen, in das sie ihn hineingestellt haben. Aber etwas zu leisten, um das Kulturniveau zu erhöhen, um die Erde umzugestalten, dazu waren diese Völker nicht aufgelegt.“ 123.28f
16 97.261
17 „Mehr im Norden, in Skandinavien und im nördlichen Russland, finden wir die Drottenmysterien, gegründet von dem ursprünglichen Eingeweihten Sieg, Siegfried oder Sigge. Alle Sagen über Siegfried gehen auf ihn zurück. Gerade in diesen Mysterien sehen wir etwas, was im Grunde allen Mysterien zugrunde liegt, was hier aber zuerst besonders deutlich hervortritt. Nun ging man davon aus, daß, wenn man einen Kreis von Menschen zusammenbringt, in dem jeder eine besondere Aufgabe übernimmt, und die doch im ganzen zusammenwirken, daß dann unsichtbar in ihnen etwas wirkt wie die Seele im (einzelnen) Menschen. Wenn die Menschen sich so versammeln und jeder das Seine tut, dann bilden sie etwas wie einen höheren Organismus, einen höheren Leib, und dadurch machen sie es für ein höheres geistiges Wesen möglich, unter ihnen zu wohnen. Sieg bildete so einen Kreis von 12 Menschen, von denen jeder auf eine ganz besondere Weise seine Seele entwickelte. Wenn dann diese alle zusammenwirkten, alles zusammenfloß bei ihren heiligen Versammlungen, dann waren sie sich klar, daß unter ihnen eine höhere geistige Wesenheit wohnte als die Seele im menschlichen Leibe, daß die Seelen die Glieder sind eines höheren Leibes. Der Dreizehnte wohnte so unter den Zwölf. Oder man nahm einen Dreizehnten, der dann im Kreise der Zwölf das Anziehungsband bildete für das, was sich herunter senken wollte. So war dieser Dreizehnte ein solcher, den man einen Stellvertreter der Gottheit in den Einweihungsstätten nannte. So war man sich klar: wenn so zwölf Menschen vereinigt waren, die in sich die Kraft entwickelten, ein Höheres unter sich zu haben, dann erhob man sich aus der physischen in die geistige Welt; zu seinem Gott erhob man sich. Sie betrachteten sich als die 12 Attribute, die 12 Eigenschaften des Gottes. Das alles bildete sich ab als die 12 germanischen Götter in den nordischen Göttersagen. Derjenige, der in diesem erlauchten Kreise ein Glied sein wollte, hatte zur Aufgabe das Aufsuchen Baldurs. Das war die Einweihung. Baldur ist dasjenige im Menschen, was sein geistiger Teil ist, was die Seele sucht, was sie findet in der Einweihung, was ihr da entgegentritt. Wer hat Baldur getötet? Die haben Baldur getötet, die das Hellseherische am Menschen getötet haben, die das Physische zusammengefügt haben, die dem Menschen das sinnliche Schauen gegeben haben, die das Physische zu schnell mißbrauchen konnten: Loki, die Feuerkraft, und ihr Ausdruck Hödur der Blinde, der darstellt die menschliche Sinnlichkeit, die unfähig ist, in das Höhere, in die geistige Welt hineinzuschauen.“ 57.412ff
18 „Denn was dann nachkommt als sechste, als siebente Kulturepoche, das muß geistig von den Schöpfungen der fünften leben, das muß die Schöpfungen der 5. Kulturepoche in sich aufnehmen. Diese hat die Aufgabe, das äußere idealistische Leben zum spirituellen Leben zu vertiefen. Das aber, was so als spirituelles Leben vom Idealismus erobert wird, das muß später angenommen werden, das muß weiterleben. Denn im Osten (Träger der 6. Epoche) wird man nicht die Kräfte haben, ein eigenes Geistesleben produktiv hervorzubringen, sondern nur dasjenige, was hervorgebracht ist, in sich aufzunehmen. So muß sich die Geschichte abspielen, daß von der gegenwärtigen, die eigentlichen Kulturimpulse in sich tragenden Menschheit eine spirituelle Kultur geschaffen wird, welche die eigentliche geschichtliche Nachfolge der 5. Kultur ist, und daß diese Kultur verarbeitet wird von dem, was nachfolgt.“ 174b. 38f
19 174b. 38f
20 Anthroposophie. Die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners Ein alphabetisches Nachschlagewerk in 14 Bänden unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes von Rudolf Steiner. Mit über 7400 Stichworten und auch sehr umfangreichen Artikeln. Illustriert. Hrsg: 1996 Urs Schwendener, CH-4252 Bärschwil/SO
21 330.221
22 180.251

Ahriman als Schriftsteller oder: Der Dunning- Kruger- Effekt und die Anthroposophen

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NY Times Dokumentation
Wenn man den Dunning-Kruger- Effekt (1) einmal weiter gehend betrachtet, so kann man ihn, ohne überspannt zu wirken, auf andere Lebensbereiche beziehen und übertragen. Schließlich leben wir in einer Zeit, in der der Dunning-Kruger- Effekt das Internet überrumpelt, die Macht in den USA übernommen hat und in Form von hysterischen Rechtspopulisten (Früher: Die Russen kommen; heute: Die Flüchtlinge kommen; früher: Lass uns Raketen stationieren; heute: Lass uns Mauern bauen) die demokratischen Grundstrukturen gefährdet.

Dazu muss man bedenken, dass das Medium nicht nur die Botschaft ist, sondern längst selbst nicht mehr „neutral“ sein kann, wenn es sich dazu hergibt, via Facebook in Myanmar den Genozid der buddhistischen Mehrheit  an den Rohinga zu organisieren oder sich an der Hetze der Faschisten und Rechtspopulisten am Milliardär Georg Soros (6) zu beteiligen, da dieser die sozialen Medien kritisiert hatte. Facebook steht unter Druck, weil dem Medium nachgewiesen wird, dass es über von Russland bezahlte Werbe- Einblendungen (5) die Wahl Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten gefördert und die für Moskau unliebsame Kandidatin Hillary Clinton denunziert hat. Zuckerberg verspricht zwar - u.a. vor dem amerikanischen Kongress- Besserung- engagierte aber in Wahrheit PR- Agenturen, um Kritiker wie Soros (6) in Kampagnen mit Dreck zu bewerfen. Dabei wird deutlich, dass das Medium, das in den letzten Jahren so gut damit verdient hat, durch Stimmungsmache und Hetze ganze Gesellschaften zu destabilisieren, zu einem manipulativen Instrument geworden ist, um Demokratien regelrecht zu untergraben. Sehr empfehlenswert dazu auch die dreiteilige Video- Dokumentation (7) der NY Times Opinion zur Arbeit der Desinformations- Abteilungen in den Geheimdiensten, die dahin abzielt, das rationale Urteil schlechthin zu untergraben: „Operation Infektion. Russian disinformation: From Cold War to Kanye“. Beeindruckend, dass Tausende von KGB- Mitarbeitern unter Vladimir Putin Jahre und Jahrzehnte daran arbeiten, bestimmte Kampagnen zur Usurpation der öffentlichen Meinung zu installieren, zu pflegen und am geeigneten Zeitpunkt und im richtigen Konflikt eskalieren zu lassen. Die hybride Kriegsführung um die öffentliche Meinung wird mittels Facebook und Twitter allerdings extrem beschleunigt und verbreitet. Sie setzt zielgenau an den vorhandenen Konfliktlinien der westlichen Demokratien an.




Nochmals zurück zum Ursprungspunkt. Der Dunning-Kruger- Effekt erklärt: „Wenn jemand inkompetent ist, dann kann er nicht wissen, dass er inkompetent ist. […] Die Fähigkeiten, die man braucht, um eine richtige Lösung zu finden, [sind] genau jene Fähigkeiten, die man braucht, um eine Lösung als richtig zu erkennen.“ (1) Oder, in einfachen Worten: Man muss über einen Rest Intelligenz verfügen, um die eigene Beschränktheit zu erkennen. Wenn man nur dumm genug ist, meint man, die Welt erklären zu können. Und so erleben wir sie, die Welterklärer im Internet. Früher noch am Stammtisch, quälen sie die Mitmenschen mit ihren beschränkten Ansichten. Auch der Handwerker, der die Decke streicht, fühlt sich berufen, dem Kunden seine persönliche Strategie des Merkel- muss- weg- Polit- Schemas zu erklären. Offensichtlich muss man auch schon einige Male auf Massen- Effekte herein gefallen zu sein, um gelernt zu haben: Die „öffentliche Meinung“ fängt auch mich ein, reißt mich mit, pflanzt mir Zweifel ein, läßt mich an meinen lange gewachsenen Haltungen rütteln.

In Bezug auf den Dunning Kruger- Effekt kann man auch von einer spezifischen Arroganz der Ignoranz sprechen, von der Macht der gefühlten Überlegenheit, die der mangelnden Einsicht entspringt: „While arrogant self-importance plays its role in fostering delusions of expertise, Dunning and Kruger found that most of us are subject to the effect in some area of our lives simply because we lack the skills to understand how bad we are at certain things. We don't know the rules well enough to successfully, creatively break them. Until we have some basic understanding of what constitutes competence in a particular endeavor, we cannot even understand that we’ve failed.“ (2) Es ist offensichtlich, wie gefährlich die „Illusion von Kompetenz“ in diesem Kontext gerade für Menschen ist, die denken, durch die Teilhabe an „höherem Wissen“ zu den Auserwählten zu gehören, zu den Privilegierten, die sich auf ein kommendes Zeitalter vorbereiten und die Gegenwartskultur mit ihrem „Materialismus“ und „Intellektualismus“ mit Verachtung betrachten. Diese Haltung ist in ihrer typischen Hybris nicht selten bei Anthroposophen zu beobachten, wie wir sehen werden.

Die New- York Times (3) hat diese Woche eine Dokumentation (hier das Original "Delay, Deny and Deflect: How Facebook’s Leaders Fought Through Crisis" (4)) veröffentlicht, die darlegt, wie die öffentliche Meinung durch Aktivitäten des KGB seit Jahrzehnten und über Jahrzehnte hinweg in dem Sinne manipuliert wird, dass soziale Spaltungen in westlichen Gesellschaft vertieft, das Lied von den herrschenden Eliten und ihren Mainstream- Medien angestimmt wird und letztlich via Facebook und sozialen Medien insgesamt eine Hetze betrieben wird, die nicht nur das politische und gesellschaftliche Klima vergiftet, sondern Demokratie insgesamt unterminiert. Denn wenn man gar nicht mehr weiß, was man glauben soll, greift man nach einfachen Strukturen, greift man nach Rechts, will den Strongman, der das Durcheinander beendet. Damit allerdings befördert man dann endgültig die antisoziale Kleptokratie an die Macht.

Eine besondere Affinität zum Dunning-Kruger- Effekt haben natürlich die Esoteriker wie Anthroposophen- zumindest wenn sie ihren Steiner, der doch sehr viel mehr zur Denk- Suche, zur behutsamen Meinungsbildung (8) aufgerufen hatte, auf eine plumpe, verkehrende Art und Weise auffassen.  Da sind die „Nebenübungen“ Rudolf Steiners wie „Unvoreingenommenheit“, die Anhänger dazu führen, jegliche vernunftwidrige These - auch wenn sie direkt aus dem Handbuch des KGB oder eines seiner Sprachrohre stammt- ohne sie zu prüfen („Ich frage doch nur“, sagt Daniele Ganser gern), weiter zu verbreiten. Denn bis die widerlegt ist, kann man ja weitere, immer verwirrendere Thesen und Erklärungen nachschieben, die Tatsache einfach leugnen, oder den Fragenden beschuldigen - die Methode delay, deny, deflect (Verzögern, Leugnen, Ablenken). KGB und Donald Trump benutzen diese Strategie des Leugnens, des Gegenangriffs oder eines neuen Skandals zum Überdecken des alten ununterbrochen. Wer an irgend einem Punkt der sich im Kreis drehenden, vernunftwidrigen Eskalation einschreitet und Einspruch erhebt, wird isoliert, konfrontiert, als Gegner markiert- oder aber, im Sinne der Jenseits- der- Vernunft-Positionierungen der Dunning- Kruger-Anthroposophen auch als materialistisch beschränktes, dämonisch besessenes Unterwesen angesehen. Rudolf Steiner beschuldigte Nietzsche in diesem Sinne, er sei in einigen Schriften gar nicht er selbst gewesen, sondern in ihm träte „Ahriman als Schriftsteller“ (13) auf. Andererseits hat er zu einer inneren Freiheit aufgerufen, die sich auch gegen die eigenen Vorurteile und Empfindungen durchzusetzen hatte. (9) Aber da gilt auch wieder: Wer die eigenen Zwänge nicht kennt und sieht, kann ihnen gegenüber nicht frei sein. Wer zu beschränkt ist, kann die Beschränkung nicht erkennen. Was aber, wenn Anthroposophie selbst zu einer solchen Beschränkung geworden ist? Gilt dann auch: Wer die Beschränkung durch das eigene Anthroposophensein nicht erkennt, kann nicht zum Anthroposophen werden? Denn wer sich als Anthroposoph sieht, muss z.B. auch mit den plump nationalistischen Unterstellungen Rudolf Steiners umgehen können, die im diametralen Gegensatz zu seinem gerade zitierten Freiheits- Credo stehen. Franzosen etwa haben zu per se und aus ihrer Körperlichkeit heraus eine „Vorstellung von sich“ als Franzosen (10). Sie sind quasi gefangen in sich, in ihren „französischen Leibern“ (10).

So wird die „Unvoreingenommenheit“ im Sinne des Dunning-Kruger- Effekts zu seinem eigenen Gegenbild- der Ignorante ist nicht nur nicht in der Lage, seine Ignoranz zu erkennen, er zelebriert sie auch noch, und hält sie für spirituelle Kompetenz. Diese Musterexemplare der selbst gewählten Selbstverstümmelung habe ich schon vor 35 Jahren unter Pfarrern der Szene, die nur das hauseigene Blatt und die verlagseigenen Bücher lasen, gesehen, und hier und da in Studienhäusern und im Umkreis der anthroposophischen Zweige getroffen. Diese Art von Selbstverleugnung der eigenen Urteilsfähigkeit postulierte schon damals eine bösartige mediale Gesamt- Verschwörung („Lügen- Presse“) und begründete dies mit den Worten des Meisters bezüglich der grassierenden Intellektualität, den heimlich herrschenden Logen, den Linken und Jesuiten und dass der Zweifel die Mutter aller menschlichen Entartung sei. Nur die völlige Destabilisierung der eigenen Intelligenz führe somit zum höheren Wissen im Rang des Meisters, dem „reinen Denken“. Das Zurückhalten der „eigenen Meinung“ (11), das meditativ von Steiner gelehrt wurde, wird auf dem hybriden Kriegsschauplatz der manipulierten öffentlichen Meinung so zum Problem. So extrem und relativ selten solche Leute damals, im Umfeld und in den Nachwehen gesellschaftlicher Umbrüche, technischer und geschlechtlicher Revolutionen und dem Anbruch des Informations- Zeitalters, daher kamen, so verbreitet sind sie heute. Die Ignoranz ist über die sozialen Medien sozusagen explodiert und hat zeitgeistigen Charakter angenommen. Verzicht auf energische Meinungsbildung - was im meditativen Zusammenhang methodisch notwendig  (12) sein mag-  schafft sich in der Realität der hybriden propagandistischen Kriege Denk- und Regierungsformen, die durch Populisten und korrupte Eliten bedient werden, die Schafe folgen ihrem Schlächter gern und willig; sie bezeichnen das als „Unvoreingenommenheit“ und "geistige Freiheit", wenn ihnen der ideologische Exekutions- Bolzen an die Schläfe gehalten wird. Die esoterische Vervollkommnung wird in solchen Fällen zum geistigen Selbstmord.



Anmerkungen und Verweise:

1 https://de.wikipedia.org/wiki/Dunning-Kruger-Effekt
2 http://www.openculture.com/2017/12/why-incompetent-people-think-theyre-amazing.html?fbclid=IwAR0-IMi9Q7lB1bVMP6pzWJiDkgJ2-KbGZqIHDqFnk-hDmtvIkYC4KF5xwgI
3 https://meedia.de/2018/11/15/schmutzkampagnen-und-ignoranz-ny-times-wirft-facebook-vor-im-umgang-mit-skandalen-versagt-zu-haben/?fbc=fb-shares&fbclid=IwAR3J7gy4ZItFZ_cEbs-YUsX8VANdjAF2XFu8ihXT_3seK_OTD3Q9wmFNwbE
4 https://www.nytimes.com/2018/11/14/technology/facebook-data-russia-election-racism.html
5 „After stalling for weeks, Facebook eventually agreed to hand over the Russian posts to Congress. Twice in October 2017, Facebook was forced to revise its public statements, finally acknowledging that close to 126 million people had seen the Russian posts.“ (4)
6 Zur Kampagne Facebooks gegen Georg Soros: „Facebook also used Definers to take on bigger opponents, such as Mr. Soros, a longtime boogeyman to mainstream conservatives and the target of intense anti-Semitic smears on the far right. A research document circulated by Definers to reporters this summer, just a month after the House hearing, cast Mr. Soros as the unacknowledged force behind what appeared to be a broad anti-Facebook movement.
He was a natural target. In a speech at the World Economic Forum in January, he had attacked Facebook and Google, describing them as a monopolist “menace” with “neither the will nor the inclination to protect society against the consequences of their actions.”“ (4)
7 https://www.nytimes.com/2018/11/12/opinion/russia-meddling-disinformation-fake-news-elections.html?fbclid=IwAR1Wqgw8IFjpmKtpy1zohpUYFDvBU_lcGQYzqz8XPAXRcotRh3LEk8Xz7bs
8 „Für die nächste Zeit, für viele Jahrtausende kommt es darauf an, daß wir uns als Menschen Verantwortlichkeitsgefühl aneignen für einen Gedanken, den wir fassen. Haben wir den Gedanken so weit getrieben, daß wir ihn zur Mitteilung reif halten, das heißt, daß wir einmal bereit sind, in der Zeit, die da kommt, den Gedanken mitzuteilen – dann, dann paßt Ahriman auf, um den Gedanken zu haben und ihn hineinzusetzen in die allgemeine Weltensubstantialiät. Wir müssen uns aneignen, überhaupt das Denken wie ein Suchen zu behandeln. Das Denken ist uns gar nicht dazu gegeben, um gleich Gedanken fertig zu machen; es ist uns vielmehr zum Suchen gegeben, damit wir nachgehen den Tatsachen, sie zusammentragen und wenden nach allen Seiten.“170.212f
9 „Wille zur Freiheit hat jemand, der zu allem, was er vollbringt, die Stütze und Grundlage in sich selbst findet. Man sagt so leicht: Einwirkung von außen und Freiheit vertragen sich nicht. Daß sie sich in der Seele vertragen: darauf kommt es aber gerade an. Wenn mir jemand etwas mitteilt, und ich nehme es unter dem Zwange seiner Autorität an: dann bin ich unfrei. Aber ich bin nicht minder unfrei, wenn ich mich verschließe vor dem Guten, das ich auf diese Art empfangen kann. Denn dann übt in der eigenen Seele das Schlechtere, das ich nur habe, auf mich einen Zwang aus. Und bei der Freiheit kommt es nicht allein darauf an, daß ich nicht unter dem Zwange einer äußeren Autorität stehe, sondern vor allen Dingen auch nicht unter derjenigen eigener Vorurteile, Meinungen, Empfindungen und Gefühle.“ 12.33
10 „In seiner Vorstellung hat der Angehörige des französischen Volkstums, insofern er ihm angehört, eine ganz bestimmte Meinung von sich, von dem, was er gilt in der Welt. Das ist aber nichts anderes als die Spiegelung von den fest arbeiten- den Kräften im Ätherleibe. Dieser Ätherleib ist plastisch fest gebildet und tritt so über in die geistige Welt.“ 174b.61 „Diese Seelen bekommen von ihrer Nationalität das Eigentümliche, stark ihren Ätherleib festzuhalten, eine ganz bestimmte Imaginationsgestalt im Ätherleib lange festzuhalten. Es muß gearbeitet werden an der Zerstreuung dieser Ätherleiber in dem allgemeinen Weltenäther, damit nicht ein falsches Bild von der Christus-Erscheinung hervorgerufen werde. Es müssen also die Scharen zusammenwirken, die unter Michael kämpfen, müssen diejenigen Seelen bekämpfen, die durch französische Leiber hindurchgegangen sind.“ 158.56f
11 „Die Schüler fühlen sich verpflichtet, übungsweise zu gewissen Zeiten sich die entgegengesetztesten Gedanken anzuhören und dabei alle Zustimmung und namentlich alles abfällige Urteilen vollständig zum Verstummen zu bringen. Es kommt darauf an, daß dabei nicht nur alles verstandesmäßige Urteilen schweige, sondern auch alle Gefühle des Missfallens, der Ablehnung oder auch Zustimmung. Insbesondere muß sich der Schüler stets sorgfältig beobachten, ob nicht solche Gefühle, wenn auch nicht an der Oberfläche, so doch im tiefsten Inneren seiner Seele vorhanden seien. – So bringt es der Mensch dazu, die Worte des anderen ganz selbstlos zu hören, mit vollkommener Ausschaltung seiner eigenen Person, deren Meinungen und Gefühlsweise. Wenn er sich so übt, kritiklos zuzuhören, auch dann, wenn die völlig entgegengesetzte Meinung vorgebracht wird, wenn das Verkehrteste sich vor ihm abspielt, dann lernt er nach und nach mit dem Wesen eines anderen vollständig zu verschmelzen, ganz in dasselbe aufzugehen. Er hört dann durch die Worte hin- durch in des anderen Seele hinein.
Durch anhaltende Übungen solcher Art wird erst der Ton das rechte Mittel, um Seele und Geist wahrzunehmen. Allerdings gehört dazu die aller strengste Selbstzucht. Die Seele wird imstande, Kundgebungen aus der geistigen Welt wahrzunehmen, die nicht ihren Ausdruck finden in äußeren Tönen, die für das physische Ohr wahrnehmbar sind. Die Wahrnehmung des «inneren Wortes» erwacht. Dem Geheimschüler offenbaren sich allmählich von der Geisteswelt aus Wahrheiten. Er hört auf geistige Art zu sich sprechen. Solange man noch irgendeine Meinung, irgendein Gefühl dem zu Hörenden entgegen schleudert, schweigen die Wesenheiten der Geisteswelt. Alle höheren Wahrheiten werden durch solches «inneres Einsprechen» erreicht.“ 10.50ff
12 „Wer noch irgendeine Vorliebe hat für die eine oder die andere Anschauung, wem noch lieber ist, daß das eine wahr ist oder das andere wahr ist, der kann die hier gemeinte Stufe der Initiation nicht betreten, sondern erst derjenige, der auf seine eigenen Meinungen ebensowenig gibt wie auf irgendwelche Meinungen von anderen, der ganz bereit ist, seine eigenen Meinungen überall auszuschalten und rein anzuschauen, was da ist. Im allgemeinen gehört es zu den aller schwierigsten Dingen des inneren Erlebens, über den Standpunkt des «Meinens», über den Standpunkt der «Standpunkte», des Urteilens hinauszukommen. (Ein) rasches Durchschauen von weit auseinander liegenden, mit vielen Zwischengliedern behafteten Lebenszusammenhängen ist das, was als eine Begleiterscheinung auftritt zu dem Hinauskommen über das Urteilen, Meinen, über das Haben von diesem oder jenem Standpunkt.“ 144. 17ff
13 "In dieser Zeit, in der sich der Materialismus ausbreitet, steigen immer mehr und mehr Angeloi herunter und leben auf der Erde. Sie tun mit. Gerade sie sind es, die in gewissen Zeiten, wo das menschliche Bewusstsein getrübt ist, sich inkorporieren und auf Erden wirken. Diejenigen, die nach ihrem Angeloi- Karma am nächsten stehen den ahrimanischen Gewalten, die inkorporieren sich in Menschen, tauchen unter in Menschen zu gewissen Zeiten. ..für die zwei Werke «Antichrist» und «Ecce homo» war ein ahrimanischer Geist inkorporiert in Friedrich Nietzsche. Da trat zuerst Ahriman als Schriftsteller auf Erden auf." 237.182f

Höret, Ihr Michaeliten, und folget dem Lichte!

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Hallo, Ihr Michaeliten dort draußen! Heute mal wieder ein kleiner Ausflug für geduldige Geistesforscher und solche, die es werden wollen- nicht in die schäumenden Exzesse hitziger Steiner- Exegeten, nicht in den fanatischen Kampf der Philiströsen, sondern in die illusionäre Selbstbeschwichtigung rechthaberischer Michaeliten. Und so mancher hat seine ganz persönliche Vision erhalten, die direkt aus dem himmlischen Reich zu ihm gekommen ist und ihn beseelt hat, und nun macht er sich auf, sie bei YouTube zu verkünden. Zu dieser anthroposophischen Schar, die so gern beschieden erleuchtet, sonor klingend und Vertrauen erweckend, aber auch stramm rechts daher kommt, gehört der Putin- und Assad- Fan Axel Burkart.

Aktuell attackiert er auf seine scheinbar sanftmütige Art und Weise die Unterzeichner der Schrift „Die offene Gesellschaft und ihre Gegner“, (1)  zu denen u.a. Wolfgang Held, Professoren der anthroposophischen Hochschulen und Verantwortliche der anthroposophischen Zeitschrift Info3 gehören.



Burkart erklärt sich im ersten Teil seines Vortrags insofern zum postmodernen Anthroposophen, da er nicht mehr einfach buchstabengetreuer Steiner- Ausleger sei, sondern einen direkten und exklusiven Zugang zum Erzengel Michael besäße, der ja bekanntlich die kosmische Intelligenz verwaltet. Direkt inspiriert vom Zeitgeist, betont Burkart in monotoner, je gebetsmühlenartiger Weise die Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie als Geisteswissenschaft, u.a. da sie nicht emotional auf Angriffe reagiere und immer sachlich bleibe. Diese Art von Sachlichkeit sieht Burkart als Vertreter Michaels auch bei sich, auch weil er früher mal selbst studiert und gelehrt habe. Es hält ihn andererseits aber nicht davon ab, die Vertreter der „offenen Anthroposophie“ wegen dieses Begriffs Offenheit anzugreifen, da dies einerseits die Geschlossenheit anderer Anthroposophen impliziere, aber auch die Aufgeschlossenheit gegenüber anderen, nicht- anthroposophischen meditativen Strömungen. Obwohl er immer wieder seine eigene Sachlichkeit betont, behauptet Burkart, aus den vorliegenden Feststellungen ersehen zu können, dass die Vertreter der „offenen Anthroposophie“ also von der CIA gesteuert seien, da diese ja den Begriff der Verschwörungstheorie erfunden hätte. Das alles vorgetragen im sonoren, einschläfernden Ton, entzieht es sich zwar jeder Logik, ist ihm aber vermutlich vom Erzengel Michael unvermittelt ins Gehirn gepflanzt worden. Und das, obwohl Burkart von sich selbst behauptet, dass er durchaus kundig in Sachen Erkenntnistheorie sei. Und damit ist noch lange nicht Schluss. Denn, auch wenn z.B. Info3 vielleicht nicht direkt von der CIA gesteuert sei, so doch geistig, wie heutzutage alles ein Geisteskampf sei. Und der ist, wie wir alle Wissen, ein manichäischer Kampf zwischen Ahriman und Erzengel Michael.

Glücklicherweise steht Burkart, wie er am Schluss betont, doch nicht ganz allein da in diesem Geisteskampf. Er hat immerhin das rechtslastige Blättchen „Die Europäer“ (2) auf seiner Seite, wie auch den reaktionären Mitgliederbrief „Ein Nachrichtenblatt“. Letzterer hatte auch die wütenden Reaktionen all derer veröffentlicht (u.a. auf Lorenzo Ravaglis Website (3)), die sich mit einer „offenen Anthroposophie“ so ganz und gar nicht anfreunden können.

Man sieht bei Burkart und seiner für manche vertrauenserweckenden Vortragsart, dass man in Anthroposophistan mit allen möglichen Inspirationen rechnen muss, die sich allerdings meist selbst im putinistischen, reaktionären und anti- pluralistischen Lager verorten. Die prophetische Ausgangslage ist die behauptete- vielleicht auch gefühlte- direkte Verbindung zur höheren Wahrheit, hier in Gestalt des Erzengels Michael. Solche Leute sind, so rational ihr Erscheinungsbild sein mag, durch Kritik oder Zweifel nicht zu erschüttern, durch kein Argument erreichbar, da sie sich ja als inspiriert vom Geist der Wahrheit sehen, und in einer Tradition, die vom Geist Goethes bis zu den Mysterien der Urzeit reicht. Aus diesem hybriden Geisteszustand heraus, aber auch aus ihrer spießigen und beschränkten Weltsicht heraus sehen sie die gewaltige CIA- Verschwörung hinter den Kulissen wabern. Sie selbst verkünden das Licht und die Wahrheit in ihrem Provinz- Erkenntnis- Institut und senden es von hier aus in die ganze Welt. Höret, Ihr Michaeliten, und folget dem Licht!

Ich gebe zu, dass ich es bis zum dritten Teil der Verkündung Axel Burkarts (4) wegen allgemeiner Ermattung und Zerrüttung nicht mehr geschafft habe. Mir reichten einige Kommentare unter dem Video, die erregt von Satan und Unterwanderung der anthroposophischen Gesellschaft schwadronierten. Vermutlich wird Burkart wieder Verschwörungstheorien vortragen und im gleichen Atemzug langatmig erklären, dass es Verschwörungstheorien für Anthroposophen nicht gäbe, da sie eine Erfindung der CIA seien. Und wieder wird es Michaeliten geben, die an seinen trägen Lippen hängen und denken: Ja, ich folge dem Licht.

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1 https://www.info3-verlag.de/zeitschrift-info3/die-offene-anthroposophie-und-ihre-gegner-stellungnahmen/
2 https://www.perseus.ch/archive/category/europaer/europaer-aktuell
3 https://anthroblog.anthroweb.info/wp-content/uploads/2018/10/AWW_10_2018_Extra_Reaktionen.pdf
4 https://www.youtube.com/watch?v=x6QYAgf8cMU





Melancholie mit Doktor Steiner. Heute: Fuck you, Black Friday

Der Gang zu den Pilzen. Ein Spaziergang im Advent

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In der Adventszeit werden die Lichter zum seelischen Halt- sie geben einen Widerschein der sommerlichen Sonnenkraft, auch wenn die angezündete Kerze, die flackert, vielleicht nur ein schwaches Abbild von der Größe der Sonne ist. Größe bedeutet in diesem Zusammenhang auch ihre überweltliche Bedeutung für das Leben schlechthin. Und, natürlich, die elektrischen Lichter stellen eine weitere Abstraktion dar, eine ferne Erinnerung an das nährende Sonnenhafte, aber auch an die weihnachtliche Verheißung darauf, dass dieses aus sich Bestehende, Verstehende, Lebendige auch in uns selbst geboren werden soll- dass wir nicht nur leiblich Partizipierende an der Energie der Sonne, sondern Agierende werden und sein sollten.

Die Verirrungen und Verzerrungen dieser Art von Verheißungen sind grenzenlos, die Perversitäten, Abstürze, Leugnungen des inneren Lichts nicht zu zählen, selbst in sich selbst, selbst bei besten Absichten, selbst im Hochzeitskleid der (vorgeblich?) Erwählten und Erleuchteten. Man hat den Eindruck, dass die so zahlreich präsente Schar auf dem Planeten sich sammelt, sehnt und stöhnt und versagt, im selben Augenblick.

Wir aber gehen zu den Pilzen. Wir gehen durch den kahl gewordenen Wald, der eine letzte Spur des herbstlichen pilzigen Geruchs behalten hat. Wir gehen ihr nach. Wir gehen von den einzelnen Pilzen, die vielleicht im mürbe gewordenen Laub am Boden sichtbar sind, gedanklich zu dem Netzwerk, dem sie entspringen- diesem sich verflechtenden System um die Wurzeln der Bäume, das sie nährt und aufbaut. Und das sich durch den ganzen Waldboden erstreckt- manchmal, ein Stoffwechsel- Wesen, über Hunderte von Metern.

Wir aber gehen zu den Pilzen. Vom Advent gekommen, in den Wald geraten. Der einzelne, im Laub erscheinende Pilz denkt sich im Verhältnis zum unterirdischen Stoffwechsel- Wesen wie die einzelne Kerze zur Sonne: Ein Objekt im Verhältnis zu einem Kraftsystem. Ein einzelner Gedanke im Verhältnis zum wirksamen Logos der Lebenskräfte. Ein einzelner Pilz im Verhältnis zum intelligenten, kommunizierenden, ungeformten System, das mit den Wässern, Mineralien und Wurzeln verbunden ist.

Wechseln wir die Perspektive, gehen wir zu den Pilzen. Es ist eine Intelligenz, die größer ist als die Form. Es ist kein Objekt, sondern ein Prozess. Gehen wir zum lebendigen Denken.

Es ist ein Perspektivenwechsel wie: „Licht ist die andere Seite des Sichtbaren, wie die Stille die andere Seite der Geräusche“.* Freilich, diese Stille ist kein Eigentum, keine Eigenschaft, kein Spiegel des Ich. Es ist das Licht selbst, bevor ein einziger Schatten geworfen wird, bevor ein einziges Objekt erscheint, ein einziges Ego. In dieser Stille sind nicht einmal wir selbst als Objekt da- in dieser Sphäre existieren nur Subjekte. Es ist schaffendes Denken, prozesshaft, unabgrenzbar. Man taucht in das Geflecht, in die atmende, schaffende Tiefe ein. Nur aus der Perspektive des Ego ist das eine Grenzüberschreitung, ein Verlust, eine Leere. Diese Leere ist das Sein, reine Aktivität in der Stille.

Wir gehen zu den Pilzen. In den nährenden, schaffenden, aufbauenden Prozessen finden wir ein Zuhause. Wir schauen von hier aus auf die einzelne Erscheinung, die Formen, die Verirrungen, die Spiegelwelt der Objekte über uns. Es ist gut, in der Stille zu sein, sich erhalten und aufgenommen zu fühlen. Auch wir selbst werden zu Form und vergehen, aber hier, im atmenden, schaffenden Licht, sind wir zu Hause und kehren immer hierhin zurück, durch jede Nacht, durch jeden Tod hindurch. Denn wir sind konstruktive, erkennende Wesen in einem konstruktiven, erkennenden Kosmos. Das Pilzgeflecht, in das wir eingehen, erstreckt sich endlos und baut an Welten und Gestaltungen. Es ist der lichte Stoffwechsel der Erde.

Es ist, erkennen wir, alles sinnhaft. So sehr wir uns verrennen mögen, so sehr wir dem Sinn, dem Logos auch widersprechen mögen, ihn verraten, ihn töten, wir kehren doch immer in ihn zurück, leben aus ihm heraus und sind in ihm zuhause. Freilich, wir bilden giftige Gestalten unter den Pilzen, wir nähren Unheil und sammeln toxische Ingredienzen. Auf der Seite des Sichtbaren* und der Geräusche* ist das möglich. In der Stille ist es das nicht, wenn es denn wirklich die nährende Lichtseite ist, in die wir eingetreten sind.

Advent ist, wenn man dieses Licht erkennt, es annimmt und in es eintritt. Hier fällt der Lärm, aber auch die Illusion in sich zusammen und man erkennt: „Bewusstsein, Selbstbewusstsein ist Wunder, deshalb ist alles Wunder und, wenn du willst, heilig. Eine besondere Heiligkeit gibt es nicht. Nicht reduzierbar.“*

In der Tat, der Gang zu den Pilzen hat nicht besonderes an sich. Der erste Wechsel der Perspektive läßt zugleich erkennen, dass es eine universelle humane Existenzbedingung ist: Das Selbstbewusstsein ist das Tor. Die innere Welt eröffnet sich, wenn das Selbst des Bewusstseins seiner selbst auch gewahr wird. Dann eröffnet sich der Untergrund des Seins, und wir sind im Atmen und Weben der Pilze zuhause.

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*Georg Kühlewind, Licht und Leere. Das letzte Notizheft und ein Fragment. S. 100

Mission accomplished?

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 Über die Meta-Ebene der Fake-News

 Ingrid Haselberger




Quelle


Vor kurzem hat Michael Eggert auf eine sehr aufschlußreiche Dokumentation der New York Times aufmerksam gemacht. Es handelt sich um drei jeweils etwa viertelstündige Videos 1), in denen einer sehr speziellen Spielart der „aktiven Maßnahmen“ (активные мероприятия) des russischen Geheimdienstes nachgegangen wird – von der Zeit des Kalten Krieges bis zum heutigen Tag.
Dabei geht es um gezielte Desinformation.
Über 15.000 KGB-Mitarbeiter in der ganzen Welt verbrachten jahrzehntelang ungefähr ein Viertel ihrer Dienstzeit damit, sich Dinge auszudenken, die wir heute als fake stories bezeichnen würden. Am Ende eines jeden Jahres wurden sie danach beurteilt, »how many proposals for disinformation operations they submitted« - wieviele Vorschläge für Desinformations-Kampagnen sie einreichten.

Die aktivnye meroprijatija des KGB hatten ein klar definiertes Ziel, wie ein ehemaliger KGB-Agent schildert: »to change the conception of reality of every American – to such an extent that, despite of the abundance of information, no one is able to come to sensible conclusions in the interest of defending themselves, their families, their community and their country.« (die Wirklichkeitsauffassung jedes einzelnen Amerikaners zu verändern – so sehr, daß trotz einer Überfülle von Information niemand zu vernünftigen Erkenntnissen kommen kann im Interesse der Verteidigung seiner selbst, seiner Familie, seiner Gemeinschaft und seines Landes.)

Im Vergleich dazu erscheint die altmodische Strategie, ganz bestimmte Lügen zu erzählen, damit sie geglaubt werden, geradezu naiv.
[Allen Whataboutisten 2) sei zudem das TIMEOUT im zweiten Video anempfohlen (3.26).]

Ende 1987 kam eine der dreistesten Lügenkampagnen, die Operation Infektion 3), ans Licht: Unter Präsident Reagan trug eine kleine Forschungsgruppe Informationen zusammen, die in einem Bericht des US Department of State veröffentlicht wurden. Diese Dokumentation fand ihren Weg in den Kreml. US-Außenminister Shultz war dabei, als Michail Gorbatschow sie las: »[I said to him:] You are spreading all this bum dope about AIDS and the United States pushing it! And I said, Come on! - So we had a good heated exchange. And there is nothing wrong with that!« 4)
(etwa: »[Ich sagte zu ihm:] Sie verbreiten all diesen Quatsch über AIDS, und daß die USA das in die Welt setzen! Und ich sagte: Also wirklich! – Und so hatten wir einen guten hitzigen Meinungsaustausch. Das ist schon in Ordnung!«)

Gorbatschow konnte die Richtigkeit der Dokumentation nicht leugnen - und er leugnete sie auch nicht. Tage später geschah das Undenkbare: Gorbatschow entschuldigte sich bei Präsident Reagan, und die Verbreitung der Behauptung, AIDS sei Ergebnis gescheiterter US-amerikanischer Biowaffenforschung und werde absichtlich in andere Länder verbreitet, wurde endgültig eingestellt (die Nachwirkungen 5) allerdings dauern bis heute an...).

Wenige Jahre später kam der Zusammenbruch des kommunistischen Regimes und schließlich der Zerfall der Sowjetunion – und man glaubte, auch diese spezielle Art der »активные мероприятия« würde nun der Vergangenheit angehören. 1991 wurde der KGB aufgelöst.
Aber Teile davon existierten weiter: die gesamte Infrastruktur (mit Ausnahme der Abteilung für Auslandsspionage) wurde vom neugegründeten FSB, dem „Föderalen Dienst für die Sicherheit der Russichen Föderation“, übernommen.
Und wie gesagt: 15.000 KGB-Agenten hatten viele Jahre lang ein Viertel ihrer Arbeitszeit damit verbracht, sich fake stories auszudenken… darunter auch ein Mann, der 1975 in den KGB eintrat, und dessen Karriere 1991 zu Ende zu sein schien.
Doch nach ein paar Jahren (1998) war er wieder zurück – zunächst als Direktor des FSB, schon ein Jahr später als Ministerpräsident Rußlands, und seit 2000 als Staatspräsident der Russischen Föderation, der er – nach einem kurzen Zwischenspiel abermals als Ministerpräsident – bis heute geblieben ist: Wladimir Putin.
Der russische Präsident, so heißt es in der Dokumentation, testete neue fake stories zuerst einige Jahre lang im Inland, an der russischen Bevölkerung.
2005 wurde dann Russia Today (heute: RT) gegründet, der von Rußland finanzierte Auslandsfernsehsender – um »eine alternative, unkonventionelle Sichtweise« 6) zu präsentieren.
2013 entstand die Агентство интернет-исследований, die Agentur für Internet-Forschung — zu deutsch auch gern Troll-Fabrik 7) genannt.

In seiner Rede zur Lage der Nation im April 2005 bezeichnete Putin den Zerfall der Sowjetunion 1991 als die »größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts« 8).
Sein Ziel ist es ganz offensichtlich, die russische Föderation wieder groß und mächtig zu machen. Das gelingt am einfachsten, indem man die übermächtig scheinende westliche Welt in kleine Teile zerspaltet 9). In der angestrebten neuen Weltordnung wäre Rußland ein ernstzunehmender großer Player.

Ich denke an die »multipolare Weltordnung«, von der Aleksandr Dugin an zwei Abenden im Jänner dieses Jahres in Wien 10) immer wieder gesprochen hat, und an seine Vierte Politische Theorie, deren größter Wert die Freiheit ist, allerdings, so Dugin, »eine vom Ethnozentrismus verliehene Freiheit, die Daseins-freiheit, die Kulturfreiheit, die Gesellschaftsfreiheit und die Freiheit zu allen Subjektivitäten - außer der eines Individuums.«

Was mich an diesen beiden Abenden besonders beeindruckt, geradezu frappiert hat, das war das mangelnde Unrechtsbewußtsein im Zusammenhang mit den sich seither immer deutlicher erhärtenden Vorwürfen, Rußland habe über das Internet via Social Media die amerikanischen Wahlen beeinflußt.
Im Gegenteil: das Internet bezeichnete Dugin als einen »Raum, der niemandem gehört«; die Möglichkeit, hier nach Gutdünken zu manipulieren, als »на́ша гла́вная служба«, unsere Hauptwaffe– und mit einem gewissen Stolz erklärte er, die Ausführung von Putins Idee, »in die amerikanische Wahl zu gehen«, sei »virtuelle Geopolitik« und »unsere legitime Reaktion auf die Angriffe der Alantisten«.

Freilich, das Motto Der Zweck heiligt die Mittel ist nicht gerade neu.
Aber diejenigen, die nach diesem Motto handeln, wissen doch normalerweise um das Unrechte gewisser Mittel; sollen solche Mittel dennoch angewendet werden, so bedürfen sie der scheinbaren „Heiligung“ durch einen „edlen Zweck“, weil sie an und für sich eben das Gegenteil von „heilig“ sind. Es gibt hier also ein Unrechtsbewußtsein. Und man versucht eine Rechtfertigung, indem man (der Welt und wohl auch sich selber) erklärt, warum ein bestimmtes Mittel trotz seiner eigentlichen Unrechtmäßigkeit in einem speziellen Fall ausnahmsweise dennoch ergriffen wurde – um so wenigstens den Anschein der Rechtmäßigkeit wahren.

Bei Dugin aber hatte ich in keinem Augenblick den Eindruck eines Bewußtseins für die eigentliche Unrechtmäßigkeit dieses Mittels, sondern es schien mir, als gäbe es in ihm dafür überhaupt kein Empfinden: Lüge, Wahrheit, was macht das schon für einen Unterschied, darauf kommt es doch nicht an...

Vor kurzem las ich bei Rudolf Steiner etwas, das für mich Licht in diese Angelegenheit bringt:

»Sehen Sie, eine der Haupteigentümlichkeiten des Ahriman ist diese, daß er eigentlich jenes unbefangene Verhältnis, das der Mensch, wie er hier auf der Erde lebt, zur Wahrheit hat, gar nicht kennt. Ahriman kennt dieses unbefangene Verhältnis zur Wahrheit nicht, wo man anstrebt, Wahrheit einfach als Übereinstimmung einer Vorstellung mit einer Objektivität zu haben. Das kennt Ahriman nicht. Darum ist es ihm gar nicht zu tun. Durch die ganze Stellung, die ich ja schon öfter charakterisiert habe, die Ahriman hat im Weltenall, ist es ihm wirklich höchst gleichgültig beim Bilden einer Vorstellung, ob diese übereinstimmt mit der Wirklichkeit. Ihm, Ahriman, handelt es sich bei alledem, was er für sich als Wahrheit - wir würden es im menschlichen Zusammenhang nicht Wahrheit nennen -, aber was er für sich als Wahrheit ausbildet, immer um Wirkungen. Es wird nicht etwas gesagt, um mit etwas anderem übereinzustimmen, sondern um zu wirken. Dies oder jenes wird gesagt, damit es diese oder jene Wirkungen hervorbringt.«
(GA 170, Dornach, 28.8.1916)

Damit sind meines Erachtens die активные мероприятия trefflich beschrieben:
Es geht nicht um den Inhalt dessen, was man sagt (oder tut), es geht nicht einmal um wenigstens oberflächliche Plausibiltät (und schon gar nicht um Legitimität) – es geht ausschließlich um die beabsichtigte Wirkung. Wobei oftmalige Wiederholung die Wirkung natürlich steigert...

»Putins Idee, in die amerikanischen Wahlen zu gehen«, wie Aleksandr Dugin es formuliert hat, war von Erfolg gekrönt:
»Now the threat is coming from inside the White House«, wie es in der Dokumentation heißt – Jetzt kommt die Bedrohung aus dem Inneren des Weißen Hauses.
Und Donald Trump wird geradezu als »President Disinformation« bezeichnet: nicht nur, daß er wirkungsvolle fake stories sofort über Twitter verbreitet – er erfindet obendrein seine eigenen. So jemanden hätte sich der KGB damals nicht einmal träumen lassen.
»It’s worse than the Cold War: it was Us versus Them. Now it is Us versus Them, and Us versus Us.« (»Es ist schimmer als der Kalte Krieg: damals hieß es Wir gegen Sie. Jetzt heißt es Wir gegen Sie, und Wir gegen Uns.«)


Dem erklärten Ziel des KGB, den Wirklichkeitsbegriff so zu verändern, daß trotz einer Überfülle von Informationen nichts dabei herauskommt, das vernünftig handlungsleitend sein könnte – diesem Ziel scheint man heute nicht nur in Bezug auf jeden einzelnen Amerikaner, sondern weltweit sehr nahegekommen zu sein.
Mission accomplished, wie man so schön sagt.

Wie einer der für die Dokumentation interviewten ehemaligen KGB-Agenten  es formuliert:
»Fighting war on a battlefield is the most stupid and primitive way of fighting a war. The highest art of warfare is not to fight at all, but to subvert anything of value in your enemy’s country. Anything! Put white against black, old against young… wealthy against poor, and so on... As long as it cuts the moral fibre of a nation, it’s good.
And then you take the country. When everything is subverted, when the country is disorientated and confused, when it is demoralized and disstabilized, then the crisis will come…«
(»Auf einem Schlachtfeld zu kämpfen, ist die dümmste und primitivste Art, Krieg zu führen. Die höchste Kriegskunst ist, überhaupt nicht zu kämpfen, sondern alles im Land des Feindes, das irgendeinen Wert hat, zu verderben. Alles! Setze weiß gegen schwarz, alt gegen jung... reich gegen arm, und so weiter... Wenn es das moralische Gewebe einer Nation zerschneidet, ist es gut.
Und dann nimmst du das Land. Wenn alles zerstört ist, wenn das Land desorientiert und verwirrt ist, demoralisiert und destabilisiert, dann wird die Krise kommen...«)


Es wird Zeit, daß wir uns an die Wiedergewinnung unserer Werte machen – und an die Wiedergewinnung der Wirklichkeit, als Grundlage für die Umsetzung dieser Werte.

–––

1) The KGB Spies Who Invented Fake News https://nyti.ms/2z9KHx0
The Seven Commandments of Fake News https://nyti.ms/2Dk4Kfn
The Worldwide War on Truth https://nyti.ms/2DfZadP

2) https://de.wikipedia.org/wiki/Whataboutism

3) https://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Infektion

4) 13.30 im Video 1: https://nyti.ms/2z9KHx0

5) https://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Infektion#Nachwirkungen

6) https://deutsch.rt.com/uber-uns/

7) https://de.wikipedia.org/wiki/Troll-Armee

8) https://www.zeit.de/2005/17/Putin_Rede

9) divide et impera– eine uralte politische Maxime:
https://de.wikipedia.org/wiki/Divide_et_impera

10) siehe meine beiden Berichte:
Ideen für eine Zukunft Europas?
https://egoistenblog.blogspot.com/2018/04/ideen-fur-eine-zukunft-europas.html
und
Der Liberalismus, die „Vierte Politische Theorie“ und das „christliche Europa“ https://egoistenblog.blogspot.com/2018/05/der-liberalismus-die-vierte-politische.html








Urschleim- Melancholiker und mediale Revolutionen oder: Das Gegenbild der sozialen Plastik

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Manche Dinge ändern sich stetig, manche nie wirklich- vielleicht an der Oberfläche, vielleicht in einer Perspektive, die über die menschliche hinaus reicht.

Manche Innovationen führen zu Rückschlägen, zum Gegenbild dessen, was in der neuen Technik, Ausdrucksweise, Kultur oder in einem gesellschaftlichen Perspektivenwechsel angelegt zu sein scheint. So hat - nach Regis Debrays Betrachtungen (1) zum „Terrorismus des Himmels und der Platz des Todes in unserem Leben“ in Lettre International (2), der auf zartfühlende, sich auf Gott beziehende Terroristen ebenso eingeht wie auf das bizarre Testament des 9/11 Bombers Mohammed Atta, der seine Angehörigen aufrief, sich „nicht vom Leben ablenken zu lassen“ (1), aber auch von den Besuchern seines zukünftigen Grabmals (die ohnehin weder schwanger noch unrein zu sein hatten) verlangte, sich beim vorherigen Waschen ihrer Genitalien mit Handschuhen zu reinigen. So rein, so ideal, so himmlisch fühlte sich dieser Massenmörder bei seiner Tat, dass selbst die Besucher seines Grabes ganz und gar saubere Hände haben sollten. Noch immer gilt beim Mord dieses abgründige "Ich wasche meine Hände in Unschuld".

Aber unser Thema ist nicht die Unschuld, sondern der techno- kulturelle Wandel- es geht darum, dass wir Europäer nach der französischen Revolution in eine rationale Transzendierung des ewigen göttlichen Willens in den Kanon von Krankenkassen- Leistungen übergegangen sind- das Irrationale war zu sehr verbunden mit Rückfällen in die blanke Barbarei- für uns hat sich „die historische Zeit (..) von der kosmologischen Zeit abgekoppelt.“

Dachten wir zumindest. Aber Gott ließ sich nicht sozialisieren. Die „Kraft der Mythen“ (3) kehrte auf vielen Ebenen mit Macht zurück. Nicht zuletzt deshalb, weil der Mensch dazu neigt, zum Absoluten und Nicht- Verhandelbaren zurück zu kehren, wenn die faktischen Probleme nicht zu lösen sind. Die Utopie des Nicht- Faktischen, die „barbarischen Restblasen“ der Fundamentalisten stellen zwar eine „entfesselte kulturelle Balkanisierung“ (4) dar, aber diese identitären Aufwallungen haben eine archaische, kollektive Note, die zu dem Resistentesten in der menschlichen Existenz gehört. Davon sind der blanke Nationalismus und Rassismus nur eine, wenn auch wesentliche Note. Nichts wallt das identitäre Blut besser auf als eine anständige "ethnische Säuberung". Aber das lockende Irrationale, die Rückkehr der gewaltbereiten Götter ist weit gesteckt und bereit, jedem das Seine zu bieten. In diesem weiten Bereich kocht - im fröhlichen Ami- TV- Christentum, bei Ku- Klux- Klan- Freunden des amerikanischen Präsidenten, bei IS- Kämpfern und islamistischen Selbstmord- Attentätern, identitären Glatzen, Chemnitzer Menschenjägern, Ole- Nydahl- Buddhisten und Judith- von- Halle- Anhängern unter den Anthroposophen, der Urschleim im Individuum hoch, der stets ansteckende, kollektivistische Wirkungen hat. Und die hier gemeinte Infantilität ist nicht nur die mitgeschleppte Ur- Suppe, das, was Rudolf Steiner in Bezug auf den Melancholiker so charakterisierte, dass dieser „stets ein von ihm in der Zeit Erlebtes, ein Vergangenes in sich mitträgt“-, dass er ständig in sich „nachschwingen hat“ das, „was er miterlebt hat in vergangenen Zeiten“ (5). Zwar sind wir in dieser Hinsicht alle gefährdete Melancholiker. Aber die tatsächliche Aufstachelung zum fundamentalistischen Ausbruch, zur explosiven wütenden Ekstase, benötigt noch das Rückschlag- Potential eines technologischen Umschwungs, eines Paradigmenwechsels, einer kulturellen Revolution.

Regis Debray sieht in der Gegenwart diesbezüglich zweierlei, was alle „institutionellen Sicherungen durchbrennen“ (4) lässt- zunächst die Möglichkeit der „Vernetzung der wirklichkeitsfremden Schwärmer“, dann eine allzu schlichte, wortwörtliche Interpretation von sakralen Texten wie Koran und Bibel ohne intellektuellen „Zugang zur zweiten, symbolischen Textebene“ (6). Auch die Offenbarung des Johannes lässt sich dann - wortwörtlich aufgefasst- als apokalyptische Handlungsanweisung lesen. Nicht umsonst hat die katholische Kirche lange genug auf das Monopol für die biblische Auslegung gepocht, sie sogar sprachlich in die lateinische Diaspora verbannt, wo die heiligen Texte dem Pöbel verborgen blieben, und die ihr nicht genehmen Interpreten verbrannt wurden. Tatsächlich hat die technische Innovation der revolutionären Protestanten durch den Buchdruck und die Übersetzung der sakralen Texte zu einer kollektiven Do- it- yourself- Interpretation geführt - und somit, im Rahmen der ersten Alphabetisierungs- Wellen in Europa, auch zu fundamentalistischen, wortwörtlichen Auslegungen jeder Art. Jeder verbreitete in seiner post- mittelalterlichen Peergroup die ihm eigene, genehme visionäre Sicht der Dinge und sorgte so zugleich für die verheerenden Religionskriege des 16. Jahrhunderts, die einen Großteil der Bevölkerung betrafen- den Rest erledigte die Pest. (7)

Natürlich haben Alphabetisierung, Buchdruck, und vielseitige Interpretation von sakralen Texten in der westlichen Zivilisation letztlich über Jahrhunderte lang andauernde Auseinandersetzungen zur Aufklärung und zur gesellschaftlichen Komplexität, zur Demokratie und zur Wertschätzung der kulturellen Vielfalt geführt. Aber eben nicht ohne Rückfälle in kollektive Barbarei und hysterische Heilsbewegungen mit kriegerischen Exzessen. Auch die Nationalsozialisten setzten auf die Produktion von „Volksempfängern“ als technologische Wunderwaffe: „Deshalb lag es nahe, dass Goebbels unmittelbar nach dem ersten Schritt, der Gleichschaltung der ohnehin staatlichen zehn deutschen Sendeanstalten, einen einfachen und damit preisgünstigen Empfänger in Auftrag gab. Schon seine Typbezeichnung „VE-301“ zeigte die propagandistische Stoßrichtung: „VE“ stand für „Volksempfänger“ und „301“ für den 30. Januar 1933, den Tag der Machtübernahme der Nazis.“ (8)

Daher ist es wenig überraschend, dass auch das Internet als globales Mittel zur Informationsgewinnung heute in sein Gegenbild verkehrt wird. Das Delirium der Desinformation wird gerade in den sozialen Netzwerken zelebriert, wie auch der Apple- Chef Tim Cook öffentlich anprangert: „Cook zeigt sich nicht nur um die Meinungsfreiheit besorgt. Wenn Daten missbraucht würden, sieht der Apple-Chef gar das friedliche Zusammenleben gefährdet. Länder wie die Vereinigten Staaten oder Deutschland seien zwar so stark, dass ihnen niemand von außen existenziellen Schaden zufügen könne. „Was mir Sorgen bereitet, ist, dass es mit einer Schatztruhe voller Daten möglich ist, die Menschen auf eine Art und Weise zu manipulieren, dass sie irgendwann aufeinander losgehen“, sagte der Nachfolger des legendären Apple-Chefs Steve Jobs.“ (9) Radikale politische Interessengruppen und Sektierer untergraben liberale und demokratische Entwicklungen, anti- liberale Feindbilder werden auf nationalistischen Wellen getragen, als ginge es zum Kreuzzug. Das quasi- religiöse Erregungspotential wird von Populisten bedient. Wieder wird ein Medium, das eigentlich der Informationsgewinnung, Emanzipation und globalen Integration dienen könnte- ebenso wie Buchdruck und Radio-, in den Kurzschluss, die Ideologisierung, eigentlich in das eigene Schattenbild gezerrt.

Manche Dinge ändern sich eben wenig. Andere doch, in kürzester Zeit. Die kulturell- technologisch- medialen Sprünge läuten stets ein anderes Zeitalter ein. Das sieht man, wenn man den gegenwärtigen medialen Wandel mitsamt seinen destruktiven Aspekten betrachtet, auch an Kommunikation- Analytikern wie Vilem Flusser, der vor 20 Jahren (1998 herausgegeben) in seiner „Kommunikologie“ (10), einer Theorie menschlicher Kommunikation „von der Höhlenmalerei bis zur Kommunikation in Computernetzen“ (10) deutlich unterschied zwischen „linearen Texten“, die immer noch gelesen und aktiv entschlüsselt werden müssen einerseits und programmierten, „massifizierten“ Codes der Massenkultur auf der anderen Seite, die als „Technobilder“ (11) wirksam sind, ohne dass der Konsument sich wehren könnte. Werbung und Propaganda gestalten und formen den Menschen der Massenkultur. Bücher und Zeitschriften dagegen kultivieren den denkenden, reflektierenden Menschen, der den Texten sowohl als auch sich selbst gegenüber innerlich einen Schritt zurück tritt: „Der Leser von linearen Texten steht den Texten gegenüber: er transzendiert sie. Das ist, was mit „Denken“ gemeint ist: ein Zurücktreten und dann ein Sich- beugen über das Zubedenkende. Das heisst, wer liest, steht außerhalb des Gelesenen und sieht sich gewissermaßen zu, während er liest. Aber eine solche Reflexion ist Technobildern gegenüber unmöglich“ (12). Die manipulativen „Technobilder“ Flusses dagegen „umgeben den Empfänger, er ist in sie getaucht, „befindet sich mitten unter ihnen““ (12). Der Mensch der Massenkulturen wird „Spiegel von Spiegeln - Spiegel einer Welt, die durch Technobilder kodifiziert wird“ (12).

Diese Überlegungen Flusses sind, eine Generation und eine mediale Revolution später, offensichtlich obsolet geworden. Die sozialen Netzwerke haben genau diese Unterscheidung zwischen reflektiertem und nur bespiegeltem medialem Konsum aufgehoben; der Leser, der auf seinem Smartphone agitierende Botschaften eines Twitter- Agitators, einer Facebook- Gruppe, einer Peergroup auf WhatsApp empfängt, reflektiert beim Lesen nicht mehr. Die medialen, vernetzten Echo- Kammern bedienen genau den Spiegel- im- Spiegel- Effekt, die Flusser vor rund 30 Jahren noch exklusiv den Botschaften der Technobilder- Welt entsteigen sah. Heute produziert der Leser innerhalb der medialen Spiegelwelten selbst Nachrichten und emotionale Botschaften- er verlängert den Spiegeleffekt damit ins Unendliche. Zur selben Zeit wie Flusser hat auch Joseph Beuys sein (sich auf Novalis beziehendes) Credo - Jeder Mensch ist ein Künstler - als „Bewusstsein für die eigene schöpferische Kraft, welche im eigenen Denken begründet liegt“ (13) formuliert. Dieser Autonomie und Souveränität des Denkens ist durch die sozialen Medien ein so mächtiger Gegner entstanden, weil aus dem „Jeder Mensch ein Künstler“ ein „Jeder Mensch ein Propagandist“ geworden ist- die medialen Spiegelwelten rühren den archaischen Urschleim auf- sie befördern keinesfalls das von Flusser noch so explizit hoch gehaltene reflektierte individuelle Denken, das in seine Reflexion auch sich selbst einbezieht. Die sozialen Netzwerke wie Twitter, Facebook, WhatsApp und Instagram werden so zum diametralen Gegenbild zu dem, was Joseph Beuys unter „sozialer Plastik“ begriff: „Eine Soziale Plastik ist jederzeit formbar, sie erstarrt nur, wenn das Denken aufhört – wenn man gedanklich leblos wird. Beuys fordert die Kreativität und aktive Teilnahme aller Menschen, um die soziale Gemeinschaft zu transformieren und zu verbessern.“ (13)

Die „Teilnahme aller Menschen“ haben wir eine Generation später erreicht, aber sie hat die „soziale Gemeinschaft“ technologisch völlig korrumpiert, da die reflektierte Kreativität durch Gerüchte, Lügen, politische Agitatoren und propagandistische Aktionen in einem globalen Maßstab durchsetzt worden ist. Nichts bildet das Versagen sozialer Medien wie Facebook besser ab als die Geschichte ihrer Instrumentalisierung durch das buddhistische Regime in Myanmar, das damit die ethnische Vertreibung und Ermordung der Rohingya organisierte- und sowohl das Medium wie seine buddhistische Bevölkerung instrumentalisierte: „The report highlights yet another case of Facebook struggling to manage the rapid spread of hate and misinformation across one of its platforms — and the impact of those failings on society.
The United Nations has called for Myanmar's military leaders to be investigated and prosecuted for genocide, crimes against humanity and war crimes following a campaign of persecution and killing of Rohingya. The violence forced more than 700,000 people to flee their homes in northwestern Myanmar to settle in refugee camps in neighboring Bangladesh.“ (14) Aber seien wir doch ehrlich. Das geheuchelte Bedauern der Facebook- Verantwortlichen ist doch lachhaft. Nichts befeuert ihr Geschäft besser als massenhafte Hetze und erregtes Hass- Speech. Hass befördert die Klick- Zahlen wie nichts anderes. Auf diesen Erregungswellen, die Myanmar vergiftet haben, gelangen Politiker heute an die Macht, werden Regime gestürzt und wird Geheimdienst- Arbeit geleistet.

Freilich, das reflektierte Denken Vilem Flussers ist dabei ebenso wie die soziale Plastik von Joseph Beuys zu Schaden gekommen; die „entfesselte kulturelle Balkanisierung“ (Regis Debray) schreitet voran.


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Verweise


1 Regis Debray Der tote Winkel. Der Terrorismus des Himmels und der Platz des Todes in unserem Leben S. 07 in (2)
2 Lettre International 123 Winter 2018
3 Regis Debray S 8
4 Regis Debray S 9
5 Rudolf Steiner, Welche Bedeutung hat die okkulte Entwicklung des Menschen für seine Hüllen und sein Selbst? Dornach 1976, S. 73
6 Regis Debray, S. 10
7 Auch dies vermutlich eine Folge des damals bereits globalen Handels - mit Pelzen, in denen die Ansteckung transferiert werden konnte: „Auf einem genuesischen Schiff kam der Schwarze Tod 1347 nach Europa. Eine neue Genom-Studie liefert eine Antwort darauf, was die Seuche aus Asien nach Europa trieb: der lukrative Handel mit Pelzen.“ https://www.welt.de/geschichte/article184760046/Seuchen-Mit-diesem-Luxusgut-kam-die-Pest-nach-Europa.html
8 DIE WELT: Goebbels’ beste Idee war der Volksempfänger https://www.welt.de/geschichte/article119046691/Goebbels-beste-Idee-war-der-Volksempfaenger.html
9 Tom Cook warnt vor dem Manipulieren von Daten: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/diginomics/apple-chef-tim-cook-warnt-vor-datenmissbrauch-15942008.html
10 Vilem Flusser, Kommunikologie, 2007/4 Flusser ist aber schon 1991 gestorben
11 Flusser, S. 66 ff
12 Flusser, S. 68
13 https://modernperformanceart.wordpress.com/joseph-beuys-jeder-mensch-ist-ein-kuenstler/
14 https://edition.cnn.com/2018/11/06/tech/facebook-myanmar-report/index.html

Das Mysterium der Inspiration

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Im Alltag. Und in der Kunst

Ingrid Haselberger


Jeder Sänger, und natürlich auch jeder Gesangsstudent, kennt das Problem: wir wollen eine längere Phrase singen, und mittendrin stellen wir fest, daß uns „die Luft ausgeht“. Wir müssen eine unfreiwillige und vielleicht sinnentstellende „Atempause“ machen, manchmal mitten im Wort – und natürlich versuchen wir, damit uns das nicht passiert, alles Mögliche, um einen „längeren Atem“ zu bekommen.
Zu diesem Zweck wurden verschiedene Atemübungen ersonnen – manche Gesangslehrer schlagen sogar vor, nach kräftigem Einatmen (Sich-Mit-Luft-Anfüllen) mit der Stoppuhr zu üben, das Ausatmen so lange wie nur möglich auszudehnen...
Bei vielen dieser Übungen denke ich an diese Worte Rudolf Steiners:

»Leider werden heute vielfach leichtfertige Anweisungen auf diesem Gebiete gegeben, und wer diese Dinge versteht, blickt mit Grauen darauf, daß zahlreiche Menschen sich heute mit Atemübungen abgeben, ohne genügende Vorbereitung vorgenommen zu haben. Dem Geistesforscher erscheinen sie wie Kinder, die mit dem Feuer spielen.« 
(Makrokosmos und Mikrokosmos– GA 119)

Nicht nur spielen wir mit dem Feuer und können uns ernstliche Schwierigkeiten einhandeln mit ganz und gar materialistisch aufgefaßten Atemübungen, bei denen es ausschließlich um Luft geht.
Sondern wenn wir schließlich von den Atemübungen zur Arbeit an einem Lied oder einer Arie übergehen, müssen wir obendrein oft feststellen, daß wir trotz all dieser Übungen bei schwierigen oder auch nur ungewöhnlichen Phrasen noch immer das Gefühl haben, „mit unserer Luft nicht auszukommen“...

Das liegt daran, daß das Atmen nicht ein rein physischer, materieller Vorgang ist, sondern ein seelisch-geistiger.
In den alten Sprachen ist uns das noch deutlich: griechisch πνεῦμα, lateinisch spiritus und hebräisch ruach– diese Worte bezeichnen sowohl den menschlichen Atem als auch den Geist. Und auch altgriechisch ψυχή, lateinisch anima– was wir heute mit „Seele” übersetzen – schließen ursprünglich die Bedeutung „Atem” in sich ein.

Und so gelingt es uns erst dann, unsere lange Phrase „auf einem Atem“ zu singen, wenn wir sie vollständig seelisch-geistig vorausempfinden. Unser „inneres Ohr“ läßt sich so schulen, daß wir voraushören, was wir singen werden, sodaß sich unser Einatmen danach gestalten kann.
Denn nur das, was wir eingeatmet haben, können wir singend wieder ausatmen.

Aber es ist nicht leicht, einen ganzen langen Satz, der nach Text und Melodie festgelegt in den Noten steht, als „Vorausgehörtes“ in unsere Seele zu bekommen und dort (mitsamt den zugehörigen Gefühlen!) lebendig zu erhalten, bis wir zu Ende gesungen haben. Das erfordert ein Maß an Konzentration, das aufzubringen wir zunächst nicht gewohnt sind.

Und doch gehen die meisten von uns, selbst dann, wenn sie nicht Sänger sind, im Alltag mit diesem Problem ganz selbstverständlich um.
Wenn wir einmal erlebt haben, wie schwierig es ist, uns dazu zu bringen, eine längere Phrase ganz bewußt so „vorzufühlen“, daß wir „mit der Luft auskommen“, dann können wir uns nur wundern, wie leicht es uns normalerweise gelingt, jederzeit genügend Atem zu haben für die Sätze, die wir sprechen...

Beobachten wir uns selbst beim Sprechen, so staunen wir noch mehr, denn uns wird bewußt, daß wir beim Einatmen meist noch gar nicht wissen, wie unser Satz vollständig lauten wird. Wir haben, wenn wir zu sprechen beginnen, nur die ersten Worte im Bewußtsein. Den Rest des Satzes lernen wir meist selbst erst kennen, indem wir ihn aussprechen!

Umso größer ist das Wunder, daß wir dennoch normalerweise mit unserem Atem auskommen, ohne mitten im Satz nach Luft ringen zu müssen: Wie können wir wissen, wieviel Luft wir brauchen werden, wenn wir doch unseren Satz noch gar nicht vollständig kennen?

Wir wissen es auch gar nicht. Es ist uns ganz unbewußt:
»Denn die göttlich-geistigen Wesenheiten selber waren es, welche aus ihrer Wesenheit heraus den Atmungsprozeß modifizierten, um den Menschen aus einer niederen Stufe zu einem sprachbegabten Wesen zu machen, und sie mußten, weil der Mensch dazu nicht reif ist, die Sprache nicht in die Willkür seiner Individualität stellen, sondern sie mußten sie außerhalb derselben stellen.« (a.a.O.)

Wir befinden uns hier, mitten in unserem Alltag, bereits im Reich der Inspiration (wörtlich: Einatmung).

Moderner Mensch mit Inspirator unserer Kultur
(links davon Orpheus mit der Leier)
aus der Deckenmalerei der kleinen Kuppel
des ersten Goetheanums,
Quelle: anthrowiki
Zugleich mit den Gedanken, die wir später aussprechen, wird uns auch der Atem „eingehaucht“:
»Durch unseren Kehlkopf strömt aus dem Makrokosmos das herein, was höchster Geistausdruck ist. [...] Und Gott hauchte dem Menschen ein den lebendigen Odem, und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen. – Mit diesen Worten wird hingedeutet auf den Moment, wo das Göttlich-Geistige eingeatmet wird aus dem Makrokosmos. Mit dem Herzen ist das Menschliche im Zusammenhang, mit dem Kehlkopf das Göttliche.« (a.a.O.)

Und so können wir, indem wir uns bewußtmachen, was beim gewöhnlichen Sprechen in uns geschieht, erkennen, daß wir hier den Keim in uns tragen zu einer der höheren Erkenntniskräfte der Seele.

Normalerweise bemerken wir das kaum: wir dämpfen unser Bewußtsein während des Einatmens herab, um den Inspirationsvorgang nicht zu stören, und konzentrieren uns nicht auf den Vorgang des Atmens, sondern auf das Wahrnehmen des Gedankeninhaltes beim ausatmenden Aussprechen.
Als Sänger aber, oder allgemein als reproduzierende Künstler, ist es unsere Aufgabe, nicht unserer eigenen Inspiration Ausdruck zu verleihen, sondern der Inspiration des Komponisten, des Dichters, des Dramatikers auf die Spur zu kommen.
Dazu müssen wir zunächst unsere eigenen Gedanken und Gefühle „überwinden“ und uns ganz auf die Hinweise konzentrieren, die uns beispielsweise ein Komponist in Gestalt der Notenschrift hinterlassen hat.
Es ist natürlich nicht immer einfach, das Verlangen nach „eigener Inspiration“ zu überwinden. Und es genügt auch nicht, das einmal zu tun, in gedanklicher Durchdringung des schriftlich festgehaltenen Werkes.
Sondern wir müssen es bei jeder Aufführung von neuem tun – »Siehe: ich mache alles neu!« (Offenbarung 21.5)

Dazu sind in einem Musikstück die Pausen da.
Sie sind nicht etwa Zeiten des „Abschaltens“, sondern es sind Zeiten höchster geistig-seelischer Aktivität: in diesen schöpferischen Pausen atmen wir die jeweils nächste Phrase ein, nicht unbewußt wie beim alltäglichen Sprechen, sondern sehr bewußt, voraus-sehend und voraus-hörend, so leuchtend und farbig wie nur möglich...

Wenn uns das gelingt, sind wir bewußt im Reich der Inspiration – und bekommen auch eine Ahnung davon, wie der Künstler selbst zu seinem Werk gekommen ist:

»Wenn es dem Menschen gelingt, das, was er in seinem gewöhnlichen Leben aus seiner Verstandes- oder Gemütsseele gemacht hat, zu unterdrücken, dann geht an den Platz dessen, was als gewöhnliches Denken, als Verständigkeit und auch als gewöhnliches Gemütsleben für den physischen Plan in dem Menschen lebt, die Inspiration, da verwandelt sich die Verstandes- oder Gemütsseele in die Inspirations- oder inspirierte Seele. Die inspirierten Werke der Kultur sind in die verwandelte Verstandesseele herein inspiriert worden.« 
 (Rudolf Steiner: Vortrag in den Haag, 29. März 1913 - GA 145)


 Veröffentlicht in der Ausgabe 36, „Übergänge - Zwischenräume“
 der Zeitschrift

Aufstieg und Fall eines anthroposophischen Gurus

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Variante des Gurus mit Haar
Das waren noch Zeiten, als Sebastian Gronbach sich weiter Teile der liberalen anthroposophischen Szene gewiss sein konnte, da er in der anthroposophischen Zeitschrift Info3 einen Part inne hatte, die Denkgewohnheiten gestandener Anthroposophen zu irritieren - im Duett mit Felix Hau, der den neo- liberalen Part übernahm und dem Philosophen Christian Grauer, der das Ganze intellektuell zu untermauern versuchte.

Dann wurden die Töne schriller, der damals stark expandierende US- Guru Andrew Cohen erleuchtete die halbe Redaktion, die von da an - eine Zeit lang- sein Loblied sang. Der Haus- und Wiesendoktor, der sich „Gesundheitsdoktor“ nennt, schwärmte von seinen asiatischen Quellen, und eine radikale Entfremdung der Protagonisten von der anthroposophischen Bewegung setzte ein, die von Hau auch so formuliert wurde. Man hatte sich innerlich und äußerlich an Ken Wilber und Andrew Cohen orientiert. Während die Zeitschrift sich allmählich fing und mit der Zeit wieder zu dem Informationsmedium No 1 für Waldorfbewegung und anthroposophische Szene wurde, erfuhr Sebastian Gronbach eine offenbar krachende Erleuchtung im Stil und Duktus der genannten US- Gurus, deren Stern allerdings spätestens nach Gewalt- und Missbrauchs- Vorwürfen gegenüber Cohen bis dahin sank, dass die eigene Bewegung ihn vor der Tür setzte und die ganze Guru- orientierte Enlightenment- Branche sich wandelte.

Gronbach dagegen wurde in Büchern und Blogs nicht müde, mehr oder weniger peinliche Verlautbarungen seines Geisteszustandes zu verkünden, die in ihrer Hybris nicht selten unfreiwillig komisch waren. Er war Prophet - wenig originell- wie so viele Gurus dieser „integralen“ Szene-  des neuen,. "erwachten" Menschen eines neuen "erwachten" Zeitalters und inszenierte sich selbst dabei auch als Verkünder der dazu passenden neuen "erwachten" Anthroposophie. Nachdem sowohl die integrale Szene wie auch die bislang faszinierten Neo- Anthroposophen eine gewisse Ernüchterung und Neu- Orientierung zeigten, die im Fall der Integralen eine Suche nach spirituellen Quellen der ganzen Welt, aber auch eine „Höheres Wir“ (emerge- Das Entstehen neuer Räume) anstrebten, ging Gronbach in eine andere Richtung und gründete einen eigenen Ashram, der einen gewissen Presse- Nachhall mit sich führte.

Sein Versprechen, das er in zahlreichen Interviews auch bei YouTube und in einem Buch abgab, war, dass in ihm ein neuer Typ von Guru entstünde, der selbstreflektiert und kritisch sei, und daher die Fallen der primitiven Autoritätsverhältnisse dieser Branche umgehe. Allerdings zeigte das hinduistische Walli- Walla seiner Meditationen wie auch die Tatsache, dass die Jünger ihn auf einem Schrein zu verehren hatten, dass es mit der Selbstreflexion wohl nicht weit her sein konnte. Die ersten Aussteiger berichteten von einem durchgängig autoritären Stil. Diese Hybris zeigt sich bis heute ja auch in den von ihm präsentierten Homepages wie die, auf die sich die obere Veralberung bezieht: Sacred Human. The Religion of Tomorrow Movement. Die Klischees, die einer beliebigen Werbebroschüre für New Age- Guruismus entstammen könnten, ziehen sich mitsamt der extremen Hybris durch die ganze Seite, immer in einem Stil, der banal pseudo- authentisch daher kommt: „Spürst Du es? Unbekannte Welten, die es zu entdecken gilt, neue Arbeit, die getan und zarte Herzensgeheimnisse, die offenbart werden wollen. Wunden, die darauf warten, in Weisheit verwandelt zu werden. Diese Freiheit, die Dir gehört, wenn Du beiseite trittst und erlaubst, dass all das zum Durchbruch gelangt.
Sacred Human. Folge der Witterung.

Spürst Du es? Ja, ich spüre den gewitzten Autoverkäufer oder Staubsaugervertreter. Inzwischen scheint aber auch das Konzept des Ashrams in die Brüche zu gehen. So ein Guru muss halt irgend wann liefern, was er verspricht. Da geht es ihm wie VW mit seinen Abgasnormen. Einer von Gronbachs engsten Mitarbeitern, Joachim Joas, der bekannte Protagonist von iBuddhismus, setzte sich nicht nur von „Little Green River“ (anthroposophischer Spitzname für Gronbach) ab, sondern machte das Scheitern des Ashrams auch- im „Integralen Forum“ bei Facebook und auch in meiner kritischen anthroposophischen Facebook- Gruppe No Bullshit Anthroposophie öffentlich. Joas entschuldigte sich in seinem öffentlichen Brief gegenüber integralen Freunden, da er eine ganze Zeitlang so brachial für die Belange von Gronbach gekämpft hatte: „Nachdem ich nun aus der Gronbach Gruppe „Sacred Human“ ausgestiegen bin, kann ich nur fassungslos den Kopf über mich und diesen Guru schütteln und sagen, wie unendlich leid es mir tut, mich auf diese Weise verhalten zu haben. Natürlich, ich kann sagen, ich war im Bannstrahl eines manipulativen Menschen, und ich kann sagen, ich wurde auch ermuntert und ermutigt dieses Verhalten an den Tag zu legen - doch all das nimmt mir nicht die Verantwortung von den Schultern. Es tut mir aufrichtig leid, wie ich mich verhalten habe und da ist viel Scham und Bedauern in mir, wenn ich die Texte lese, die damals geschrieben wurden.“

Den schlichten Guruismus, den Gronbach auslebte, sieht Joas als gescheitert an: „Heute kann und muss ich als Psychologe sagen, dass das Projekt „integral-evolutionärer Guru“ gnadenlos gescheitert ist. Es kam stattdessen so, wie so ziemlich alle integralen Kritiker es vorausgesagt haben. Man merkt es schon an den Zahlen: Den Höhepunkt hatte diese Gruppe mit 70 Schülern, mittlerweile sind es nur noch 35 - diese „religiöse Bewegung“ hat ihre Integrität und Aufrichtigkeit verloren.“ Die Behauptung, ein sich selbst korrigierender, integrer Lehrer in einem dauernden gemeinsamen Lernprozess mit Adepten sei das grundlegende Konzept dieses Gurus, hat sich nicht bewahrheitet: „Es wurde tatsächlich ein Setting erschaffen, in dem keinerlei Kritik gegenüber Sebastian Gronbach und auch nicht gegenüber seiner Frau Fedelma, geäußert werden darf. Alle Kritiker werden verbannt und ausgeschlossen."

Der Hellseher Little Green River entpuppt sich in der Praxis als ordinärer Guru klassischer Form, die sich wie an einer langen Schnur durch die Esoterik- Szene ziehen, einer wie der andere: „Und ja, so ist es gekommen. Das ganze System „Sacred Human“ basiert auf einem mythologischen, prärationalen Glauben, der nicht hinterfragt werden darf. Dabei werden dem Guru Kräfte wie „hellseherische Fähigkeiten“ und „die Kraft, das Karma eines anderen Menschen zu sehen“ zugeschrieben, was Gronbach fundamental von einem Normalsterblichen unterscheidet.
Um diesen mythologischen Kern bildet sich eine kleine Gruppe von Anhängern, die unhinterfragt, diese regressive Lehre in die Welt bringen will.“

Gronbach als später Anthro

Man kann Joas für die aufrichtige, reflektierte Veröffentlichung nur danken. Es ist zu hoffen, dass nicht noch mehr Menschen zu Anhängern des reaktionären und spirituell fragwürdigen autoritären Lehrers Gronbach werden. Auch andere Ex- Mitglieder des Ashrams berichten Ähnliches auf der Facebook Seite Integrales Forum.

Was soll man Gronbach wünschen? Vielleicht kann ihm das Arbeitsamt einen adäquaten Job anbieten? Vielleicht geht er als klassischer anthroposophischer Vortragsreisender durch? Vielleicht sucht er sich einen Job in der Werbebranche? Wir sind gespannt.

Das reine Denken, michaelisch erfasst

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Aus gegebenem Anlass hier einen egoistischen Comic aus dem Jahr 2007. Ja, manche Dinge ändern sich nie.

co Michael Eggert

Rudolf: Meine ganz persönliche „Aktion Syrien“

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Altstadtbummel in Damaskus
Meine ganz persönliche „Aktion Syrien“ war alles in allem ein sehr aufschlussreiches und unbeschreiblich intensives Erlebnis. In wirklich jeder Hinsicht. Touristisch wie menschlich – und auch geistig, im Sinne des auch angestrebten eigenen Bildes über den Syrien-Konflikt.

Ich möchte keine Details über die Gruppe preisgeben, die ihre Tour seit einem halben Jahr gründlich vorbereitet hatte und mir und einer weiteren Person aus Südtirol die Möglichkeit geboten hat, mitzureisen – buchstäblich in letzter Minute, und bis zur effektiven Einreise ohne jegliche Garantie. Das Einreisevisum wurde erst an der Grenze erteilt, da ein Ansprechpartner in Syrien eine Einladung kurzfristig an die betreffende Grenzstation geschickt hatte. Dazu war es notwendig, dass die gesamte Gruppe einen Umweg zu einem kleineren Grenzübergang in Kauf nahm, der angeblich „einige Besonderheiten“ aufweist. Die übrigen Mitglieder der Gruppe verfügten über ein bereits 6 Monate im Voraus beantragtes Touristenvisum – ja, auch das gibt es, wenn es auch kaum erteilt wird, da die Regierung anscheinend sehr negative Erfahrungen mit alleine im Land herumreisenden Ausländern gemacht hat.

Insgesamt 15 Teilnehmer aus 3 Ländern hatten auf Initiative einer Person mit ausgezeichneten Kontakten in Syrien ein Programm zusammengestellt und reisten 12 Tage lang durch den von der Assad-Regierung beherrschten Teil Syriens.

Die im Voraus geplanten Programmpunkte waren:
Der Besuch einer christlichen Gemeinde, mit der wir den Palmsonntag (in der orthodoxen Kirche zeitgleich mit unserem Osterfest) feiern durften, und mit der wir Gespräche führten über mögliche Unterstützungen ihrer Tätigkeiten,
eine „touristische Rundreise“ (wenn auch mit gewissen Einschränkungen),
und ein Zusammentreffen mit Vertretern von Religionsgruppen und Glaubensgemeinschaften sowie in Syrien lebenden Ausländern.




Innenhof der Omajaden-Moschee
Das Erleben der touristischen Sehenswürdigkeiten – die Städte Damaskus, Tartous, Latakia, Hama, Kvarbou und weitere kleinere Orte, archäologische Stätten wie die Kreuzritterburg „Krak de Chevaliers“, Ugarit, und Amrid – und auch das persönliche zufällige und keinesfalls geplante und programmierte Zusammentreffen mit ganz gewöhnlichen Menschen bildeten die Höhepunkte dieser unbeschreibbar erlebnisintensiven Reise.
Aus Sicherheitsgründen waren der geplante und auch zugesagte Besuch eines russischen Militärstützpunktes, sowie die heißersehnte Fahrt nach dem absoluten touristischen Highlight, der Wüsten-Ruinenstadt Palmyra, letztlich doch nicht möglich.

In den 12 Tagen in Syrien trafen wir lediglich einen einzigen (!!) „echten Journalisten“, eine „free lancerin“ aus Spanien (geradezu todesmutig von der alleine reisenden Dame) und ebenfalls einen einzigen (!!) anderen „echten Touristen“, einen Russen.

Die Reise hatte keinen offiziellen Charakter, d.h. sie war weder von einer europäischen Regierungs- oder sonstigen Stelle, noch von der Assad-Regierung offiziell eingefädelt oder genehmigt. Demzufolge wurde auch kein von der Regierung vorgegebenes Programm absolviert, sondern nur das eigene selbst vorbereitete und geplante. Dieses war schon aus Sicherheitsgründen nicht auf den Tag genau festgelegt und ließ Abweichungen zu, um der schwer vorhersehbaren Lage vor Ort besser Rechnung tragen zu können.


Bewegungen im Land waren grundsätzlich frei möglich, wenn auch fast immer dem gemieteten Bus an den Ausfallstrassen aus den Ortschaften, d.h. von einem Kontrollpunkt zum anderen, eine bewaffnete Eskorte von Militärangehörigen der Assad-Armee oder anderen Sicherheitskräften beigestellt wurde. Die Begleitfahrzeuge wurden immer am nächsten Kontrollpunkt gewechselt. Die Militärs waren durchwegs überaus freundlich und sehr besorgt um die Sicherheit der Gruppe.

Oft mussten, um möglicherweise von Islamisten durchsetzte Gebiete zu umfahren, zeitraubende Umwege in Kauf genommen werden.
Beispielweise war ein kurzer Abschnitt der Autobahn Aleppo-Damaskus immer noch in der Hand einer Terrorgruppe, was statt der 15 Minuten, die nötig gewesen wären, um diesen Abschnitt zu durchfahren, einen stundenlangen Umweg über Bergstraßen erforderte.
Über ein so gut wie überall (fast unbegreiflicherweise) ausgezeichnet funktionierendes Handy-Netz (auch Auslandsgespräche und Internet sind nirgendwo ein wirkliches Problem) tauschen alle Menschen ständig Infos über die überall naturgemäß volatile Sicherheitslage aus.

Das aus direkter Erfahrung gewonnene Bild von Syrien weicht erheblich von jenem ab, das in unseren Köpfen aufgrund der einseitigen und auslassenden Berichterstattung existiert.



touristisches Motiv ohne Touristen
auf Touristen wartender Laden




Ausländer zahlen mehr

Sehr viele Einheimische, mit denen wir spontan zusammentreffen und sprechen konnten, freuten sich unbeschreiblich über die Anwesenheit einer Touristengruppe, nahmen uns regelrecht in die Arme und hießen uns unendlich willkommen. Man merkte es ihnen an, wie unendlich wichtig für sie dieses kleine Normalisierung versprechende Zeichen war, das wir mit unserer Reise setzten. Außerhalb der Hauptstadt versicherten sehr viele Menschen uns glaubhaft, seit mindestens 6 Jahren keine Ausländer mehr gesehen zu haben.




nicht erwünschtes Christkind

Alle sprachen die Hoffnung aus, dass der Krieg bald vorbei sein möge, allerdings – und das ist das Überraschende und Unerwartete – nicht durch Zusammenbruch der Assad-Regierung, wie es uns in unseren Medien als „ersehnter Volkswille“ immer verkauft wird, sondern durch die endgültige Vertreibung aller Terrorgruppen. Es wurde ausschließlich von Terrorgruppen und Kriminellen gesprochen, die schuld an allem Übel seien.

Viele Syrer erzählten uns von Greueltaten, die sie selbst oder enge Freunde oder Familienmitglieder erlebt hatten. Besonders schlecht kam dabei die freie syrische Armee (FSA) weg, die laut Meinung all derjeniger, die sich dazu äußerten, nicht einmal aus irregeleiteten Glaubenskämpfern bestünde, sondern vorwiegend aus reinen Kriminellen und Deserteuren. In Maloulla, einem christlichen Ort mit einem sehr berühmten, in eine steil abfallende Felswand gebauten Kloster, konnte man die durch die Islamisten angerichteten Schäden noch deutlich sehen. Auf Christus- und Mariendarstellungen wurde geschossen, die Gesichter entstellt.

Die Menschen erzählten uns von dem Leid der Klosterfrauen, und dass viele christliche Zivilisten umgebracht worden waren oder aus der Ortschaft fliehen mussten – dass die Geflüchteten aber heute, nach der Befreiung vom islamistischen Terror, zum Teil wieder zurückgekehrt sind.

Sie erzählten auch von den von der Assad-Regierung geförderten „Wiedereingliederungsprogrammen“ zugunsten jener Minderheit unter den Moslems, welche anfänglich mit den Islamisten kooperierten, dann aber fliehen mussten und nun reumütig in ihre Häuser zurückkehren möchten, weil sie bemerkt haben, daß die islamistischen „Rebellen“ und „Kämpfer“ nicht für eine Verbesserung ihrer Lebensumstände stehen, sondern für tiefstes Mittelalter – sofern sie nicht überhaupt aus entleerten Gefängnissen weiter Teile der Welt stammen. Diese Wiedereingliederung stellt eine für alle Beteiligten nicht gerade leichte Herausforderung dar.

Mit internationaler Hilfe ist zur Zeit auch schon der Wiederaufbau von niedergebrannten Kirchen und zerstörten Kulturdenkmälern im Gange, auch für den ausländischen Besucher ein deutliches Zeichen der Normalisierung. Im Kloster von Maloulla und den dortigen Kirchen berichteten uns die Aufsichtspersonen, wie es ihnen gelungen war, beim Anrücken der Terroristen bewegliche Kulturgüter noch schnell in Sicherheit zu bringen und damit vor Zerstörung und Diebstahl zu bewahren.

Überall erlebten wir eindeutige, angesichts der geschilderten traumatischen Erfahrungen mit islamistischem Terror auch durchaus nachvollziehbare, pro-Assad Stimmung. Und zwar unabhängig davon, ob es sich bei den Gesprächspartnern um Christen oder Moslems handelte.

Wenn Vorwürfe gegen das Assad-Regime laut wurden, betraf es nicht die von westlichen Medien kolportierte „Abschlachtung des eigenen Volkes“, sondern so gut wie immer die Amnestie, welche Assad denjenigen aus den Islamisten-Gebieten zurückkehrenden oder gefangen genommenen syrischen Kämpfern gewährt, die sich zunächst von den Islamisten als Söldner anwerben ließen, dann aber zurückkehrten. Denn schließlich hätten diese ja aufs eigene Volk geschossen und müssten eigentlich dafür hart bestraft werden.


Die Bevölkerung betrachtet Assad als Garant für Stabilität und kulturell-fortschrittliche, einigermaßen an westlicher Kultur orientierte und an westlichen Grundsätzen ausgerichtete Politik – während die Islamisten, auch wenn sie vom Westen finanziert bzw. sonstwie unterstützt werden (auch das ist den meisten Einheimischen sonnenklar), als kulturelle wie politische Rückwärtsentwicklung wahrgenommen werden.







Assad ist allgegenwärtig















Vor allem gebildete Syrer ließen durchblicken, dass ihrer Ansicht nach der Westen ganz klar versagt hätte, dass er – mit Verweis auf das in Afghanistan, Lybien und dem Irak hinterlassene Chaos – offenbar nicht in der Lage sei, dem syrischen Volk vernünftige Perspektiven zu bieten und dem Land Freiheit, Wohlstand und Demokratie zu bringen.

Der westlichen Lesart, wonach der Westen ebenfalls Krieg gegen die Islamisten führe, begegnete man mit Unverständnis und tiefer Ablehnung dieser Sichtweise.

Der Konflikt ist für die allermeisten Menschen kein Bürgerkrieg, sondern die berechtigte Reaktion der Regierung auf einen kriminellen und völkerrechtswidrigen Überfall von hauptsächlich ausländischen bzw. auslandsunterstützen Terrorgruppen und Kriminellenbanden.

Die Menschen wünschen sich Freiheit und weitgehend auch westlichen Lebensstil. Ich habe vor allem in Damaskus, aber auch anderswo, Frauen alleine in Bars sitzen gesehen, westlich gekleidet, aufgeputzt und geschminkt, in kleinen Gruppen, manchmal auch nur zu zweit (tagsüber sogar alleine), welche sogar noch nach 23 Uhr abends ohne Männerbegleitung Alkohol trinken und Wasserpfeife rauchen. Das gibt es kaum in Europa.

Für dieses westlich inspirierte Lebensmodell steht in den Augen der Syrer nur Assad, und es verwundert nicht, dass die Vereinnahmung durch Islamisten zutiefst abgelehnt wird.

Natürlich fragten wir uns, warum dies niemals journalistisch in den westlichen Medien kolportiert wird. Der so eklatante Widerspruch, in dem sich der Westen befindet, wenn er auf der einen Seite Assad als „üblen Diktator“ verteufelt, auf der anderen Seite aber den Menschen dort keine Alternativen bietet, trat hier offenkundig erlebbar hervor und stand immer wieder im Raum und in der Diskussion.

Denn die Islamisten und anderen Terrorgruppen sind sicher keine Alternative. Die Menschen fühlen sich im Stich gelassen, und sie kennen das auch uns wohlbekannte Schicksal der Bevölkerungen in den vom Westen als Horroszenarien dargestellten Diktaturen, die später „befreit“ wurden, aber heute immer noch von warlords beherrscht werden. Immer wieder fallen die Verweise auf Afghanistan, Libyen und den Irak.

Viele Einheimische sprechen es aus, dass nicht Assad-Syrien das undemokratischste, politisch und kulturell rückschrittlichste arabische Land ist, oder der Irak und Libyen dies waren, sondern die mit dem Westen engstens kooperierenden absoluten Monarchien à la Saudi-Arabien und die Ölscheichtümer. 






Jedenfalls war es sehr erhellend, mit eigenen Augen zu sehen, dass längst nicht ganz Syrien niedergebombt ist, wie durch das einseitige und alleinige Zeigen in Schutt und Asche liegender Straßenzüge im Fernsehen suggeriert wird. Die Versorgungslage ist ausgezeichnet – wenn natürlich auch die Wirtschaft als Folge des Krieges und des damit verbundenen Flüchtlingselends leidet, mit dadurch hervorgerufener Armut und sehr niedrigen Löhnen.

In den Städten findet man überall belebte Straßen, in Damaskus sogar extremen Verkehr mit Staus, gut besuchte und von Waren überquellende Märkte und Bazare, Restaurants mit Tanz und Musik.

Wer denkt bei Syrien an solche Bilder? Warum sieht man kein einziges solches Bild in unserem Fernsehen? Das fragten sich viele von uns immer wieder...
Das gewohnte Narrativ, das von unseren westlichen Medien geprägte Syrienbild – bestehend allein aus zerbombten Häusern, Schulen und Krankenhäusern – trat durch diese Reise in den Hintergrund, und ein anderes, nicht minder reales und vor allem selbst wahrgenommenes wurde für uns greif- und erlebbar.

Die Herzlichkeit und Fröhlichkeit der Menschen, die ihre Hoffnungen nicht aufgegeben haben, gaben auch uns Hoffnung.

Ich habe viele zuvor nicht für möglich gehaltene Aspekte im Zusammenhang mit den so unendlich komplexen Kriegsursachen erfahren – deren genaue Beschreibung allerdings das Ausmaß eines kurzen Reiseberichtes bei weitem sprengen würde.

Immer deutlicher wurde unser Eindruck, dass der Syrienkrieg wohl nur ein Baustein ist in einer aus Dominanzgründen gegenüber Russland und China und aus wirtschaftlichen Gründen vom Westen betriebenen Destabilisierungskampagne, welche von Afghanistan über den mittleren und nahen Osten bis nach Nordafrika reicht. Die Menschen in Syrien sind unfreiwillige Opfer des ganzen Theaters. Schuldzuweisungen und Rechtfertigungen bzgl. der Kriegsgründe treten angesichts der realen Erlebnisse vor Ort als nicht mehr zielführend in den Hintergrund.

Ob das angestrebte eigene Bild betreffend den Syrienkonflikt auch wirklich absolut und „umfassend real“ sein kann, ist und bleibt natürlich eine offene Frage, die ich keinesfalls mit ja beantworten kann.

Jedenfalls ist der Konflikt durch viel zu viele, sich oft auch nur lokal artikulierende, interagierende Interessen bestimmt, als dass man sie alle rational zu einem Gesamtpuzzle zusammenfügen könnte. Die derzeitige Situation wird sich sicherlich nicht erklären lassen durch vereinfachende Modelle des Guten hier und des Bösen da, die sich immer genau und eindeutig erkennbar auf einander getrennt gegenüberstehenden Seiten bekämpfen.

Eine Frage drängt sich allerdings auf:
Ist es nicht ein sehr viel gefährlicheres Spiel mit dem Feuer, vermeintlich lokale Konflikte zu schüren und damit einen Weltenbrand zu riskieren, als das überfällige Gebot der Stunde umzusetzen, im Sinne eines Ausgleichs mit allen Beteiligten?

Die Erkenntnis stellt sich ein, dass das ernsthafte Verhindernwollen eines weltweiten Konflikts vor allem Bereitschaft zum Verzicht erfordert, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch in puncto eines moralischen Überlegenheitsanspruchs.

Klar ist, dass derjenige, der sich die Mühe macht, vor Ort zu recherchieren, in Bezug auf eigene Erkenntnis nur dazugewinnen kann – auch wenn er dabei gewisse Risiken in Kauf nimmt, nicht nur physische vor Ort, sondern auch, von Freunden in der Heimat missverstanden zu werden.


Von dieser Reise nach Syrien bin ich trotz vieler auch erschreckender Erfahrungen unermesslich reich belohnt nach Hause gefahren. Belohnt nicht nur durch zuvor nicht für möglich gehaltene menschliche Erfahrungen, die sich unauslöschlich in die Seele gebrannt haben und die ich nie mehr missen möchte, sondern vor allem auch durch die sich zur Gewissheit heranbildende persönliche Erkenntnis, dass sich in Syrien zur Zeit sehr wahrscheinlich auch unser eigenes Schicksal, die Zukunft der gesamten Welt entscheidet.

Es geht nicht um einen Dienst für den Frieden durch die kriegerische Beseitigung eines schlimmen Diktators.

Es geht letztlich um die Erkenntnis, dass Frieden niemals durch Krieg erreicht werden kann, sondern nur durch gegenseitige Achtung, Annäherung, Ausgleich, menschliche Begegnung mit dem (meistens auch nur vermeintlichen) Gegner – sei es in anderen Teilen der Welt oder auch in uns selbst.

Regne, mache fruchtbar: Von der antiken Kore zur Sophia

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Quelle S. Fischer Verlag
Auf denkbar zarte Art und Weise - die Raum läßt zur eigenen Beschäftigung und Meditation- geht Giorgio Agamben in „Das unsagbare Mädchen“ (1) dem Mysterium der Kore nach. Der eigentlichen Betrachtung folgen eine Reihe griechischer Textstellen, die sich um dieses Zentrum der eleusischen Mysterien bewegen. Die Kore stellt eine Art Nahtstelle dessen dar, das bis heute und für jeden von uns Zeitgenossen ein Rätsel bleibt: Denn wie soll man die Forderung einlösen, die Aristoteles (2) so benannte: „Das Leben, da es eine Weihe und ein vollkommener Mysterienritus ist, soll erfüllt sein von Heiterkeit und Gemütsfrieden“.

Stecken wir den Rahmen der Vorstellungen über die Kore ab, so nähert sie sich als das „unsagbare Mädchen“ nach Hermes Trismegistos (3), der sie „Kore vom Kosmos“ nannte, dem Bild der Isis an: „Mit dem Namen „Kore des Kosmos“ scheint sich die Figur der Kore mit derjenigen der Isis und dem Bild der Pupille zu verbinden, die im Griechischen kore heißt“ (4) - etwas, das das Schauen und den Blick ermöglicht.

Zugleich ist die Kore mit Demeter verwandt: „Demeter und Kore wurden „Herrinnen“ (Potniai) genannt; das verweist auf den kretischen Ursprung ihres Kultes, der dann nach Arkadien kam..“ (4) Diese Bildebene verweist auf die symbolisch- kultische Vereinigung von Göttern und Tieren. Daneben steht die Kore auch als kosmische Weberin in den Sternen: „Und für die Seele ist der Körper, den sie um sich hat, eine Bekleidung.. so wird auch von Orpheus die Kore.. als Weberin überliefert, und die Alten sagen, dass auch der Himmel ein Umhang ist, als Bekleidung der himmlischen Götter“ (5). Wenn wir die Textstellen betrachten (die übrigens jeweils im Buch auch im griechischen Original präsentiert werden) die die Kore umkreisen, stossen wir auf das Bild der Weberin des himmlischen und irdischen Logos: „da Kore und ihre ganze tanzende Schar in der Höhe bleibt, sagt man, dass sie die kosmische Ordnung des Lebens weben“ (6).

Nach Plutarch soll das unsagbare Mädchen am Ätna in Sizilien vom Gott der Unterwelt entführt worden sein (7): „Deswegen geht in Sizilien, so sagen sie, niemand in der Nähe des Etna jagen, denn das ganze Jahr über wächst und blüht eine große Zahl von Bergveilchen auf den Wiesen, und der Duft, den der Ort stets hat, überlagert die Gerüche, die die Tiere ausstoßen. Aber es gibt auch die überlieferte Erzählung, wonach der Etna der Ort war, an dem Kore entführt wurde, während die Blumen sammelte (..), und aus diesem Grund ehren und respektieren die Menschen diesen Ort wie eine heilige Stätte und greifen die Tiere, die hier leben, nicht an.“ Aber auch die Altstadt von Syrakus mit ihrer Süßwasser - Quelle unmittelbar am Meer gilt als ein solcher heiliger Ort. An anderen Stellen wird die Lieblingsblume der Kore, die Demeter entrissen wurde, als Narzisse bezeichnet - die „antike Krone der großen Göttinnen“. (8) In jedem Fall bleibt das Bild der „Tochter mit hohen Knöcheln“ (Homer), die die Blumen pflückt, während Mutter Demeter die „mit Früchten Geschmückte“ ist.

Schauen wir den Mythos dieses Raubes, in dem Demeter auch „als die Erde“ schlechthin angesehen wurde, während Kore „als die Samen“ verehrt wurden, aus dem Blickwinkel Rudolf Steiners an. Dieser sah die Kore auch als webende Gestalt der Natur an, die im Mittelalter als Natura oder Sophia verehrt wurde: „Alte Eingeweihte beschrieben diese Frau, die lebendige, schaffende Natur als die Beraterin des Nus, des die Welt durchschaffenden Verstandes, der die Welt als Nus durchsetzenden, weisheitsvollen Vernunft, und sie nennen diese Frau eine Verwandte der Urania. Während Nus draußen im Kosmos beraten wird von Urania, wird er in unseren irdischen Gegenden beraten von der Natura. Wir finden in älteren Zeiten diese Frau wieder in Proserpina, in der Persephone, die der Mutter Demeter das Gewand webt. So verändern sich die Imaginationen im Verlaufe der Jahrhunderte, aber aus all diesen Imaginationen müssen wir entnehmen, daß das, was im fortlaufenden Strom der Menschheit gewirkt hat, eben die Geheimnisse der Initiation sind.“ (9)

Den Mythos des Raubes - dem Herausfallen aus dem reinen, unzerteilten Reich, in dem es noch keine Unterscheidung zwischen Welt und Denken gibt - erläutert Steiner auf denkbar eindrückliche Weise: „Demeter ist die Regentin der größten Naturwunder, eine Urgestalt des menschlichen Fühlens, Denkens und Wollens, deren wahrhaftiges Kind Persephone ist. Jene Urgestalt, die auf Zeiten hinweist, in denen das menschliche Gehirnleben noch nicht getrennt war von dem allgemeinen Leibesleben, in denen sozusagen Ernährung durch die äußeren Stoffe und Denken durch das Instrument des Gehirns nicht getrennte menschliche Verrichtungen waren. Da fühlte man noch, wie der Gedanke da draußen lebt, wenn die Saat auf den Feldern gedeiht, wie die Hoffnung wirklich da draußen sich ausbreitet über die Felder und durchdringt das Naturwunderwirken gleich dem Gesang der Lerche. Man fühlte noch, daß hereinzieht mit dem materiellen das geistige Leben, untertaucht in den menschlichen Leib, sich läutert, zum Geist wird als die Urmutter, aus welcher elementar heraus geboren wird Persephone in der menschlichen Wesenheit selber.“ (10)

Die „Entführung“ fand demnach im Menschen selbst statt, der der inspirierenden, moralischen Umwelt entrissen wurde und nur noch im Rahmen von Ausnahme- Situationen - den Mysterien- in der Lage war, diese Inspiration zu vernehmen: „Und so war es auch mit anderen Göttern. Indem sie den Menschen ernährten, ihn atmen ließen, die Impulse zum Gehen und Stehen anregten, gaben sie ihm zugleich die Impulse für Moral und alles äußere Verhalten. Demeter sah den Verlust ihres Kindes Persephone in der menschlichen Natur, den Raub durch die dichtere Körperlichkeit, so daß jetzt diese hellseherischen Kräfte nur mehr verwendet werden zur groben Ernährung der Körperlichkeit – indem Demeter sich sozusagen zurückzog von jener unmittelbaren moralischen Gesetzgebung der alten Zeit, was tat sie da? Sie stiftete ein Mysterium und gab von da aus in der neuen Gesetzgebung den Ersatz für die alte Gesetzgebung, die durch die Naturkräfte wirkte. So zogen sich die Götter von den Naturkräften zurück und in die Mysterien hinein und gaben den Menschen, die nicht mehr durch eine in ihnen wirkende Natur die Moral hatten, die moralischen Anweisungen". (11)

Der Raub der Kore, das Herausfallen aus der Ganzheit: Daraus ergibt sich die moderne, reflektierende Bewusstseinshaltung, die sich ihrer eigenen Quellen nicht bewusst wird, sondern gebannt ist von den Inhalten, den Objekten der Betrachtung, der umgebenden gegenständlichen "Welt". Von der Süße der Blumenfelder am Ätna aus betrachtet, ist das Reich der Erklärungen, der objektivierbaren Gewissheiten, der Individuation, von bedrückender Enge: Eine Verbannung, eine Einkerkerung in ein Schattenreich des Bewusstseins. Der antike Weg der Kore, der zum „ganzen“ Menschen führen soll, wird von Rudolf Steiner im modernen Sophien- Kult wieder aufgegriffen: „Nicht «Weisheit vom Menschen» ist die richtige Interpretation des Wortes Anthroposophie, sondern «Bewusstsein seines Menschentums»; das heißt, hinzielen sollen Willensumwendung, Erkenntniserfahrung, Miterleben des Zeitenschicksals dahin, der Seele eine Bewusstseins- Richtung, eine Sophia zu geben.“ (12) Freilich, damit kann keine Neuauflage der Eleusis gemeint sei, keine örtlich und zeitlich zu bestimmende Mysterienstätte, sondern nur ein innerer Ort der Zeitlosigkeit, den der individuelle Mensch in sich selbst zu erwecken in der Lage sein könnte. Anthroposophie mag und kann dazu ein Wegweiser sein.

Aber mit all dem haben wir noch gar nicht den Text Giorgio Agambens (1) berührt. Noch bewegen wir uns sozusagen im Nachklang der Originaltexte und im Feld der Deutungen und Neubegründungen Rudolf Steiners. Was ist das, was die Kore unsagbar macht? Gemeint ist doch: Das Mysterium besteht darin, dass es sich in der Verbalisierung auflöst oder vergiftet. Wie aber ist eine Berührung - und ein Berührtwerden - möglich ohne Sprache? Nicht einmal die Unterscheidung zwischen Mutter (Demeter) und Tochter (Kore) ist eindeutig: „Kerenyi zitiert im Folgenden eine Inschrift aus Delos, in der die eleusinischen Gottheiten, Demeter (die Frau) und Kore (die Tochter) paradoxerweise miteinander identifiziert werden: kai kores / kai gynaikos, Mädchen und Frau zugleich.“ (13) Das unsagbare Mädchen ist, geht man über banale Interpretationen hinaus, „eine dritte Figur“, ein Bewusstsein- im- Lebendigen. „Kore“ leitet sich sprachlich „von einer Wurzel ab, die die Lebenskraft bezeichnet, den Antrieb, der wächst und der die Tiere und die Pflanzen wachsen lässt (koros bedeutet auch „Sprößling“)“ (14). Dennoch bleibt koros zu unterscheiden von den Demeter- Mysterien, die auch einen dionysischen Aspekt hatten, und deutlich älter waren als die griechische Kultur selbst.

Wie zahllose Figurinen beweisen, wurden die Natur- und Mutterkräfte bereits in einer Zeit verehrt und kultisch betrieben, die einer „Donauzivilisation“ (Danube civilization) vorangingen und ihre Wurzeln um 7500 bC in Anatolien (Çatalhöyük) hatte: „Die Donauzivilisation, deren Anfänge im Neolithikum liegen und die ihre Blüte in der Kupferzeit erlebte, hat mit ihren Errungenschaften die Voraussetzungen für den rasanten Aufstieg der griechischen Kultur im ersten Jahrtausend v. Chr. geschaffen. (..) Die Anfänge des kulturellen Aufschwungs in Alteuropa liegen in einer Periode ökologischer Umwälzungen. Die Hypothese von einer Großen Flut, in der die Wassermassen des Mittelmeers die bis dahin bestehende Landbrücke am Bosporus durchbrachen, ist heute gut gefestigt. Es ist davon auszugehen, dass über diese Landverbindung Menschen aus Anatolien nach Westen migrierten, die bereits Ackerbau und Viehhaltung kannten. Als Folge der Flut entstand um 6700 v. Chr. das Schwarze Meer, die Küstenlandschaften verwandelten sich nachhaltig.“ (15) In diesen frühen Zivilisationen, aus denen die griechische „Hochkultur“ hervorging, war die Demeter- Figur bis in jeden Haushalt hinein prägend: „Marija Gimbutas hat als Erste darauf aufmerksam gemacht, dass an vielen Stellen der Haushalte Figurinen nicht nur wahllos herumlagen, sondern sorgfältig platziert waren, so auch neben den Öfen, in denen Brot gebacken wurde. Das Brotbacken war offensichtlich Teil eines System von häuslichen Ritualen: «Viele alltägliche Tätigkeiten des Haushalts wie Schlafen, Vorratswirtschaft, Mehl-Mahlen und das Zubereiten von Speisen waren eingebunden in häusliche Rituale, wie dies von den Figurinen ausgewiesen wird, die oft nahe von jeder Tätigkeit deponiert waren» (..). Die Figurinen dienten vermutlich als rituelle Utensilien (bzw. Attraktoren spiritueller Energie) zur Anrufung der Schutzpatronin des Ackerbaus, der Kornmutter.“ (15) In den Figurinen war das Credo der gesamten Kultur des Sesshaftwerdens, des Ackerbaus, der Viehzucht und des Brotbackens, ebenso zum Bild geworden wie die Hoffnung auf gute Ernte und die Abgrenzung gegenüber den Nomaden.

Dem gegenüber ist die Kore ein Bild der Mysterien des Denkens und des Selbstbewusstseins - etwas, was kein Bildnis verträgt, ja nicht einmal sprachlich zu fassen ist: „Kore ist das Leben, insofern es sich nicht „sagen“, also am Alter, an geschlechtlichen Identitäten und familiären oder sozialen Masken festmachen lässt“ (16) Deshalb blieb das eleusische Mysterium das Drama mystikon schlechthin, ein Mysterium des Schweigens: „Myein, einweihen, steht etymologisch für „schließen“ - die Augen, vor allem aber den Mund. Am Anfang der heiligen Riten „befahl“ der Herold „die Stille“ (..)“ (16). Allerdings sind dennoch Formeln überliefert, die im eleusischen Mysterium gesprochen wurden, verbunden mit dem Deuten auf eine aufgerichtete Ähre: „hye, kye“. Die Übersetzung - regne, mache fruchtbar - deutet nicht nur auf das banal offensichtliche (die Ebene der Demeter), sondern auf ein Erleben in der Vergegenwärtigung der Kore - im Sinne einer Inspiration und Intuition des Lebensspendenden auf der Bewusstseins- Ebene: Eine Initiation. Regne, mache fruchtbar.

Die damit einher gehende Erfahrung lässt ganz wortwörtlich die Blumenwiesen an den Hängen des Ätna wieder erblühen. Die Süße der Kore ist für den mit ihr verbundenen Geist, der die Lebenskräfte schmeckt, mit Händen zu greifen, aber nicht in Worte zu fassen. Hier, an dem Quellpunkt allen Lebens, ist der Geist zu Hause. Hier hat er, der geraubt war, wieder zu sich gefunden. In diesem Sinne sind, aus seinen verlorenen esoterischen Dialogen, Anmerkungen von Aristoteles überliefert wie „diejenigen, die direkt die reine Wahrheit berührt haben (..) behaupten, den letzten Begriff der Philosophie (..) erlangt zu haben, wie in einer Weihe (..)“ (17) Diejenigen aber, die diese Weihe empfangen, müssten nach Aristoteles „nicht etwas lernen (..), sondern etwas durchleben und in einen bestimmten Zustand versetzt werden (..), natürlich wenn sie dazu bereit geworden sind (..)“ (18). Das alles sei nur möglich, „wenn der Verstand selbst eine Erleuchtung erfährt (..)“ (18)

Das reine Feld dieser Kore- Sophien- Kräfte, das die alten Demeter- Kulte auf die Ebene des bewussten Erlebens hebt, hat sich, wie im ganzen Werk Rudolf Steiners beleuchtet wird, bis heute wieder und wieder belebt und erneuert - es ist durchdrungen und tröstend beschützt durch die Auferstehungskräfte. Diese Ebene bedarf aber der aktiven Annäherung durch den Menschen, im Sinne einer geistigen Adäquatio, einer Kommunion in der Stille. Die Süße der Kore ist freilich nicht willentlich zu greifen- sie ergibt sich nicht dem groben Zugriff, sondern entspringt in einem Bereich, in dem das Individuum in die Zeitlosigkeit eingeht, aus der es hervor gegangen ist und in der es ständig unter der Oberfläche des Bewusstseins erhalten und regeneriert wird. Hier, im Bereich der Kore, zieht das Ich das Kleid an, das mit den Blumen des Etna bestickt ist.


Anmerkungen & Verweise 



1 Giorgio Agamben/ Monica Fernando, Das unsagbare Mädchen. Mythos und Mysterium der Kore, S. Fischer Wissenschaft, Frankfurt/ Main 2012
2 Aristoteles De philosophia, fr. 14 in Agamben S. 40
3 nach Johannes Stobaios in Agamben, S. 66
4 Agamben, S. 67
5 Porphyrius nach Agamben, S. 71
6 Proklos nach Agamben, S. 73
7 Plutarch nach Agamben, S. 77
8 Agamben S. 92
9 Rudolf Steiner, GA 161.58
10 Rudolf Steiner, GA 129.21
11 129.38f
12 257.76
13 Agamben, S. 9
14 Agamben, S. 10
15 Harald Haarmann, Das Rätsel der Donauzivilisation: Die Entdeckung der ältesten Hochkultur Europas
O.A.
16 Agamben, S. 11
17 Aristoteles, Eudemos, nach Agamben, S. 13
18 Aristoteles, De Philosophie, nach Agamben, S. 13

Die Weite und Größe des Denkens - zu Simone Weil

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Wenn ich hiermit Bezug nehme auf Mariana Alessandris „The Gender Politics of Fasting. Both Cesar Chavez and Simone Weil starved their bodies for spiritual and political reasons. Why is only one of them remembered as anorexic?“ In The New York Times (1), so geht es mir weniger darum, die - vom Geschlecht der Protagonisten bedingte- Erinnerung der Nachkommen an sie zu reflektieren. Beide waren Koryphäen des Hungers, des Verzichts, des Fastens- jedenfalls vordergründig. Beide hatten einen religiösen Hintergrund- auch dies vordergründig. Aber beide waren auch nicht primär prominente Hungerkünstler oder gar religiöse Selbstdarsteller.

Ganz im Gegenteil. Chavez war, wie Alessandri darstellt, ein katholischer Aktivist, der z.B. im südlichen Texas eine Organisation mit aufbaute, die Flüchtlingskinder in Gastfamilien vermittelt. Chavez fastete aus vielerlei Gründen- sei es, um mediale Aufmerksamkeit für die Nöte und Bedürfnisse Hilfsbedürftiger zu erregen, sei es als Mittel der „Reinigung von Körper, Geist und Seele“: „Chavez, — who died in 1993 and is considered a hero by many for founding, along with Huerta and other labor organizers, the United Farm Workers of America — was a deliberate undereater. He undertook three major fasts in his life — the first public fast lasted for 25 days in 1968, the second for 27 days in 1972 and the last for 36 days in 1988 — with frequent shorter ones in between. Chavez claimed that he didn’t fast primarily to nudge political action, much less to change his body shape. As a Roman Catholic, he described fasting as a means of purifying his body, mind and soul, and he saw it as an opportunity to do penance, join in solidarity with others, and draw attention to the maltreatment of farmworkers.“ (1)

Radikales Fasten als „Opfer für die Gerechtigkeit“ war für Chavez selbst dann angebracht, wenn er willentlich die Grenze überschritt, an der tatsächlich nicht mehr gut zu machende Schäden an der eigenen Gesundheit verursacht werden. Dennoch - so der argumentative Schwerpunkt Mariana Alessandris- wird eine Person wie Chavez - als politisch und sozial akzeptiert, nicht aber als magersüchtig oder anderweitig im Sinne von Essstörungen erinnert. In der seit einigen Jahren wieder neu aufflammenden Rezeption Simone Weils scheint das zumindest in den USA etwas anders zu sein - vermutlich vorrangig deshalb, weil sie eine Frau war, und dies, obwohl Essstörungen heute bei vielen Männern diagnostiziert werden: „In many of the subsequent accounts of her life, Weil has been labeled an anorexic, like St. Catherine of Siena, the 14th-century nun who was also convinced that she could reach God through her empty stomach.“ (1)

Freilich scheint mir Alessandri auch etwas kurz zu greifen, wenn sie die „Leere“, die Weil als notwendig für die Erfahrung der Nähe Christi proklamierte, tatsächlich nur auf das Essen bezieht: „Weil stated that her fasts were motivated by a sense of solidarity with France’s emaciated outcasts, and her empathy found a home in her empty stomach. But she confessed that her fasting had as much to do with what she called the “void” where God lived as it did with solidarity. She wrote a considerable amount about the spiritual relationship between God and emptiness.“ (1) Simone Weil war eine junge, zutiefst politische und philosophische Denkerin, deren mystische Grunderfahrung weniger mit Fasten als mit ihrer radikalen Hinwendung zur Welt zusammen hing. Ihre Christus- Erfahrung in Assisi hatte sie nach einem Jahr harter Fabrikarbeit, die sie sich trotz ihrer schweren Migräne zugemutet hatte:

 „Along with her philosophical, social, and political reflections, but on a deeper level, Simone Weil experienced a spiritual change of direction that she steadfastly refused to call a “conversion.” After a year in the factories, her parents took the broken young woman suffering from violent headaches to Portugal. In a small village she took part in a procession of fishermen’s wives, “who sang hymns of heartbreaking sadness,” as she wrote to her Dominican friend Joseph-Marie Perrin, to whom she confessed: “There I had the sudden certitude that Christianity is the religion of slaves, that slaves could not do other than adhere to it, and I along with them” (Attente de Dieu, 43; WG, 26). Weil encountered Christianity in the context of a sensitivity to the hardship and slavery that she had lived through in the factories. In 1937, at Assisi, in the little Romanesque chapel of Santa Maria degli Angeli where St Francis had prayed, she recognized that something stronger than herself “obliged her, for the first time in her life, to drop to her knees.”“(2)

Ein Jahr später, immer noch unter dem Druck permanenter Schmerzen und im Studium eines meditativen Textes, vertiefte sich diese Erfahrung; „At Solesmes, during Holy Week in 1938, while she was suffering from intensely painful headaches, she assisted at the divine office sung in Gregorian chant. She said that in the course of these religious services “the thought of the passion of Christ entered into me once and for all” (Attente de Dieu, 43; WG, 26). At Solesmes she met a young Englishman who introduced her to the seventeenth- century metaphysical poet George Herbert and gave her the text of his poem Love. Toward the end of 1938, several months after her stay at Solesmes, “at the peak of a series of violent headaches” she “set herself to reciting the poem while applying [her] complete attention to it.” “I thought I was reciting it simply as some beautiful poem,” she wrote to Father Perrin, “but without my awareness that recitation had the force of a prayer. It was in the course of these recitations that . . . Christ himself came down and took possession of me” (Attente de Dieu, 44–45; WG, 27). The beauty of the chant, the possibility of loving in the midst of suffering, the felt presence of love during that suffering, these are all elements of this third contact.“ (2)

Damit wird doch schon ein ganz anderer Kontext aufgeschlagen als das von Alessandri vorgetragene Fasten: „“We have to fasten onto the hunger,” she wrote, since hunger reminds us that we are not self-sustaining, that God is spiritual bread.“ (1) Andererseits bleibt Simone Weil, obwohl sie so jung, mit 34 Jahren starb, und den größten Teil ihrer Arbeiten nur als Aufsätze und Tagebücher hinterließ, die dann verschiedentlich post mortem kompiliert wurden - nicht selten mit ideologischen Filtern, die die politischen, sozialistischen Gedanken beiseite schoben -  bis heute eine Herausforderung, da sie in keinen gedanklichen Kontext, in kein ideologisches System hinein passt: „But, while it would be a mistake to think of her as having produced a tight philosophical ' system', her treatments of apparently disparate topics do hang together and frequently cannot be adequately grasped or evaluated without a view of the relation between them. There are obstacles in the way of attaining such a view. Some of these stem from the difficulty of 'placing' her work firmly within any currently living tradition of thinking.“ (3)

Und damit hören die Schwierigkeiten, Simone Weil zu verstehen, keineswegs auf. Warum sprang sie in England vom Schiff, das ihre Familie und sie ins sichere Exil in die USA bringen sollte, warum ging sie in Südfrankreich in den anti- faschistischen Widerstand, warum zog sie trotz ihrer extremen Fehlsichtigkeit in den spanischen Unabhängigkeitskrieg gegen Franco? (Sie wurde nach einer Probe an der Waffe abgelehnt und zurück geschickt). Sie tat dies alles, wie sie sich der Massenproduktion in den Fabriken und der reduzierten Nahrungszufuhr der armen Bevölkerung zu Kriegszeiten aussetzte: Aus Hingabe an die Realitäten des Lebens, auch wenn sie das ihr Leben gekostet hat.

Diese Radikalität, die ihre Interpreten bis heute verschreckt, dringt selbst bis in die katholisch gefilterten, populären Breviere (4) wie „Gravity and Grace“ vor, etwa, wenn Weil von der Notwendigkeit des Aushalten der geistigen und moralischen Leere schreibt, wenn denn einer den Zustand reiner, ungebrochener Intuition, das Brechen des übernatürlichen Brotes erreichen möchte: „Man only escapes from the laws of this world in lightning flashes. Instants when everything stands still, instants of contemplation, of pure intuition, of mental void, of acceptance of the moral void. It is through such instants that he is capable of the supernatural.
Whoever endures a moment of the void either receives the supernatural bread or falls. It is a terrible risk, but one that must be run—even during the instant when hope fails.“ (5)

Auch in ihren letzten Schriften und Aufsätzen vor ihrem Tod - Late philosophical Writings (6)- zeigt sich die ganze Bandbreite von Weils Denken, das die Schubladen auch deshalb sprengt, weil strenge, methodisch exakte Erörterungen neben verbalen Ausbrüchen gegen das Kollektive und Nur- Persönliche stehen (Weil meint 1940, dass die Deutschen bislang gegen Frankreich kriegerisch siegten, weil sie sich besser für das Kollektiv eigneten), aber dann, wie im Vorwort zu lesen, auch noch „Taten Gottes“ als relevant erachtet werden: „Her Christianity, as unorthodox as it often appears, is not an addendum or a conclusion to a chain of reasoning from elsewhere. For her, there really is an act of God that takes place in Christ’s Incarnation and Crucifixion that determines the nature of the world and of human beings.“ (6) Diese praktizierte und unangestrengt formulierte Erfahrungs- Mystik wird bei Weil zusammengefasst im Begriff der Aufmerksamkeit und abgesichert im Begriff der Verwurzelung. Ihr außer den Aufsätzen (6) letztes, auch nicht vollendetes Buch trägt diesen Titel (7) und stellt eine Art Moral- Lehre dar, in der dargelegt wird, wie das Individuum dem anderen gegenüber eine existentielle Verantwortung trägt, und dass die Realisation dieser Verantwortung einen Prozess der Verwurzelung (oder Ein- Wurzelung) nach sich ziehe.
Auf der anderen Seite, so stellt sie es auch in den Late Philosophical Writings dar, besteht die Möglichkeit einer moralisch- geistigen Entwurzelung, die sie dort als einen Fall in den Kollektivismus sieht.

Auf der anderen Seite besteht die Möglichkeit, Vollendung, Schönheit und Wahrheit dann zu berühren, wenn das Individuum in der Lage ist, sich einer unpersönlichen Ebene zu öffnen: „What is sacred in a human being is that which is, far from the personal, the impersonal. Everything that is impersonal in a human being is sacred, and that alone.“ (8) Diese über- persönliche Ebene ist auch die, die Mystiker stets gesucht haben: „Every effort of the mystics has always sought to reach the place when there is no longer anything in their soul that says “I.”“ (8)

Die tatsächliche (geistige) Erfahrung dieser Ebene gelingt nur in einem Zustand besonderer Aufmerksamkeit, und nur in absoluter („moralischer“) Einsamkeit (oder, anders formuliert, ein In- sich - Bestehen): „Passage into the impersonal only comes about by attention of rare quality, and is only possible in solitude. Not only actual solitude, but moral solitude.“ Allerdings ist es dem Individuum auch nur dann möglich, dem drängenden Fall in den Kollektivismus zu entkommen, wenn nicht zumindest ein Teil seiner seelisch- geistiger Konfiguration (Eine Sehnsucht? Eine Leidenschaft? Ein Wahrheitsempfinden? Ein moralischer Impetus?) in dem Überpersönlichen verwurzelt ist: „A human being only escapes the collective by being elevated above the personal in order to penetrate into the impersonal. At this moment there is something in him, a portion of his soul, on which nothing of the collective can have any grip.“ (8)

Die große existentielle Schwäche des Menschen liegt in seinem Haften an Objekten - eine im buddhistischen Sinne zutiefst verstrickte Existenz, die deshalb so korrumpiert ist, da ihr jederzeit alles genommen werden könnte- sie könnte in jedem Moment vor dem absoluten Nichts stehen. Um das zu kaschieren, hüllt sie sich in die Illusionen der physischen Existenz: „Human thought cannot understand the reality of affliction. If someone were to recognize the reality of affliction, he would have to say: “The play of circumstances, over which I have no control, can snatch anything from me anytime, including everything that belongs to me and that I consider as being me. There is nothing to me that I cannot lose. An accident can at any time wipe out what I am and can indifferently put in its place any vile and contemptible thing.” Thinking that with the whole soul is to experience nothingness. It is the extreme and total state of humiliation that is also the condition for the passage into the truth. It is a death of the soul. This is why the sight of naked affliction causes in the soul the same jerking away that the nearness of death causes in the flesh.

Die Angst vor der Konfrontation mit dem in jedem Menschen, was den Kern seines Leids ausmacht - die reale Erfahrung des Nichts, das darin besteht, dass ihm genommen wird alles, was ihn auszumachen, was zu ihm zu gehören scheint, wodurch er sich definiert, wie er sich sieht, woran er gefesselt ist- ist gleichbedeutend mit der Angst vor dem Tod. Rudolf Steiner pflegte das, mit Wagner- Klängen untermalt und mit Gralsglocken ausgeschmückt, die „Schwelle zur geistigen Welt“ zu nennen. Im Gegensatz zu den Steiner- Jüngern weiß Simone Weil, dass dies vor allem und zuerst die Stelle der völligen Ohnmacht, ja der existentiellen Scham ist. Die geistige Freiheit zeigt eben zugleich die umfassende Selbsttäuschung des Ich auf; das Aufgeblasene, die Bedeutsamkeit, die man sich angemaßt hat, der schrille Unterton in der eigenen Existenz: Das ist doch das, dem das Individuum sich am allerwenigsten auszusetzen bereit ist. Praktizierte Mystik ist kein Geschäft für schwache Geister.

In diesem Augenblick ist es nur die „Gnade“, die trägt: Der Augenblick des geistigen Bestehens vor dem Nichts kann nur als geschenkt erlebt werden. An diesem Punkt ist die Aufmerksamkeit, die nur aus sich besteht, das Selbst, das sich Formen gibt, in ihnen aufgeht, aber nicht völlig, die eigentliche Entdeckung. Die reine, an nichts haftende reine Aufmerksamkeit, die keine Inhalte hat und in sich transparent und verstehend- und in Liebe- existiert, ist die eigentliche Selbst- Erfahrung:

Only the supernatural operation of grace can make a soul pass through its own annihilation to the place where it gets the sort of attention that alone permits being attentive to the truth of affliction. It is the same attention in both cases. It is an intense, pure attention, without motive, and that is gracious and generous. This attention is love.“ (6)

Bis dahin die Andeutung des Begriffshorizonts für einige von Simone Weil behandelte Begriffe. Wir können sie alle - so wie den der Aufmerksamkeit- bei ihr weiter verfolgen, vertiefen, erweitern. Wir können die Cahiers - Aufzeichnungen-, die auch in deutscher Übersetzung vorliegen (9) studieren, die nicht beschnitten und verstümmelt sind. Wir können die vielen Aufsätze und Studienarbeiten über Simone Weil, die im Internet verfügbar sind, abklopfen. Wir können, wie hier versucht worden ist, die Versuche, Simone Weil zu reduzieren auf einen einzelnen Aspekt - in diesem Fall ihre „Essstörung“- zurück weisen und die Weite und Größe ihres Denkens zumindest andeuten.



Anmerkungen und Verweise



1 https://www.nytimes.com/2019/01/14/opinion/fasting-gender-politics.html
2 Robert Chevalier: Simone Weil, Attention to the Real, University of Notre Dame, Indiana, 2012
3 Simone Weil: Lectures on philosophy, Cambridge 1995/ 5 digital reprint 2002 Kein tatsächlich aus formulierter Text, sondern Notizen zu einer umfänglichen Vorlesungsreihe quer durch die Geschichte der Philosophie
4 Weils Briefpartner, Beichtvater und spiritueller Begleiter (wenn auch wohl immer mit der Absicht, sie zum Eintritt in die katholische Kirche zu bewegen), Gustave Thibon, hat sein für ihn ziemlich peinliches Vorwort- insbesondere seine Versuche, Weils kritische Beiträge zur Kirche als Institution zu relativieren- zu Weils Gravity and Grace ja ganz damit beendet, dass er die Auswahl, die er vorgenommen hatte, so begründete: „I am not unaware of the dangers of a spirituality such as hers.“ Und: „All the writings contained in this book have been taken from the manuscripts which Simone Weil confided to me personally. They were therefore all written before May 1942. More recent work, which her parents have been kind enough to show me, has not been included here. I have myself chosen the extracts from the notebooks, in which they were interspersed with innumerable quotations as well as philological and scientific studies.“
5 Simone Weil: Gravity and Grace, New York 2002
6 Simone Weil, Late Philosophical Writings
7 Simone Weil: Die Verwurzelung. Vorspiel zu einer Erklärung der Pflichten dem Menschen gegenüber
https://www.diaphanes.de/titel/die-verwurzelung-1193
8 LPW, Chapter Six, What is sacred in a human being?
9 Simone Weil, Cahiers 1; München Wien 2017/2 bis Band 4 vorliegend

Absolute Stille, Nullpunkt und Inspiration. Zwischen Dionysius Areopagita, John Cage, Zen und Anthroposophie

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Rudolf Steiner, Heilpädagogischer Kurs

Punktuelle Vorbemerkung


Heute, während draußen der Schnee fällt, und der Hund am Ofen sein Fell trocknet, und die Landschaft wie ein weißes verschwimmendes Nichts in der Weite verfließt, kann der Schreiber nicht anders, als sich als Pünktchen zu verstehen, der dem virtuellen Kreis ein paar Teller füllt, hier und da ein Bedürfnis erfüllt, oder Ärger hervor ruft, und vielleicht auf die Frage, ob es noch etwas mehr sein darf, abschlägige Antwort erhält, oder eben vielleicht auch schon ein Nun fangen Sie doch endlich an. Man kann nie wissen. Das Pünktchen fühlt sich als Kellner, der Geist und Ungeist in Kellen von Suppe ausschenkt, manchmal auch vergeblich, manchmal ist die Intelligenz gerade aus, die Preise sind im Keller und die Kundschaft ist ausgeflogen. Man kann nie wissen.
Das Pünktchen aber, unverdrossen, fischt im weiten Kreis wie in einem Teich nach einigen verständlichen, zusammenhängenden Gedanken. Auch hier, ja, kann man es nicht wissen. Manchmal beißen die Fische, manchmal findet man Zusammenhänge, manchmal bleiben die Haken und Netze leer. Man will ja, sozusagen, nicht nur Tiefgefrorenes servieren. Manchmal fischt es sich am besten bei Vollmond, manchmal bei Nebel, manchmal wenn die Frösche quaken. Manchmal hat man gründelnde Sonderlinge im Netz, die unverdaulich scheinen, manchmal ein schneeweißes Höhlentier, aber meist ein paar kleine, silberne, zappelnde Flussfische. Man kommt schon etwas herum, wenn man die Flüsse entlang nach den besten Fanggelegenheit sucht.

Urfriede und Objektivismus des Geistes


Aber was schwatzen wir als Laien daher, lassen wir doch die Meister sprechen. Einen, sagen wir, wie Dionysius Areopagita, der sich auf den Weg machte „von den Namen zum Unnennbaren“ (1). Im Vorwort tut sich Endre von Ivanka schon etwas schwer, die spezifische Mystik - oder ist es eine Technik der Erkenntnisgewinnung? - Areopagitas zu beschreiben- in Abgrenzung zu dem, „was wir heute Mystik zu nennen pflegen: Schilderungen außerordentlicher seelischer Zustände“ (2) zum Beispiel. Stattdessen beobachte man bei Areopagita einen „Aufstieg über geistigste, begrifflichste Erkenntnis hinweg bis zu einer Erkenntnisweise, die „schon nicht mehr“ begriffliche Erkenntnis ist, weil sie deren Übersteigerung und Überhöhung besagt, ihre Selbstaufhebung durch den Übergang in das Unendliche, aller Bestimmung Entrückte.“ (2) Während von Ivanka die Grenzüberschreitung von Punkt zu Kreis bei Areopagita konstatiert, gehen ihm selbst die Worte aus oder werden schwammig, bis auf die Beobachtung der Richtung der vertieften Erkenntnismethodik Areopagitas: Das „denkende Erkennen“ bleibe bei Areopagita in der „ungebrochene(n) Linie der Bewegung, die (..) nicht am denkenden Erkennen vorbei, sondern durch das denkende Erkennen hindurch und über es hinweg zu einer Erfassensweise führt, die jenseits von allem Vorstellen und Denken liegt.“ (2) Tatsächlich jenseits? Oder wird das dualistische Bild vom Denken hier einfach über die Texte von Areopagita gestülpt? Hier reitet der Katholizismus hoch zu Ross, um den unbequemen Text in rechte Form zu bringen- von Ivanka verdächtigt Areopagita dann in der Folge, dass er „vor beinahe pantheistisch klingenden Wendungen nicht zurückschreckt“ (3), „bloß um nicht ein Auseinanderfallen des äußeren Welterkennens und des inneren Gotteserkennen aufkommen zu lassen, das die Geltung des intellektuell- mystischen Gotterlebens auf die Subjektivität des inneren Menschen beschränken und ihr eine gottentfremdete, rein rational erfassbare Welt gegenüber stellen würde“ (3).

Das, in der Tat, ist das Problem des frömmelnden Materialismus, der auf ein aktives transzendentes Erkennen zugunsten einer radikalen Innerlichkeit und eines weltabgewandten Mystizismus verzichtet. Areopagita kann diese von von Ivanka konstatierte Dissonanz, den Punkt des Subjektivismus und den kreisförmigen Bereich des - geistig erfaßten- reinen Daseins ebenso überwinden wie die Hochscholastik - im „diskreten Objektivismus des Aquinaten“ (4), da er noch vom „griechischen Genius“ berührt gewesen sei. Die Qualität, sich diskret erkennend, aktiv, individuell, in der Welt jenseits purer Subjektivität auf der Ebene des Existentiellen bewegen zu können, um Punkt und Kreis zu verbinden, scheint spätestens im 19. Jahrhundert völlig unter die Räder gekommen zu sein. Die Ausnahmen sollen uns interessieren. Von Ivanka allerdings verfällt einer griechischen Schwärmerei, indem er sich murmelnd ergeht in „heilige Ästheten“, die „“nackt“ dem Unbegreiflichen zu begegnen“ (5) in der Lage seien- er verfolgt seinen frömmelnden Dualismus, indem er Mystiker als geniale Ausnahme- Erscheinungen ins Kalkül nimmt; katholische Gurus, gewissermaßen.


Vielheit der Gedanken und Einheit des Geistes


Aber lassen wir Dionysius Areopagita einmal selbst zu Wort kommen, der die mögliche „Befriedung“ zwischen dem erkennenden Bewusstseins- Punkt und dem „All“ mit Anmut und Leichtigkeit so formuliert:
Gott als „Urfriede“ verbindet alle Wesen, ohne sie zu vermischen, und eint sie mit ihrem eigenen Wesen und mit sich selbst, verbindet die Geistwesen mit ihren Gedanken und führt sie zur Einigung mit dem, was über dem Denken liegt, er leitet die Seelen zur Befriedung der in ihnen wirksamen Vielheit von Gedanken und führt sie zu reiner geistiger Einigung, durch ihn wird das All Harmonie, Symphonie, Eintracht und Gemeinschaft, da die Macht des Friedens das All vom höchsten bis zum niedrigsten Wesen durchdringt, bis an die äußersten „Enden“ hinein, und doch in sich ruhend verbleibt.“ (6)

Die „Verbindung mit sich selbst“, die „reine geistige Einigung“ stellt zugleich ein Hineinstellen in die „Harmonie“, ja „Symphonie“ des Alls dar- es wird ein aktiver Prozess erkennender Kommunion geschildert. Trotz der inneren Widerstände, die dazu führen, dass die „Verschiedenheit und Unterschiedenheit“ (6) des Geistes durchaus nicht „freiwillig zum Stillstand gelangen“ (6) will, führt das immanente „Streben nach dem Frieden“ (6) letztlich doch dazu, „mit sich in Frieden und Einigkeit zu sein“. Dabei wird die Entdeckung gemacht, dass das Individuum trotz aller Befürchtungen in der Erfahrung der „Symphonie“ sehr wohl „das Seinige unverrückt und unverändert zu behalten“ (6) in der Lage ist. Der „Friede des Alls“ ist, ganz im Gegenteil „auch Bewahrer der unvermischten Besonderheit eines jeden Einzelnen“. Das Ich gibt sich nicht auf an dieser Schwelle, sondern wird umgekehrt „in feststehender und unabänderlicher Kraft zum Frieden und zur Unwandelbarkeit sich selbst gegenüber bestärkt“ (7).

In diesem Sinne wird das Erkennen als das Licht des Lebens selbst erfahren, ohne dass das Individuum in einen mystischen Ausnahmezustand geraten muss- es wird seiner selbst gewahr, wenn es mit sich „in Frieden und Einigkeit zu sein“ in der Lage ist- eine Haltung, die durch meditative Praxis vielleicht zu erlangen ist. Dionysius Areopagita freilich sieht das Ganze auch vom Kreis aus- vom „Vollkommenen“, vom „Verursacher des Alls“ her. Dieser wird vollkommen genannt, „weil er keine Zunahme kennt und immer er ist, und weil er keine Minderung kennt, und alles in sich schon vorbesitzt und überströmt in einer einzigen unaufhörlichen, gleichmäßigen, übervollen, unerschöpflichen Seinsschenkung, durch die er alles Vollkommene vollkommen macht und erfüllt mit seiner eigenen Vollkommenheit.“ (8)

Silent piece oder die Verwandlung des Denkens in eine rollende Welle


Dieses griechische Satori - die vollendete Erkenntnis-Seins-Einheit und Gott- und All- Erfahrung - in ihrer Schönheit bleibt wohl von uns Nachkommen unerreicht, auch wenn Areopagita selbst am Ende seiner Ausführungen „Entschuldigungen für die Unzulänglichkeit der gebotenen Darlegungen“ (9) formuliert. Er bittet darum, sein Werk zu verbessern und ihn zu „belehren, wenn ein anderer mehr Einsicht von Gott empfangen hat.“ (9)



Ganz im Gegensatz dazu hat John Cage, der die Schönheit durch ein anderes Medium - das der Komposition - realisierte, das Stillste seiner Stücke - „4´33“ - keinesfalls für unzulänglich gehalten.


Gerade die Besonderheit dieser Komposition hat Cage selbst, wohl im Sinne  eines täglichen inneren Hinwendens, beglückt und beschäftigt: „CAGE SAID THAT he regarded 4′33″—his “silent piece”—with utmost seriousness. For him it was a statement of essence. Three years before he died, he told an interviewer: “No day goes by without my making use of that piece in my life and in my work. I listen to it every day.…I don’t sit down to do it; I turn my attention toward it. I realize that it’s going on continuously. So, more and more, my attention, as now, is on it. More than anything else, it’s the source of my enjoyment of life.

Diese Komposition ohne Klang war also für John Cage ein Nullpunkt- ein Ursprungspunkt des Komponierens, der ewige Beginn von allem Schöpferischen, dem er sich bis ins Alter jeden Tag aussetzte. 4´33 ist also für Cage seine persönliche Quelle der Inspiration und Intuition- seine ureigene Punkt- Kreis- Meditation. Auf dem Weg bis zu diesem Punkt hat Cage mit der „Kunst der Selbstvergessenheit“ experimentiert, einer Art geistigen Kindlichwerdens (was die Offenheit und Hingabe betrifft): „“Childlikeness” has to be restored with long years of training in the art of self-forgetfulness. When this is attained, man thinks yet he does not think. He thinks like showers coming down from the sky; he thinks like the waves rolling on the ocean; he thinks like the stars illuminating the nightly heavens; he thinks like the green foliage shooting forth in the relaxing spring breeze. Indeed, he is the showers, the ocean, the stars, the foliage.

Die Befreiung des Denkens, das in dieser Selbstvergessenheit wie „Sturzbäche von Regen aus dem Himmel“, wie „rollende Wellenberge im Meer“, wie das „Licht der Sterne, das den Nachthimmel erhellt“, wie das „erste Grün, das im Frühjahr kraftvoll entspringt“ wird, ist eine Befreiung des verpuppten, reflexiven Bewusstseins selbst. In diesem Denken findet eine Überwindung des verpuppten, selbstreflexiven Ego statt- eine Praxis der Kreativität, die John Cage auch aus dem Zen- Buddhismus ableitete, insbesondere von dem damals populären Lehrer Daisetsu Teitaro Suzuki (10), der einer Samurai- Familie entstammte und zusammen mit seiner Frau Mitglied der Theosophischen Gesellschaft Adyar gewesen ist: „Sowohl Suzuki selbst als auch seine Frau Beatrice waren Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft Adyar (Adyar-TG) und riefen 1920 mit neun weiteren Theosophen die Tokyo International Lodge in Tokio mit Suzuki als Präsidenten ins Leben. Beatrice fungierte als Sekretärin der Loge. 1921 übersiedelten die beiden nach Kyōto, wo sie die theosophische Mahayana Lodge der Adyar-TG ins Leben riefen, wiederum mit Suzuki als Präsidenten und Beatrice als Sekretärin. Suzuki übersetzte 1937 bei einem Japanbesuch Curuppumullage Jinarajadasas, des späteren Präsidenten der Adyar-TG, dessen Vorträge vom Englischen ins Japanische. 1921 gründete er mit seiner Frau Beatrice Erskine Lane die Eastern Buddhist Society, eine Gesellschaft, die auf den Mahayana-Buddhismus fokussiert ist. Seinem Sendungsbewusstsein, den Buddhismus und den Zen-Buddhismus im Besonderen der westlichen Welt näher zu bringen, entsprach die Herausgabe der englischsprachigen Vierteljahresschrift The Eastern Buddhist.

Durch Suzuki verbreitete sich eine populäre Variante des Zen im Westen, der insbesondere in der Beatnik- und Hippie- Zeit offen für diese Einflüsse war - vor allem da sie von Suzuki durch Bücher präsentiert wurde, in denen das oft erstarrte Zeremonielle des Zen nicht im Vordergrund stand, sondern die Erkenntnis- und meditative Seite.

Für John Cage war die Stille des meditativen Nullpunktes das inspirativ befreiende Element, das er suchte. Zuvor hatte er die Stille buchstäblich bis in schallisolierte Räume hinein verfolgt, aber nie gefunden: „And it appeared to me, when I went through my work, or what was to become my work, that the experience I had had in the sound-proof room at Harvard was a turning point. I had honestly and naively thought that some actual silence existed. So I had not really thought about the question of silence. I had not really put silence to the test. I had never looked into its impossibility. So when I went into that sound-proof room, I really expected to hear nothing. With no idea of what nothing could sound like. The instant I heard myself producing two sounds, my blood circulating and my nervous system in operation, I was stupefied. For me, that was the turning point.“ (11) Aber selbst in absolut schallisolierter Umgebung macht immer noch der Körper selbst Geräusche. „Stille“ ist nur metaphysisch zu finden- befreit von der Welt der Objekte, selbst dem Objekt Leib selbst.

Hier kommt nun wieder der Meister Daisetsu Teitaro Suzuki zu Wort, der das Durchgehen des Bewusstseins durch einen absoluten Nullpunkt lehrte- einen Nullpunkt, einen Zero- Punkt, dem wie einer Gebärmutter alles Werdende, Lebendige, aber auch eigentlich Moralische entströmen kann: „Metaphysically speaking, it is the mind that realizes the truth of Emptiness, and when this is done it knows that there is no self, no ego, no Atman [an eternal ego soul] that will pollute the mind, which is a state of zero. It is out of this zero that all good is performed and all evil is avoided. The zero I speak of is not a mathematical symbol. It is the infinite—a storehouse or womb (Garbha) of all possible good or values. zero = infinity, and infinity = zero. The double equation is to be understood not only statically but dynamically. It takes place between being and becoming.“ (12)

Punkt und Kreis, Erwachen und Einschlafen


Suzuki bezieht sich hier auf das Unendlichkeitszeichen, die liegende 8, die in ihrem Schnittpunkt zugleich den Punkt repräsentiert - ein Symbol für das Nichts und die Unendlichkeit zugleich. Die Symbolik Suzukis ist dabei weniger interessant als die Praxis der Inspiration- in- der- inneren- Leere, wie sie John Cage praktizierte, aus der er seinen künstlerischen Impuls bezog. Wie Suzuki andeutet, ist dieser Nullpunkt nicht positivistisch zu erleben- er hat sehr wohl starke Werte, ja er atmet Moralität. Das ist keine theoretische Erörterung, sondern das, was jeder Praktizierende (sofern er nicht abirrt und ein fremdes Element an die Schwelle heran führt) in jeder wirklichen Praxis (gleichgültig aus welcher Tradition heraus) erfährt. Es gibt an diesem Punkt aber eine grundsätzliche moralisch- geistige Entscheidung. Es ist auch möglich, das intuitive Element, das dem Nullpunkt entspringt, in den Dienst der eigenen Macht- Interessen zu stellen.

Ansonsten rückt der Geist - in zahllosen Anläufen, in der Freude, wie immer wieder in einen leuchtenden Frühlingstag hinaus aus dem Haus zu gehen, in die - nach Dionysius Areopagita- „reine geistige Einigung“- die Verbindung mit sich selbst. Der eigentlich entfremdete Zustand ist demnach der des Alltagsbewusstseins. Beim Gang durch den Nullpunkt des Denkens findet eine Ankopplung an den eigenen Ursprung statt, in dem Bewusstsein und Natur noch nicht getrennt sind. Daher die inspirierenden, intuitiven Elemente dieser Verbindung.

In Rudolf Steiners „Heilpädagogischem Kurs“ (13) findet sich die Punkt- Kreis- Meditation, auf die ich hier mit diesem Artikel auch hinweisen möchte. Aber der Aspekt dabei liegt vor allem in einem besseren Verständnis dafür, dass „daß der Ich-Punkt des Kopfes im Gliedmaßenmenschen zum Kreis wird“. Auch Steiner interessierte das Spannungsverhältnis zwischen Ich- Bewusstsein und dem Unterbewussten der leiblichen Funktionen, bis in die Morphologie hinein. Die meditative Praxis umriss er wie folgt:

Die Menschen können im allgemeinen auf dem Gebiete der Pädagogik nichts erreichen, weil sie nicht ernsthaftig jemals eine Wahrheit in sich rege gemacht haben. Die besteht darin, daß Sie sich am Abend einleben in das Bewusstsein: In mir ist Gott, in mir ist Gott, oder der Gottesgeist, oder was immer - aber sich dieses nicht bloß theoretisch vorschwätzen, die Meditationen der meisten Menschen bestehen darin, daß sie sich etwas theoretisch vorschwätzen -, und am Morgen so, daß das hineinstrahlt in den ganzen Tag: Ich bin in Gott. - Bedenken Sie nur, wenn Sie diese zwei Vorstellungen, die ganz Empfindung, ja Willensimpulse werden, in sich rege machen, was Sie da eigentlich tun. Sie tun das, daß Sie dieses Bild vor sich haben: In mir ist Gott - und daß am nächsten Morgen Sie dieses Bild vor sich haben: Ich bin in Gott. - Das ist eines und dasselbe, die obere und untere Figur. Und Sie müssen einfach verstehen: das ist ein Kreis, das ist ein Punkt. Es kommt nur abends nicht heraus, es kommt nur morgens heraus. Morgens müssen Sie denken: das ist ein Kreis, das ist ein Punkt. Sie müssen verstehen, daß ein Kreis ein Punkt, ein Punkt ein Kreis ist, und müssen das ganz innerlich verstehen.“ (14)

So weit man Rudolf Steiners grundlegende Übung auf Bewusstsein- Stoffwechsel, also auf den Menschen schlechthin, auf Ich und Gott, auf Einschlafen und Aufwachen beziehen kann, so weit auch auf die Elemente, die Areopagita und Suzuki ansprechen. Oder auf Goethes „Urpflanze“, die ihre Gestalt pendelnd zwischen sich ausbreitendem Wachstum und Reduktion bis hin zur Verknospung aufbaut.

Punkt und Kreis- Nichts und All- das sind nicht nur grundlegende meditative Übungen, sondern auch eine Sichtweise und Methodik, das Denken selbst in Bewegung zu bringen- und sei es, um, wie John Cage es praktizierte, in der absoluten Stille die Musik erklingen zu lassen, sei es, um wie Areopagita Gott und die englischen Hierarchien erklingen zu lassen, oder sei es, um wie Rudolf Steiner den Menschen besser zu verstehen. Die Punkt- Kreis- Meditation ist kultur- und zeitübergreifend.




Anmerkungen und Verweise:


1 Dionysius Areopagita, Von den Namen zum Unnennbaren, Einsiedeln o.J.
2 Endre von Ivanka, Einleitung, in: Von den Namen.. S 23ff
3 dito S. 25
4 dito S. 27
5 dito S. 28f
6 Dionysius Areopagita, Von den Namen.. S. 80
7 dito S. 81
8 dito, S. 84
9 dito, S. 87
10 https://de.wikipedia.org/wiki/Daisetz_Teitaro_Suzuki
11 Kay Larson: Where the heart beats. John Cage, Zen Buddhism and the inner life of artists
12 Daisetz Teitaro Suzuki in Kay Larson
13 Rudolf Steiner, Heilpädagogischer Kurs, Dornach
14 aus dem Heilpädagogischen Kurs, https://anthrowiki.at/Punkt-Umkreis-Meditation

Nichts suchend, aber bereit. Vom Nicht- handelnden Handeln der Aufmerksamkeit und vom kosmischen Gedanken

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Mediale Amokläufe und mechanisierte Aufmerksamkeits- Ökonomie


Da schreibt jeder, der in Social Media jemals aktiv war, wohl auch von sich: Die Aufmerksamkeit- Ökonomie dieser Medien macht etwas mit einem. Die Klickzahlen, die Likes, und natürlich auch der Peak der Erregung, der durch Trolle und Andersdenkende angepeilt wird, gibt mehr als nur die Vergewisserung, dass man sachlich mit einem Thema punktet. Dass die Technik der Facebook- Gruppen so ausgerichtet ist, möglichst große Erregung in einer möglichst großen Gruppe von Menschen hervor zu rufen, weiß jeder, der einmal in die Analyse- Elemente für Admins herein geschaut hat, die Facebook bereit stellt. Hier werden die Klicks, die emotionalen Reaktionen via Emoticons, das eigene Engagement der User, die Uhrzeit der größten Anwesenheit, das Thema, das die größte Erregung hervor gerufen hat, gemessen, analysiert und zur weiteren Nutzung bereit gestellt. Der Pavlovsche Reflex , die simple Mechanik des Internet- Erfolges, wird jeden vernünftigen Moderator dazu bringen, das zugespitzte Thema mit dem höchsten Potential zur richtigen Zeit in möglichst provokativem Rahmen zu präsentieren, wenn man denn "Erfolg" im Sinne optimaler Klicks erreichen möchte.

Vielleicht ist so erklärbar, wieso das Gift der stetigen Zuspitzung bis hin zum surrealen Verschwörungsthema und dem plattesten Populismus selbst gestandenen Journalisten, alt gewordenen Politikern, Publizisten, Teilzeit- Politologen und Bloggern zustösst. Die Aufmerksamkeit- Ökonomie scheint einen Sog zur Einseitigkeit, Zugespitztheit und Radikalisierung schon deshalb auszulösen, weil die Quellen des Outputs sich derartig vervielfacht haben. Früher war man ja wer als kleine Zeitschrift, als Website, als Blog. Man hatte eine Geschichte, einen Leserstamm, ein Profil, und die Leute lasen nicht nur, was oben auf als neuestes Produkt steht, sie suchten, sie arbeiteten thematisch. Die endemische Aufmerksamkeit- Ökonomie, die mit den unterschiedlichsten Medien - WhatsApp, Twitter, Facebook, YouTube, Instagram - permanent News produziert - und mit Klickzahlen ihr Geld verdient- hat das Verhalten der User nachhaltig verändert.

Tatsächlich zeigt die Startseite der Social Media- Unternehmen ja - je nachdem wie scharf der Algorithmus gerade ausgelegt ist- dass nur das erscheint, was wir aktiv genutzt, geliked, kommentiert haben. Was aus der Startseite und damit unserer Aufmerksamkeit heraus fällt, ist das, was das System „vergisst“. Und das Gedächtnis dieser Systeme - etwa von YouTube- ist extrem kurz, sodass permanent Interessen in ein Nirgendwo fallen, die wir nur für ein paar Tage nicht bedient haben- vielleicht weil wir darüber nachdenken wollten. Natürlich ist die Startseite auch korrupt - die Zeitschrift, die gerade ehemalige Kunden bewirbt, um sie zurück zu gewinnen, erscheint natürlich zeitgleich überproportional auf der Timeline von Facebook- diesmal auch mit qualitativ hochwertigeren Artikeln als denen, die sonst für Nicht- Abonnenten frei geschaltet werden. Es liegt in unserem eigenen Interesse, die Trägheit unserer eigenen Aufmerksamkeit, die Selektivität dessen, was wir auf sozialen Medienplattformen wahrnehmen, nicht nur zu bemerken, sondern tatsächlich durch aktive Informations- Gewinnung gegen zu steuern. Jedenfalls fristet die Such- Funktion privat betriebener Websites heute ein immer kümmerlicheres Dasein. Die „oben liegenden“, im Moment generierten Inputs all der Medien, die auf den Smartphones auflaufen, fressen Aufmerksamkeit schlichtweg auf- kein Wunder bei einem Zeitgeist, der mittels hypertropher Skandalproduktion sogar einen amerikanischen Präsidenten ins Amt katapultiert hat. Dieser nach purer Aufmerksamkeits- Generierung gierende Zeitgeist kann auch gut auf Faktizität verzichten, solange die Agenda nur „authentisch“ - im Sinne eines elektronisch- medialen Optimums an Präsenz- produziert wird. Das neue Gesicht des Populismus neigt zu einer Dauerschleife an Eskalation. Dass dabei nicht nur Normen des kommunikativen Ethos eingerissen werden, sondern auch manche politische Fessel abgestreift wird, trägt zur Popularität bei, aber auch zu einer gesellschaftlichen und ethischen Erosion.

Die mediale Hauruck- Gesellschaft neigt zu Autokraten


Denn sicherlich pflegen demokratische Prozesse, die Diskussion, Widerspruch, Wahrung divergierender Interessen, Kompromiss- Suche, Umsetzung in gesetzgebende Verfahren den schwer wiegenden Nachteil, dass sie nicht annähernd zeitlich mit den hohen Taktung der populistischen Aufmerksamkeit- Ökonomie mithalten können. Der mediale Dauerbeschuss fördert autokratische Lösungen, weil diese die mediale Welle unmittelbar bedienen. Dass der populistisch herbei gefügte Entschluss - sagen wir: der Brexit- dann gerade in unlösbare, Jahre oder Jahrzehnte währende tatsächliche Konflikte und Problem - Stellungen herein führt, die politische Landschaft real lähmt und bindet, statt zu gestalten, stellt sich eben als der Preis heraus, den dieser medial produzierte Populismus produziert.

Die mediale Hauruck- Gesellschaft hängt dennoch kleptokratischen Herrschertypen wie Erdogan, Putin, Orban, Trump an, weil sie Gegenbilder zur demokratischen Agonie und der liberalen Inkonsistenz darstellen. Sie erscheinen schlichtweg handlungsfähig, und legitimieren sich erfolgreich an den Rändern der Schwächen der demokratischen Prozesse. Aber was soll man sich beklagen? Der religiöse Wahn, der früher Privileg der Kirchen, aber dort auch gebunden und kontrolliert war, ergießt sich in politische Systeme, simple Welterklärungen, esoterische Weltbilder, die jeglicher Rationalität zum Hohn im scheinbar aufgeklärtesten aller Zeitalter grassieren wie ansteckende Krankheiten. Der Spalt dieses Wahns durchzieht die Gesellschaften wie ein Riss, aber auch Parteien, Interessengemeinschaften und Familien.

Die aufgeklärte, libertäre Zivilgesellschaft lebt mit diesen Verpanzerungen wie mit Wucherungen, die gelegentlich überhand nehmen und sich auch quer durch Parteien und Gesellschaften vernetzen. Der ansteckende Charakter der reaktionären, wütenden Simplifizierungen ist evident. Aber die Emanzipation und der globale Charakter des offenen Intellekts, der Verantwortung und des Interesses ist andererseits in jeden Winkel, in jede Nische dieser Welt gekrochen, selbst wenn der Panzer über einer Gesellschaft erdrückend, geradezu mumifizierend erschien.

Vermutlich wird die Schere zwischen multiplen Modalitäten, Denkgewohnheiten, Verantwortlichkeiten, Lebensstilen, Wünschen und Träumen, die Abgründe eines schrankenlosen Egos und der Verstrickung in eine technologische Scheinwelt in Zukunft größer- der Riss durchzieht eben nicht nur Gruppierungen und Gesellschaften, sondern jedes Individuum selbst. Große Trends wie der zwischen Smartphone- Egozentrik, Identitätskrisen, Geschlechterkampf, Isolation und Vermassung erschließen immer neue Märkte- die Bürogesellschaft erzeugt die Fitness- Welle, die technologische Zerstreutheit facht die Yoga- Welle an, der primitive Materialismus produziert politische Glaubenskämpfe wie Verschwörungstheorien. Während die Meere im Plastikmüll ersticken und tierische Massenfabriken ausgelastet sind, werden natürliche Lebensmittel und Kleidung verlangt, aber dann auch immer neue technologische Produkte. Die Trends drehen sich inzwischen so schnell, dass auch sehr große Unternehmen daran zerbrechen.

Klick mich, also bin ich


Wie kann dem Riss im Individuum, dem Anhaften an den sich immer weiter beschleunigten elektronischen Zerstreuungen, Ego- Boostern und globalen Trends zum Feedback so begegnet werden, dass die Perspektive nicht verschüttet wird? Klick mich, also bin ich - die endlose Bestätigung des haltlosen Ego, das giert nach Existenz, aber seine Haltlosigkeit durch mediale Beschallung nur immer neu verlängert. Die Flucht in ideologische Echo- Kammern, in die ideologisierten einfachen Ex- und Hopp- Weltbilder oder die okkulten Selbsterklärungen a la Reichsbürgertum, Sektenanhänger oder gewalt- affine Glatzen sind ja nur einige Beispiele für Krücken eines Geistes, der sich selbst nicht trägt. Die dauernde Bestätigung durch ein medial zumindest in der Ferne vorhandenes Kollektiv prägt das Ich, das sich im Widerschein entfaltet, so wie der schöne Schmetterling seine Flügel entfaltet in der Wärme der frühen Sonne. Der Blick des Anderen, an dem sich das Licht des Mondes entzündet. Ich bin wirklich da. Ich bin wirklich. Ich bin. Ich.

Dem bespiegelten Ich, das seine Existenz beweisen muss, jeden Tag, jeden Augenblick aufs Neue, das sein Anderssein durch Zuneigung und Reibung am Anderen erlangt, und, je nach Bedürftigkeit, Beweise hortet oder Konflikte inszeniert- das unfreie, gebundene, existentiell geschwächte Konstrukt seiner fragwürdigen, gefilterten Erinnerung- wie kann es sich stärken?

Greifen wir eine Anregung Simone Weils heraus, die im Gewahrwerden der eigenen Aufmerksamkeit den Wendepunkt zur realen Verwurzelung des Individuums in sozialer Verantwortung sieht: in der „negativen Anstrengung“, die die Aufmerksamkeit darstellt: „Aufmerksamkeit ist eine Anstrengung, vielleicht die größte von allen, aber sie ist eine negative Anstrengung. Sie selbst ermüdet nicht. ... Die Aufmerksamkeit besteht darin, das Denken auszusetzen, den Geist verfügbar, leer und für den Gegenstand offen zu halten, die verschiedenen bereits erworbenen Kenntnisse, die man zu benutzen genötigt ist, in sich dem Geist zwar nahe und erreichbar, doch auf einer tieferen Stufe zu erhalten, ohne daß sie ihn berührten. ... Und vor allem soll der Geist leer sein, wartend, nichts suchend, aber bereit, den Gegenstand, der in ihn eingehen wird, in seiner nackten Wahrheit aufzunehmen.” (1)

Die Erfahrung der Präsenz


Das Paradox, sich zugleich zu fokussieren und zurück zu nehmen, zugleich aktiv und doch aktiv „nichts suchend, aber bereit“ zu sein ist die Grundlage jeglichen Dialogs, jeglicher realer Welterfahrung und - Begegnung, aber damit auch auch die Grundgebärde meditativen Tuns. Die Präsenz, die sich in dieser Aufmerksamkeit ausdrückt, hat - darauf fusst auch Rupert Spiras geistige Arbeit- „erfährt die momentane Situation“, hat aber keine „objektartigen Eigenschaften“ - ist weder „der Geist (2), der Körper und die Welt“, da diese eben „Teil der momentanen Situation (sind), die erfahren wird“. (3) Die unveränderliche, nicht Objekt- artige und daher übersehene Präsenz ist „das, als was wir uns kennen. Sie ist das, was wir „Ich“ nennen.“ (3) Allerdings überrascht der Begriff der zeitlosen Präsenz bei Spira insoweit, dass er diese auch - ohne Übergang- im Tiefschlaf in seiner Kontinuität gegeben sieht: „Aus dem Blickwinkel des Bewusstseins gibt es keinen Übergang, es gibt nur einen Strom sich verändernder Erscheinungen - und auch die Abwesenheit von Erscheinungen- in seiner eigenen allgegenwärtigen Präsenz.“ (4) Die geistige Erfahrungsebene, die Simone Weil mit „nichts suchend, aber bereit“ beschreibt - eine Ebene, die keine Objekte kennt, nicht einmal die seiner selbst, wird bei Rupert Spira zu einem Zustand, in dem Bewusstsein „aufhört, die Gestalt von Geist, von Körper oder Welt einzunehmen (..).“ Dann „weiß es wieder um sich selbst als PRÄSENZ oder SEIN“ (5), wodurch die ungefärbte Selbst- Erfahrung dann „leer von objektivem Inhalt und somit zeitlos“(6) wird. Trotz seiner Herkunft von Advaita und Ramana Maharshi zielt Spira auf eine Ebene der Selbsterfahrung und des Bewusstseins, das er als „selbstleuchtend“(7) bezeichnet, aber auch mit dem Christus- Wort beschreibt „Ich bin das Ich bin“ (8).

Die polare Struktur der Aufmerksamkeit

Simone Weils Überlegungen zur Aufmerksamkeit finden sich eher verstreut in ihrem Werk, das zu großen Teilen aus Tagebüchern und Aufzeichnungen besteht, die noch nicht strukturiert worden waren. Sie starb zu früh, um mehr als einen Umriss dessen zu formulieren, was als Werk hätte entstehen können. Regine Kather hat im Rahmen der Katholischen Akademie Köln 2001 einen Überblick über den Begriff der Aufmerksamkeit bei Simone Weil gegeben: „Aufmerksamkeit. Ein Bindeglied zwischen der Welt und Gott bei Simone Weil“ (9)

Auch Kather sieht bei Weil „einen Stufenweg zur Schau der Wahrheit“ (9) vorliegen, d.h. ein unsentimentales, rationales Einweihung- Prinzip oder ein „Verstehen der Welt, das immer tiefere Seinsbereiche erschließt, um schließlich den Seinsgrund selbst zu berühren“ (9). Auf dem Weg dahin steht nach einer Phase der Sammlung nach Kather die Entdeckung der polaren Natur der Aufmerksamkeit: „Die Aufmerksamkeit ist durch eine polare Struktur gekennzeichnet, die auf allen Ebenen, bei der Lösung einer Mathematikaufgabe, in der Begegnung mit Menschen
und in der religiösen Erfahrung auftaucht: In der Aufmerksamkeit koinzidieren Aktion und Passion, intentionale Gerichtetheit und Phänomenbezogenheit, konzentrierte, entschlossene Zielgerichtetheit und geduldig wartende Empfänglichkeit. Es handelt sich, so schreibt Simone Weil prononciert, um ein ‘nicht-handelndes Handeln’, ein Handeln also, das ohne die Fixierung auf ein bestimmtes Ziel oder einen Plan und doch mit voller Sammlung und Präsenz erfolgt.“ (9)

Diese Haltung bezieht Kather auf die „Kunst des Bogenschießens“ im Sinne der Zen- Tradition: „Die Treffsicherheit des Schützen entwickelt sich weder durch das bewußte Üben noch ohne es; sie entsteht erst aus der Koinzidenz von bewußten und unbewußten Prozessen. Das absichtlose Wirken aus dem Selbst ist die Frucht jahrelanger, harter Disziplin; es ist weder bewußt noch unbewußt im Sinne der Psychologie. Aus der gelassenen Sammlung des Übenden löst sich das Werk schließlich mit jener mühelosen Leichtigkeit, die wir auch als Schönheit empfinden. “Er verdankt der besinnlichen Ruhe, in der er die Vorbereitungen zum Werk ausführt, jene entscheidende Lockerung und Ausgewogenheit aller seiner Kräfte, jene Sammlung und Geistesgegenwart, ohne welche kein rechtes Werk gelingt.  Absichtslos in sein Tun versunken, wird er dem Augenblick entgegengeführt, in dem sich das Werk, das ihm in ideellen Linien vorschwebt, wie von selbst vollbringt. ... Die Kunst des inneren Werkes, das nicht wie das äußere vom Künstler abfällt, das er nicht machen, sondern immer nur sein kann, entspringt aus Tiefen, von denen der Tag nichts weiß.“ (9)

Die Pflege der Aufmerksamkeit - das Aufmerksamwerden auf die Aufmerksamkeit- hat ursprünglich keine moralische oder religiöse Konnotation - allerdings macht Kather darauf aufmerksam, dass bei Simone Weil die leidenschaftliche Verankerung in die Wahrheit mitschwingt: „Deshalb kann die Schulung der Aufmerksamkeit zunächst auch ohne irgendein religiöses Interesse erfolgen. Eine Bedingung muß allerdings erfüllt sein: Wahrheitsliebe, die unbeirrbar nach dem forscht, ‘was die Welt in ihrem Innersten zusammenhält’, ist ihre Grundlage. Sie setzt ein existentielles Bedürfnis, eine Sehnsucht, ein ‘Begehren’ nach dem Verstehen der Wirklichkeit voraus; sie fordert eine Einstellung zu den Dingen, die von dem Bemühen um Redlichkeit und Wahrhaftigkeit getragen ist.“ Dieses „Begehren“ begegnet dem Leser Simone Weils immer wieder- als tragende Kraft, auch in der Geduld, in der inneren „sanften“, zurück gehaltenen meditativen Haltung, in der Leere des objektlosen Anschauens. Diese Leidenschaft führt sogar - im Sinne intellektueller Redlichkeit- zu einem Begrüßen des Atheismus bzw. der Abweisung religiöser Dogmen bei Simone Weil: „Die Forderung nach intellektueller Redlichkeit führte Simone Weil zu der Überzeugung, daß sogar der Atheismus eher ein Schritt zu Gott sein kann als das fraglose und konfliktfreie Hinnehmen religiöser Dogmen. Es handelt sich um einen Atheismus, der sich nicht zur Haltung bloßer Negation verfestigt, sondern gerade jenes aufmerksame, vorurteilsfreie Betrachten aller Phänomene, und das heißt auch religiöser, praktiziert.“ (9)

Die Sphäre der Transzendenz


Simone Weil bewegte sich an der Schnittstelle zwischen intellektueller Aufmerksamkeit und der Blitzstrahl- artigen Durchdringung des Betrachteten durch Intuition, was sie durch die Aufmerksamkeit hindurch in die „Sphäre der Transzendenz“ führte: ““Der Mensch entrinnt den Gesetzen dieser Welt nur für die Dauer eines Blitzstrahls. Augenblicke des Innehaltens, der Kontemplation, der reinen Intuition. ... Durch diese Augenblicke ist er des Übernatürlichen fähig.” (9)

Die intellektuelle Aufmerksamkeit "liegt gleichsam am Schnittpunkt zwischen Natürlichem und Übernatürlichem. Sie zeigt ihre Wirksamkeit im Alltag, vermag aber auch in einem Moment äußerster Sammlung die Sphäre der Transzendenz zu berühren.“ (9) So kam Simone Weil zum Praktizieren „eine(r) völlig reine(n) Aufmerksamkeit“, vornehmlich durch das Gebet, das sie mit einem „Begehren“ vollzog, das sie mit der ganzen Person, Kraft und Empfindung verband, und was sie, in voller intellektueller Redlichkeit, als Kommunistin, inmitten ihres Agnostizismus, zu einer Gottes- Erfahrung führte: „Das auf Gott gerichtete Begehren ist die einzige Kraft, die imstande ist, die Seele aufsteigen zu lassen.“ (9) Aber auch agnostisch kann Simone Weil das „Werk“ an der Aufmerksamkeit verstehen: „Man setzt Energie in sich frei. Aber sie gerät unaufhörlich in neue Verhaftung. Wie gelangt man dahin, sie gänzlich zu befreien? Man muß begehren, daß dies in uns geschehe. Dies wirklich begehren. Es bloß begehren, nicht versuchen, es zu vollbringen. Denn jeder Versuch in dieser Richtung ist eitel und wird teuer bezahlt. Bei einem solchen Werk muß alles, was ich „ich“ nenne, sich passiv verhalten. Von mir wird nichts gefordert als die Aufmerksamkeit, eine so völlige Aufmerksamkeit, dass das „ich“ verschwindet. Allem, was ich „ich“ nenne, das Licht der Aufmerksamkeit entgehen und es auf das Unvorstellbare richten.“ (10)

Der kosmische Resonanzboden


Was mich an diesem Prozess interessiert, ist die auch an dieser Stelle aufscheinende Doppel- Köpfigkeit der - hier transzendierten- Aufmerksamkeit, die ergreifend wie empfangend erscheint, aber dies nie einseitig, sondern am ausgewogenen Maß: „Daß Aufmerksamkeit kein aktives Ergreifen meint, wird an der Unverfügbarkeit Gottes besonders deutlich. Und dennoch handelt es sich auch hier nicht um ein bloß passives Warten auf einen reinen ‘Gnadenakt’. Von der Seite des Menschen bedarf es der konzentrierten Aufmerksamkeit, der gesammelten Ausrichtung: der ‘attente’. An Gott wiederum liegt es, die Seele zu ergreifen. Wiederum koinzidieren im Akt der Aufmerksamkeit Aktivität und Rezeptivität, Spontaneität und Empfänglichkeit.“ (9)

An dieser Stelle sehen wir auch eine Verbindung zur geistigen Transzendenz bei Rudolf Steiner. Zunächst entwickelt Steiner in „Der menschliche und der kosmische Gedanke“ (11) eine Art perspektivischer Erweiterung vom einzelnen Standpunkt zu einem Kreis zwölf unterschiedlicher Weltanschauungen. Das ist ganz offensichtlich eine Parallele zu den Tierkreis- Zeichen. Dann spezifiziert er diese „Weltanschauungsstimmungen“ (12) zusätzlich mit geistigen „Konstellationen“ wie Gnosis, Empirismus, Mystik, die er jeweils parallel zu den Planeten aufstellt. Daraus entsteht eine geistige Konfiguration, die er für Menschen anstelle von Astrologie für relevant hält- im Sinne einer Charakterisierung. Beispielsweise bedeute „Mystik im Zeichen des Idealismus“ (13), wenn sie denn für eine „solche Seele im Verlaufe derselben Inkarnation“ (13) vorrücke, dass diese ein „vom Willen durchdrungenes, auf dem Willen basierendes mathematisches Weltgebäude“ (13) präferiere und entwickle.

Wahrscheinlich möchte Rudolf Steiner mit diesem komplexen, Astrologie- ähnlichen System biografische Veränderungen und Neigungen veranschaulichen. Diese „spirituelle Astrologie“, die bei ihm dann schnell noch deutlich komplexer und differenzierter wird, wirkt allerdings etwas beliebig, um es gelinde auszudrücken. Offenbar hatte er die Idee mal wieder in der Betrachtung der Brüche in der Biografie Nietzsches. Steiner entwickelt ein ganzes astrologisches System, um den Absturz des an fortschreitender Syphilis leidenden Nietzsches damit zu erklären, dass Nietzsche „mit dem Mars in das Zeichen des Skorpions ging. (..) Daher das tragische Geschick Nietzsches.“ (14) So sehr man auf derlei Deutungen verzichten mag, Steiner führt es im Berliner Vortrag vom 23. Januar 1914 doch wieder auf die Spur, auf der er eigentlich mit all dem nur illustrieren möchte, dass der Mensch mit dem Kosmos - der Punkt mit dem Kreis- in einem dialogischen Verhältnis steht, dass „Friede zwischen den Weltanschauungen bestehen soll“ (15), und dass der Einzelne über diese „Konstellationen“ in ihm, über die „Einseitigkeiten, die sich als Ganzes geltend machen wollen“ (15) individuell hinaus wachsen muss. Nur dann ist eine geistige Kommunion möglich, in der die Erkenntnis des „Gedanken in seiner Wesenheit in sich selber“ zu einer „Erkenntnis der wahren Natur des kosmischen Gedankens“ (16) führt. Nur im Ausgleich, in der peripher entwickelten inneren Autonomie entwickelt sich eine Offenheit für den Blick, der erkenne, „wie wir von den Mächten des Kosmos gedacht werden“, ja dass eine „Logik der Hierarchien“ (16) bestehe. Das geht so weit, dass sich für diese Logik des Kosmos ein Gefühl entwickelt, ja dass man sich „als Seelen in kosmischen Gedanken gebettet“ (16) empfinden kann. Darin liege die Entdeckung des eigenen Ewigen.

Dieses geistige „Umkreis- Bilden“, das Überschreiten der individuellen Standpunkte und „Konstellationen“ in einen inneren geistigen Raum, der empfangend wird, hat Rudolf Steiner auch an anderen Stellen geschildert. In „Okkultes Lesen und Hören“ (17) legt er auch die Analogie zwischen Götterschaffen im Rahmen des Tierkreises mit diesem individuellen „Umkreis- Bilden“ dar: „Es ist schon so: Will man auf dem physischen Plan etwas ganz kennenlernen, so muss man es von den verschiedensten Seiten, von den verschiedensten Standpunkten aus ansehen, man muss um es herum gehen. In der geistigen Welt muss uns das eine Realität werden, dass man nicht herum gehen muss mit dem ganzen Wesen, sondern man muss sein ganzes Wesen so zerteilen, dass man einen Umkreis schafft um das, was man wahrnehmen will. Jedesmal, wenn eine wirkliche geistige Wahrnehmung stattfindet, so hat man einen solchen geistigen Umkreis geschaffen.“ Diese innere Aktivität im geistigen Raum- Bilden, im Schaffen eines Resonanzbodens, verlaufe parallel zum Schaffen der „göttlichen Wesenheiten“, die das „im Großen gemacht haben“, worauf sich das gebildet habe, „dessen Resultat wir im Tierkreis vor uns haben“ (17).

Das Überwinden des Verhaftetseins


Was wir hier geschildert vorfinden, ist sowohl eine Innen- wie eine kosmische Sicht der „absichtslosen“ Aufmerksamkeit, die, empfangend und in offener Gerichtetheit, die eigene Seins- Natur entdeckt, die in ihr entspringt. Diese absichtslose Gerichtetheit, die sich das Individuum im Gebet und Meditation, in Bogenschießen oder auch - nach Rupert Spira - in gar keinen übenden Tätigkeiten- erwerben kann, führt zur Entdeckung des - nach Steiner- Gedachtwerdens durch die Götter, das Überwinden des Verhaftetseins - nach Weil- und die Offenheit einer absichtslosen, von Objekten befreiten reinen Aufmerksamkeit, die einen zeitlosen inneren Raum erschafft, wie einen Resonanzboden. Für Simone Weil beginnt an diesem Punkt erst das Gebet oder etwas, was sie „das Werk“ nennt. Auch für sie tritt der Mensch mit diesem „Werk“ in die Wahrnehmung Gottes, und damit aus der Anonymität und Zerstreutheit des verhafteten Individuums heraus.

Mit dieser Betrachtung wird keine Parallele zwischen Spira, Weil und Steiner gezogen, sondern nur gewissen Resonanzen nachgegangen werden, die auf die verschiedenen Ebenen der Wiedergewinnung und Rettung der Aufmerksamkeit hinweisen. Dass in der Not das Rettende auch wächst bedeutet in der Umkehr, dass die Aufmerksamkeit nie mehr bedroht gewesen ist als in der geklickten Aufmerksamkeit- Ökonomie der Gegenwart. Um so mehr scheint es nötig, ein Gegengewicht in der inneren Pflege unserer Quelle des Verstehens, der Weltgewinnung und sozialen Intelligenz zu schaffen.


Anmerkungen & Verweise:


1 Simone Weil: Zeugnis für das Gute. Traktate, Briefe, Aufzeichnungen
2 im Sinne von „mind“
3 Rupert Spira: Bewusstsein ist alles. Über die Natur unserer Erfahrung, Kirchzarten 2011, S. 179
4 Spira, S. 185
5 Spira, S. 189
6 dito. Es wird in dieser zeitlosen Seins- Erfahrung daher auch schwierig, wie Spira anmerkt, zu erinnern, d.h. die Erfahrung in das Alltags- Bewusstsein hinüber zu führen, da diese „Momente (..) im Gedächtnis keine Spuren“ hinterlassen“.
7 Spira, S. 222 Selbstleuchtend im Sinne von transparent, seiner selbst auch im Objekt- losen Zustand bewusst
8 Spira S. 223
9 https://www.forum-grenzfragen.de/wp-content/uploads/2016/03/Kather_Aufmerksamkeit.pdf
10 Simone Weil: Schwerkraft und Gnade. München 1981/3, S. 161f
11 Rudolf Steiner: Der menschliche und der kosmische Gedanke, Dornach 1980, GA 151
12 GA 151, S. 68
13 GA 151, S. 69
14 GA 151, S. 72
15 GA 151, S. 80
16 GA 151, S. 83
17 Rudolf Steiner: Okkultes Lesen und okkultes Hören, Dornach 1987, GA 156, S. 46

Ich höre die Nomoi aller Vögel. Über Melodie, Gedächtnis und Intuition

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Eine kurze Notiz in Georg Kühlewinds hinterlassenen Tagebüchern (1) bringt das Thema Melodie ins Bewusstsein: „Unterhalb des Tagesbewusstseins fliesst im Fühlen das Melodie - Bewusstsein, durch das wir uns in unserem Leben zu Hause fühlen (..) Was sich für das (oder im) Melodie - Bewusstsein ereignet, das erinnern wir.“ Angeregt zu dieser Betrachtung war Kühlewind von H. Bergson, der seinerseits (2) dazu bemerkt hatte: „Unsere Persönlichkeit ist genau das: die kontinuierliche Melodie unseres Lebens“.

Bemerkbar wird das Kontinuierliche, das die Persönlichkeit umfasst, durchklingt, natürlich, wie immer, an den Rändern, an den Störungen: Dort, wo uns etwas zustösst, was die Kontinuität unterbricht, ein Schock, ein, von der Melodie her betrachtet, Unglück. Bei so einer Diskontinuität kann verschiedenes folgen: Die Unterbrechung kann eine Pause sein, nach der die Melodie sich fortsetzt. Es kann sich auch etwas wie eine tonale Verrückung einstellen, ein Punkt, an dem sich die Persönlichkeit neu, in anderem Kontext, konstituieren muss, und die Melodie erst, vielleicht, in einer anderen Tonart, in einem anderen Takt, fortsetzen kann. Womöglich sind die gestörten Momente anhaltend, und der biographische Zusammenhang der unzusammenhängend erschienenen Teile des Lebens und der Intentionen ergibt sich erst aus größerer Distanz. Vielleicht ergeben sich Variationen der ursprünglichen Melodie, die das Ganze erst als vielstimmig, reif und gesättigt erscheinen lassen. Im ungünstigsten Fall erweist sich die Diskontinuität als Trauma, um das die Melodie von nun an zwanghaft kreist, was eine Verarmung, Zurechtstutzung und Fixierung mit sich bringt, eine neurotische Verkrüppelung. In jedem Fall aber bleiben gerade die Störungen am besten im Gedächtnis; sie suchen einen heim, sie stellen das Melodische infrage, sie greifen die Fundamente des Zuhause - Seins an.

Freilich liegt dem Melodischen ein tieferes Element zugrunde, das es erst zu diesem Ganzes, Kontext- Schaffenden macht, das außerordentlich schwer zu fassen ist. Thrasybulos Georgiades (3) greift zum Verständnis dieses durchscheinendes Backgrounds auf griechische Texte aus den 5. - 6. Jahrhundert vor Christus zurück. Noch älter ist ein Fragment des chorischen Dichters Alkman aus Sparta: „Ich kenne die Nomoi aller Vögel“. (4) Nomos ist dabei, so erläutert Georgiades, „etwa mit „Weise“, „Sangesweise“ wiederzugeben. Aber die Hauptbedeutung von Nomos ist „Gesetz“, ein Begriff, der dem Bereich des Rechts und des Staates angehört. Was hat die Weise, die Melodie, mit dem Gesetz zu tun?“ (4)

Die Kopplung von Musik wie den homerischen Gesängen mit dem Begriff Nomos ist, wie die Spurensuche Georgiades ergibt, nur wenig älter als Alkman- dokumentiert bei Hesiod im 7. Jahrhundert BC. Offenbar hat ein Komponist namens Terpander zu dieser Zeit ist vielen musikalischen Bereichen - sowohl rein instrumental wie mit Gesang „Nomoi“ geschaffen- „Weisen, die als Vorbilder angesehen wurden“ (4) - melodische Ur- Kompositionen, die unmittelbar aus dem Grund geschöpft waren, der als geistiges Gesetz angesehen, dann zur Sitte und zum Vorbild wurde, um letztlich kulturbestimmend zu werden. „Ich kenne die Nomoi alles Vögel“ wird so zu einer Formel, in der Melodie, Natur, Logos aus derselben Quelle schöpfen oder dieselbe Quelle darstellen. Den Vogelgesang zu verstehen und aus diesem Verständnis heraus zu komponieren, bedeutet auch, den Flug des Vogels als hintergründige Schrift mitzulesen- wie die reflektierte Wärme der Sonne, den Wind und das Rauschen der Bäume.

Nomos wird so zum Verstehen des Einklang allen Seins. Etymologisch ist dieser Begriff, der sicherlich, von der darin implizierten Kompetenz her, nur einer Mysterien- Kultur entstammen konnte, älter in Bezug auf seine musikalischen Bezüge. Die Wortbedeutung, die mit dem „Gesetz“ zusammenhängt, „bürgert sich (..) erst im Verlauf des späteren 6. Und 5. Jahrhunderts nein; aber auch danach blieb die musikalische Verwendung weiter bestehen. Platon spricht ausführlich über die musikalischen Nomoi und zugleich - ja oft in einem Atem- über die Nomoi als Gesetze.“ (5)

Aber selbst wenn man Nomos von der Melodie ausgehend auf Sitten und Gesetze ausweiten möchte - und mit diesem Streben ein Kernanliegen der griechischen Kultur berührt -, bleibt der Nomos doch stets ungreifbar, etwas, was immer wieder, wie beim Vogelgesang, hörbar gemacht und aktualisiert wird, aber selbst unhörbar bleibt: „Nomos ist etwas Geltendes und insofern gleichsam Immerwährendes, das aber nur in der jeweiligen Anwendung volle Realität erlangt. Es ist nichts Sichtbares, Vorhandenes, sondern etwas, das eine Weisung setzt, ein Richtung weist, dem Menschen anzeigt, was zu tun ist: was er tun soll, tun darf - oder auch, was man zu tun pflegt.“ (6) Diese Formulierungen werfen Nomos in ein Spannungsverhältnis zwischen ursprünglicher, höherer Ordnung- und einem Anspruch, etwas erst in Erscheinung zu bringen, zu realisieren. Aus dieser Spannung heraus wird Nomos von einzelnen Autoren auch als Selbstverwirklichung verstanden und übersetzt. Hier sind wir auch wieder am Ausgangspunkt der Betrachtung angekommen, an der „kontinuierlichen Melodie des Lebens“. Auch hier geht es ja um einen Nomos, der im Sinne eines Gesangs nicht der Gattung angehört und entspringt, nicht den Karriere- Perspektiven, nicht den Erwartungen einer Peergroup. Das Selbst als die ursprüngliche Melodie dieses Individuums bleibt im Dunkel, tritt aber durch die Biografie in die Erscheinung und realisiert sich. Gerade die Diskontinuitäten, die Brüche, können in der Folge eine höhere Deckung von Bild und Erscheinung hervor bringen. Das, was aus der Sicht des Individuums als Niederlage und Verlust eingeschätzt wird, kann im Sinne des Nomos ein weiterer Schritt zur Selbstverwirklichung sein. Wer könnte das entscheiden? Die Melodie ist nie abgeschlossen, und es gibt keinen menschlichen Maßstab, um sie zu bewerten.

Dennoch schwingt sie, wie Kühlewind schreibt, im unbewussten Gefühlsbereich mit und webt sich mit den Erfahrungen, die gemacht werden, zu einem Ganzen. Wer möchte behaupten, „Sinn“ zu erkennen? Allerdings fallen zumindest die Diskontinuitäten, die Abwege, die Missklänge dem Individuum selbst auf. In einer verfahrenen Situation dem eigenen Selbstgefühl permanent nicht entsprechen zu können, verursacht Leid, schwächt und kann zu schwerer Verstimmung führen. Wenn die eigene Situation in innerer Zerrissenheit, in einer Lebenslüge kreist, besteht dringender Klärungsbedarf. Andererseits kann es in der Realisation auch immer nur Annäherung an das Ideal geben.

Schauen wir noch einmal auf die „Urbilder“ in Bezug auf die Musik bei Georgiades: „Die Nomoi waren wie Urbilder, nach denen jeweils hier und jetzt Musik hervorgebracht wurde. Nur in der Ausführung ein waren die Nomoi jeweils gegenwärtig. Für sich waren sie nicht greifbar. Aber ein Nomos ging auch nicht in der jeweiligen Hervorbringung restlos auf. Keine konnte ihn ersetzen, auch die beste nicht, auch die Summe aller nicht. Der Nomos war etwas dem menschlichen Erklingen Übergeordnetes. Als potentieller Sinngehalt war er stets mehr als das Erklingen. Und umgekehrt: Die hörbare Hervorbringung des Nomos bedeutete eine Einschränkung seines Sinngehalts. Aber zugleich war der Nomos auf das Erklingen angewiesen. Ohne dieses blieb er ein Phantom. Erst und allein während der Ausführung war der Nomos eine Realität; allein während des Geschehens, allein im Tun. Jeder Nomos selbst war die Aufforderung zu diesem Tun und bestimmte zugleich die Art und Weise dieses Tuns, das jeweils den Sinngehalt des gegebenen Nomos veranschaulichte…“ (7)

Nun spricht Kühlewind in seinem Tagebuch nicht zufällig von einem Melodie- Bewusstsein, das den Menschen biografisch verankert. Es wirkt wie eine musikalische Erinnerungsebene, vermittelt damit Kontinuität und Integrität, aber durch seine Verwurzelung im Nomos auch ein essentielles Wahrheits- Empfinden. Hier mischt sich die Einbettung einer Situation in den Kontext der Lebenserfahrungen, die auf dieser Ebene bewahrt werden, mit einem Sinn - einem Empfinden-  für Plausibilität und Praktikabilität. Wenn dieser Sinn korrumpiert wird, fehlt dem Individuum etwas wie eine innere Peilung. Das Tastorgan, der Geschmack für die Wahrscheinlichkeit, für die Logizität geht verloren oder verschmutzt. Damit „fällt“ der Nomos, degeneriert und unterwirft sich der Bedürftigkeit, die den inneren, ureigenen Maßstab verdirbt. Das ist eine Art Erkrankung des Geistes, eine Selbst- Auslieferung an grassierende Hysterien, Spekulationen und Manipulatoren der öffentlichen Meinung; die Stampede (8) ist in Zeiten von Social Media zum Tagesgeschäft geworden.

Die Eigenart des melodischen Empfindens, des bewusst werdenden Gefühls, hat auch Rudolf Steiner verschiedentlich, auch in Bezug auf seinen Schulungsweg, beschrieben: „Das melodiöse Erleben ist dasjenige in der Menschennatur, welches den Kopf des Menschen dem Gefühle zugänglich macht. Der Kopf des Menschen ist sonst nur dem Begriffe zugänglich. Sie schieben gewissermaßen durch die Melodie das Herz in den Kopf. Sie werden in der Melodie frei, wie sonst im Vorstellen. Das Gefühl wird abgeklärt, gereinigt. Es fällt alles Äußere von ihm fort, aber zu gleicher Zeit bleibt es durch und durch Fühlen.“ (9) In den meditativen Tiefen- Bereichen, jenseits der Bilder, in absoluter Stille, nimmt, so Rudolf Steiner, Inspiration als melodisches, aber tonloses Hören, die Wahrnehmung ein: „Wir kommen an eine Auffassungsweise, die sehr ähnlich ist dem Hören musikalischer Töne, Harmonien, Melodien, sehr ähnlich ist dem musikalischen Hören. Die Inspiration hat nichts mehr mit etwas Begriffsmäßigem zu tun, sondern mit etwas, was auch in der Auffassung eine Art Musikalisches ist. Das Musikalische muß nicht immer gehört werden, es kann auch, indem es geistig ist, empfunden werden. Aber im Grunde genommen hat alle Inspiration etwas Musikalisches.“

Aber das eigentliche melodiöse Element, in das sich unsere persönliche musikalische Erinnerung hinein bettet, ist - so Steiner- in den Lebensbereichen des Leiblichen verankert. Im eigentlichen Sinne werde es nur für denjenigen, der in der Lage ist, im Tiefschlaf darauf zurück zu blicken, erkennbar: „Und die außerhalb des physischen und Ätherleibes befindlichen Wesensglieder Ich und astralischer Leib werden stark beeindruckt von demjenigen, was sie da im Bette zurückgelassen haben als den tönenden, klingenden ätherischen Leib, der aber in seinem Tönen und Klingen zugleich leuchtet.“ Man darf sich vorstellen, dass dieses Individuelle, das ein melodiöser Widerhall der ganzen Person ist, sie aber auch zugleich konstituiert und ihr den eigentlichen Zusammenhang gibt, indem in ihr die persönlichen Erinnerungen erklingen, damit vor dem tonlosen, kosmischen Melodiösen der Schaffenskräfte schlechthin steht. Das ist das, was in den westlichen esoterischen Strömungen die „Sphärenharmonie“ genannt wird. Das individuelle Persönliche setzt dieses schaffende Untergründige fort, ja schreibt es fort, gestaltet eine Spur der Komposition. Berührungen dieser kosmischen Lebenssphäre sind nur im absoluten Schweigen zu spüren. Diese Sphäre sei - so Steiner- aber bereits seit der Antike (und damit auch den Schöpfern des Nomos- Begriffs) bekannt: „Dasjenige, was hinter dem Physischen steht, aus dem heraus das Physische gemacht und geboren ist, das Chaos – alle haben es gekannt. Ob die Griechen es Chaos nennen, ob die indische Philosophie von dem Akasha spricht, es ist immer dasselbe. Wer es im geistigen Sinne durchdringt, der vernimmt, wie es durchklungen ist von der Sphärenharmonie." (10) In dieser kosmisch- produktiven Erinnerungswelt lebe der Mensch nach seinem Tod: „Der Mensch lebt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt in der geistigen Welt in der Akasha- Substanz, genauso wie wir zum Beispiel hier auf der Erde innerhalb der Atmosphäre leben.“ (11)

Ein direktes Anknüpfen an diese schaffende Sphäre ist aus vielerlei Gründen nicht zu empfehlen- so wenig, wie sich mit dem nackten Hintern in einen Ameisenhaufen zu setzen und zu hoffen, dass die „Kundalinikraft“ erwacht. Wer sich derlei oder andere Erleuchtungs -Phantasien als simples Andocken vorstellt, hat vermutlich Massen- Erweckung- Absichten aus geschäftlichen Erwägungen wie dieser post- post- post- moderne niederländische Jung- Guru namens Bentinho Massaro, der auf YouTube- Grinsen, Instagram- Zähne und viel Startkapital setzt, um die gängigen Phrasen zu einem Brei zwischen 9/11- Konspiration, Matrix- Kinofilm und Netflix- Prophezeiungen zu verrühren, den das mehr oder wenige junge Publikum leicht schlucken kann (12). Nein, schon Alkman aus Sparta war in seiner mysteriösen Aussage „Ich kenne die Nomoi aller Vögel“ doch klar, dass ein individuelles Bewusstsein - ein Ich - dazu gehört, das erkennend ist. Das Bewusstsein selbst, in seiner freien Beweglichkeit, Initiative und Erkenntniskraft, entringt sich der gegebenen inneren „Melodie“. Es sucht schöpferisch auch nicht nach der gegebenen „Melodie“ der natürlichen Kräfte, sondern nach deren schöpferischen, bewegenden, initiativen Gestaltungskräften, die sich in der Natur manifestieren. Wir bewegen uns in einer Welt der Bedeutung und der Verweise, in der Gestalt, Form und „Natur“ zu den Vergangenheitskräften gehören, zur manifesten Außenseite. Wir bewegen uns auf der Seite des Verstehens. Alles andere wäre nichts als Werbeversprechen, Nostalgie und Suggestion. Dass sich das Denken, das sich prozess- artig, adaptionsfähig, konkret, aber weich empfangend verhalten muss, eine andere Gebärde als das schnell urteilenden, punktuellen Gegenwarts- Bewusstsein dabei einnimmt, ist selbstverständlich.

Nur in dieser inneren Beweglichkeit wird die Melodie plötzlich - als Intuition - transparent, die der Spaziergänger im Vorfrühling hört: Durch den Klang eines Vogels wird wie in einer verweisenden Gebärde die Situation als ganze beleuchtet: Der kühle Wind über dem Feld, der kristallblaue Himmel mit leichten, gelockten Wolkenformen, das Drängen der Knospen und die lockende Sonne, die sich noch nicht wärmend gibt, sondern präzise: In diesem Augenblick fällt die Erscheinung in der Melodie zusammen, aber auch in dem, der hört und, indem er diese Intuition erlebt, zugleich das Alles selbst erkennt. In einem Augenblick ist über den Nomos des Vogels alle Differenz zwischen Hörendem und Gehörtem, Sehendem und Gesehenem aufgehoben; der Spaziergänger wird zur Gebärde von Klang und Sein.


Verweise


1 Georg Kühlewind
2 H. Bergson, The Perception of Change, in: The Creative Mind
3 Thrasybulos Georgiades: Nennen und Erklingen. Die Zeit als Logos, Göttingen 1985
4 Georgiades, S. 101
5 Georgiades, S. 102
6 Georgiades, S. 103
7 Georgiades, S. 109
8 „Die Ursache für das Ausbrechen einer Tierherde kann nicht immer festgestellt werden. Verschiedene Formen von Beunruhigung können das Verhalten auslösen, beispielsweise Personen, Lärmquellen oder Raubtiere. Auch beunruhigte Herdentiere können das plötzliche Fluchtverhalten einer Herde auslösen. Im Dunkeln kann eine Stampede besonders leicht ausgelöst werden, wenn die Tiere die um sie herum stattfindenden Vorgänge nicht sehen können. In Gebieten mit dichtem Verkehrsnetz können ausbrechende Tierherden auf Straßen geraten und Unfälle verursachen. Massenbewegungen bei Menschenansammlungen mit Verletzten und Toten haben ihre Ursache häufig in ungeeignetem Verhalten oder mangelnden Schutzmaßnahmen bei der Lenkung der Menschenmassen.“ Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Stampede
9 GA 283.138
10 GA 284.87
11 GA 152.12
12 https://youtu.be/RWUZnYCe0QA


Schmetterlingsflug und springende Punkte. Von der Geburt und vom Himmel

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Paul Klingenberg hat mich auf den Ursprung der Redewendung vom „springenden Punkt“ hingewiesen, im Kontext zu den Punkt- Umkreis- Meditationen, die hier im Blog angestellt wurden, aber auch zu einem Buchprojekt von ihm (1). Jedenfalls geht es bei dem Punkt ursprünglich um die in einem befruchteten Ei erste, plötzliche Sichtbarwerdung des Lebens im wortwörtlichen Sinn: „Der Ausdruck springender Punkt wurde ursprünglich zur Bezeichnung eines biologischen Phänomens geprägt. Das punctum saliens oder der springende Punkt ist in diesem Sinn ein pulsierender roter Fleck, der beispielsweise im befruchteten Hühnerei etwa nach dem dritten Tage der Bebrütung mit bloßem Auge zu erkennen ist, als erstes auffälliges Zeichen des Lebens: die Herzanlage des Embryos wird sichtbar, ihre physiologische Funktion macht sich bemerkbar.“ (2) Diese Beobachtung geht auf Aristoteles zurück, der diesen „blutigen Fleck in dem Weißen“, der „hüpft“ zuerst beschrieben und als Herz beschrieben hat (7). Unübertroffen in seiner exakten Poesie aber erscheint die Beschreibung des Phänomens durch William Harvey (1651), der das „Feuerfünkchen“ beschreibt, in dem das Leben so erscheint, dass ein Übergang vom pflanzlichen zum tierischen Leben geschaffen wird: „Wenn du es so am vierten Tage untersuchst, wird die Metamorphose schon größer erscheinen, und die Umwandlung bewundernswürdiger; und sie wird beinahe mit jeder einzelnen Stunde dieses Tages augenscheinlicher; um diese Zeit findet im Ei der Übergang vom pflanzlichen Leben zum tierischen Leben statt. Jetzt nämlich errötet der Saum von Eiweiß, eine dünne Linie blutig purpurfärbend: und nahezu in dessen Mitte schnellt ein blutiger Punkt springend hervor: so winzig, dass er im Moment seiner Diastole, wie das kleinste Feuerfünkchen, hervorleuchtet; und dann, in der Systole, dem Blick wieder völlig entflieht und verschwindet. So wenig ist der Beginn tierischen Lebens, so sehr unerblickt die Anfänge, die von der schöpfenden Kraft der Natur zustande gebracht werden!“ (2)

Ja, die Anfänge, das (scheinbare) Erschaffen aus dem Nichts, die Übergänge, die Materialisation: Der Augenblick, an dem der Gedanke einen Ort findet, eine Erscheinung, eine Form - der Punkt, der zu vibrieren beginnt, ein Tropfen Blut in der Weiße des diffusen Eiweiß- Gels, der die Zeitlichkeit eröffnet; ein Leben. Übergänge hier wie dort; Übergänge dort, wo gerade noch kein Ort und keine Vergänglichkeit sichtbar waren. Der Fall in die Dichte, in die Erscheinung. Ich denke es hin und her, es verdichtet sich in mir gedanklich, und vor dem inneren Auge erscheinen Orte, an denen für mich etwas begann.

Zum Beispiel die Hochebene hinter Nizza. Man fährt den steilen Aufstieg nach Gourdon, läßt das Auto stehen, und wagt sich höher ins Kalkgebirge der Seealpen hinauf. Ein steiler, von Felsbrocken gesäumter Weg, der bei Regen und im Winter schwer passierbar sein dürfte, schon wegen der Abgänge des lockeren Gesteins. Endlich, oben, eine weite, fast weiße Ebene, durchbrochen von Kalksteinen und von dem duftenden Bewuchs wilder Kräuter. Wenn man sich umdreht an der Felskante, liegt unter einem der schier endlose Blick ins flirrende Blau des Mittelmeeres, der Küste und der nervösen Städte. Ins Auge springt der mittelalterliche, in den Fels geschlagene Ort Gourdon. Von hier hat man früher die Küste beobachtet, vorsichtig angesichts drohender Invasoren und Piraten. Die Legende sagt, dass hier, vor Cannes, selbst Magdalena mit einigen Aposteln gelandet sein soll, um das Christentum nach Europa zu tragen. Sie wird nicht der Grund gewesen sein, dass hier, auf der Hochebene, ein schnurgerader Fluchtweg ins unüberschaubare Grün der Wälder der Seealpen führt, dorthin, wo heute wieder Wölfe streifen sollen. Es geht, auch in der sommerlichen Hitze, ein starker Wind, wenn wir dem Weg folgen. Hier wird nur knorriges Gestrüpp bestehen. Man sieht die aussichtslosen menschlichen Versuche, das Meer von Kalksteinen zu Mauern aufzutürmen- vielleicht um in Zeiten der Belagerung ein wenig karge Felderwirtschaft zu betreiben. Aber selbst die Eichen, die uns auf dem Weg immer mehr umgeben, erscheinen geduckt, karg und gedrungen- zwar halten die Steine die Feuchtigkeit, aber der Wind und die hohe Sonne zerren und kondensieren die duftenden Öle im wilden Thymian- die Ebene ist ein Ort, an dem die Feuergeister regieren. Nun beginnt der Weg zu schlingern und Buckel zu machen, wird versteckter, mäandernd und läßt mehr und mehr Bewuchs zu. Endlich sind wir gänzlich eingehüllt von Eichen. Man ist etwas vorsichtig, wenn man sich niederlässt, weil nicht sicher ist, was im Dickicht unter einem Steinhaufen Schatten suchen mag- nur Salamander oder auch eine Schlange?

Einmal, ein einziges Mal, fand ich den springenden Punkt. Es war ein sommerlicher Tag, wir waren den Weg marschiert, der Wald war dicht geworden. Hier verlor sich die deutliche Spur, die der Pfad am Anfang zog, in dichterem Schatten und immer felsigerem Grund. Bald würde ein Tal folgen, an dem man sich entscheiden musste, ob man ihm folgte, um nach dem Abstieg vielleicht wieder auf einen Weg zu stoßen, oder eine andere Richtung wählte. Unter dem inzwischen massiven Bewuchs war der Boden feucht, der Blick eingeschränkt. Wie aus dem schattigen Nichts trat ich in eine Lichtung hinein, in der nicht nur das Licht zu pulsieren schien: Dutzende von Schmetterlingen tanzten in Spiralen auf und nieder und zelebrierten in einem ureigenen Rhythmus den Feuergeistern ein choreographiertes Stück, das zu atmen und zu tönen schien. Die Bezauberung, mitten darin zu stehen, hielt nicht lange vor- allmählich zerstreuten sie sich, die unhörbare Musik verklang, der Tanz verebbte, und endlich blieben nur die Sonne, Felsen und einige hastige Eidechsen in den Kräutern.

War das ein Beginn? War das ein Ort, ein springender Punkt? Freilich, in Momenten wie diesen übersteigt sich die vertraute Natur so, dass man ihren Herzschlag zu vernehmen vermeint- die Schönheit wird ebenso offenbar und offensichtlich wie die Flüchtigkeit des Augenblicks. Ein Augenblick wie dieser - und andere, gesättigte, sinnliche Momente, wirken aber auch wie ein Anker im eigenen Inneren.

Falls man - auch nur probeweise - geneigt sein sollte, Rudolf Steiner gedanklich zu folgen, lernt man einen Standpunkt kennen, nach dem die menschliche Existenz ein ständiger „springender Punkt“- ein immer wieder in Form und Gestalt gehülltes, aber auch wieder ausgestülptes Selbst- ist, zu dem eine Existenzform gehört, in der derselbe Mensch sozusagen Umkreis - oder Himmel- ist: „Hier steht der Mensch an einem Punkte der Erde, richtet die Sinne hinaus, und dann geht das Schauen oder das Hören in die Weiten hinaus. Er sieht also von dem Mittelpunkte, in dem er sich befindet, hinaus in die Weiten. Gerade umgekehrt ist es im Leben nach dem Tode. Da fühlt der Mensch, wie wenn er mit seinem ganzen Wesen ausgebreitet wäre, und was er anschaut, das ist eigentlich der Mittelpunkt. Er sieht auf einen Punkt hin. Es kommt eine Zeit für den Menschen zwischen dem Tode und der neuen Geburt, wo er einen Kreis beschreibt, der den ganzen Tierkreis durchläuft. Da schaut er gleichsam von jedem Punkte des Tierkreises, also von verschiedenen Gesichtspunkten aus, auf seine eigene Wesenheit hin und fühlt sich dann so, wie wenn er gleichsam aus den einzelnen Partien des Tierkreises die Kräfte schöpfen würde, die er auf seine Wesenheit ergießt, damit diese das hat, was sie für die nächste Inkarnation  braucht. Man schaut also von dem Umkreis auf einen Mittelpunkt hin.“ (3)

Den Augenblick völligen Ausgegossenseins, der vollständigen Hingabe bis hin zur Selbstvergessenheit nach dem Tod, der absolute Gegenpol zum Punkt- artigen Inkarniertsein des Gegenstandsbewusstseins, nennt Rudolf Steiner die „Mitternachtsstunde des Daseins“. Es handelt sich danach um eine Verfassung, in der der Mensch so Umkreis geworden ist, dass sich selbst die Erinnerung an das eigene Ich zu verflüchtigen beginnt. Aber auch in dieser Situation erscheint etwas wie ein springender Punkt, eine Befruchtung im Ausser- Sich- Sein, ein Wendepunkt: Es entspringt die grösste „Sehnsucht .. nach Außenwelt“ (4) Diese treibende und bis zur Geburt stetig wachsende Gier nach Außenwelt, ja nach „Realität“ (5) wird vor allem bestimmt vom Wunsch, selbständig denken zu können und damit als autonomes Wesen zu agieren: „Durch diesen Wunsch also, wiederum denken zu können, kommt der Mensch in die physische Erdenverkörperung herein“ (5). Kann man sich vorstellen, Nacht für Nacht, in der Tiefschlafphase, von dieser Leidenschaft gepackt zu werden, wieder als ein selbständig denkendes Ich zu erwachen? Und kann, auf der anderen Seite, die Autonomie, das vollständige Eingesponnensein in die eigene Biografie, nicht zu eben derselben Sehnsucht werden, die Perspektive wieder zu erweitern? So schildert Rudolf Steiner eine Art existentiellen, aber leidenschaftlichen Gezeitenwechsel, einen Atemschlag, ein immer neues Befruchtetwerden: Der Mensch als sich selbst aus und ein atmendes Wesen.

Das - die Entdeckung von Orten und einer Sinnlichkeit, die die Leidenschaft in der Mitternachtsstunde entzünden könnte, kann ein steter Begleiter sein. Die Sinnlichkeit eines Duftes wie der eines pilzigen Waldbodens, eines Tages am Meer, der nach Salz, Tang und Muscheln riecht, der ölige Geruch des wilden Thymians auf dem Höhenweg: Das alles sind, wie so vieles andere, Eindrücke, die mich in der tiefsten Selbstvergessenheit erreichen könnten, führen und erfüllen. Das Spiel des Lichts, die lockende Sonne im Frühjahr, die zaghafte Offenbarung der ersten Blüten: Die unsagbare Schönheit des Augenblicks.

Und tatsächlich beschreibt Rudolf Steiner auch den Tanz der Schmetterlinge und den Vogelflug als Chiffren, die das mit Leidenschaft erfüllte kosmische Wesen locken, ja geradezu anziehen, sich neu zu verpuppen und in Gestalt zu hüllen: „Wenn der Mensch sich anschickt, herunterzusteigen aus der geistigen Welt in die physische Welt, da ist zunächst die Schmetterlingskorona, diese eigentümliche Ausstrahlung von vergeistigter Erdenmaterie, die den Menschen ins irdische Dasein ruft. Und die Strahlen der Vogelkorona, die werden mehr empfunden wie Kräfte, die hereinziehen. Die Erde lockt gewissermaßen den Menschen zur Wiederverkörperung herein, indem sie die Leuchteausstrahlung der Schmetterlingskorona und die Strahlung der Vogelkorona hinaus schickt in den Weltenraum.“ (6)

Und wieder wird das „Feuerfünkchen“, das wir sind, entfacht.



Anmerkungen & Verweise

1 Paul Klingenberg, www.klingenbergverlag.at „Das ist der springende Punkt. Notizen“ 2019 ISBN 978-3-903284-03-6. Das Büchlein ist tatsächlich als eigenes Notizbuch gedacht!
2 https://de.wikipedia.org/wiki/Springender_Punkt
3 Rudolf Steiner, Das Leben zwischen Tod und neuer Geburt im Verhältnis zu den kosmischen Tatsachen, GA141, 1983/4, S. 74
4 „Da wo unsere Sehnsucht am größten sein muß nach Außenwelt, weil wir am meisten in die Einsamkeit eingetreten sind, in der Mitternachtsstunde des geistigen Daseins, da ist es dasjenige, was eigentlich nur in den geistigen Welten wallt und wogt und lebt, da ist es der Geist, der an uns herantritt und unsere Sehnsucht in eine Art von Seelenlicht verwandelt. Bis zu diesem Zeitpunkt müssen wir den Zusammenhang mit unserem Ich bewahren. Wir müssen gleichsam die eine Erinnerung bewahren: Du warst auf Erden dieses Ich. Dieses Ich muß einem als Erinnerung bleiben. Daß man das kann in unserem Zeitenzyklus, hängt davon ab, daß der Christus die Kraft in die Erdenaura hineingebracht hat, welche sonst nicht aus dem irdischen Leben mitgebracht würde, die Kraft, die uns befähigt, die Erinnerung bis zur Mitternachtsstunde zu bewahren. Lange bevor die Mitternachtsstunde eintritt, würden wir vergessen, daß wir ein Ich gewesen sind im letzten Leben. Wir würden den Zusammenhang mit der geistigen Welt fühlen, würden aber uns vergessen. Und das ist da- durch bewirkt, daß wir auf Erden eben wirklich unser Ich so stark entwickeln. Indem wir auf Erden immer mehr und mehr zu unserem Ich-Bewusstsein kommen, verbrauchen wir die Kräfte, die wir nötig haben nach dem Tode, damit wir wirklich bis zur Mitternachtsstunde uns nicht vergessen. Daß wir diese Erinnerung bewahren können, dazu müssen wir in den Christus hinein sterben. So mußte der Christus-Impuls da sein: Er erhält uns bis zur Mitternachtsstunde des Daseins die Möglichkeit, unser Ich nicht zu vergessen. Wenn wir die Erinnerung an unser Ich hineintragen bis zur Mitternachtsstunde des Daseins, bis dahin, wo der Heilige Geist an uns heran kommt und uns den Rückblick und den Zusammenhang mit unserer eigenen inneren Welt wie mit einer äußeren Welt gibt, wenn wir diesen Zusammenhang bewahrt haben, dann kann uns der Geist nunmehr bis zu unserer Wiederverkörperung leiten, die wir dadurch herbeiführen, daß wir unser Urbild in der geistigen Welt bilden.“ Rudolf Steiner, GA 153.176f
5 „Der Mensch kommt, wenn die Zeit für eine Erdengeburt wiederum herannaht, in einen Zustand als seelisches Wesen, der sich nur vergleichen läßt mit jemand, der beginnt an Gedächtnisschwund zu leiden, der also gewissermaßen schnappt nach seinen Erinnerungen und sie nicht finden kann. So schnappt der Mensch, wenn das Erdenleben wiederum herankommt, nach Realität, nach Erfülltsein mit Realität. Er schnappt gewissermaßen nach den Vorstellungen, die immer dumpfer und dumpfer werden, während der Wille immer mächtiger und mächtiger wird. Und dieser Wunsch der treibt ihn nun zu der Erdenverkörperung hin, zu einem Erdenorganismus, der ihm durch die Vererbungsströmung gegeben wird. Den kann er jetzt als Werkzeug gebrauchen, der gibt ihm die Möglichkeit, wiederum zu denken, allerdings jetzt nur zu denken über eine physische Außenwelt, aber doch das Vorstellungsleben wiederum zu entfalten, das dumpf geworden ist. Durch diesen Wunsch also, wiederum denken zu können, kommt der Mensch in die physische Erdenverkörperung herein.“ Rudolf Steiner, GA 211.15
6 Rudolf Steiner, GA 230.100f
7 Geschichte der Tiere, s. Verweis 2

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